Die Methode basiert auf Viren, welche Bausteine der sogenannten genetischen Schere CRISPR/Cas in die Zellen der „Versuchs“tiere einschleusen. Diese Viren werden Mäusen in die Schwanzvene injiziert. In den Zellen der Tiere angekommen, sucht die Genschere bestimmte Bereiche des Erbguts und schaltet sie gezielt aus. In der nun veröffentlichten Studie wurden Viren verwendet, die 29 verschiedene Gene ausschalten, und zwar nur jeweils eins in der jeweiligen Zelle. Daraus resultiert im Gehirn der Tiere eine willkürliche Verteilung von Zellen, in denen jeweils eines von 29 Genen ausgeschaltet wurde (1). Vier Wochen nach der Injektion werden die Mäuse getötet, ihr Gehirn entnommen und aus den Gehirnproben werden die genetisch veränderten Zellen isoliert. Für diese Zellen wird dann untersucht, was sich in ihnen durch das Ausschalten des jeweiligen Gens ändert (2).
„Solche Versuche sind auch mit Zellkulturen möglich. Auch hier können simultan viele verschiedene Gene ausgeschaltet und dann untersucht werden, welche Folgen der Verlust eines einzelnen Gens für die Zelle hat – ohne dass dafür ein Tier leiden muss“, erklärt Dr. Johanna Walter, wissenschaftliche Referentin von Ärzte gegen Tierversuche. „Welchen Vorteil es haben soll, die Genschere direkt im lebenden Gehirn einzusetzen, erschließt sich nicht“, so Walter weiter.
Üblicherweise rechtfertigen Forschende ihre Tierversuche damit, dass bestimmte Effekte, wie Verhaltensänderungen sich nur am lebenden Tier messen lassen würden. Doch das ist hier nicht der Fall; es werden keine Untersuchungen am noch lebenden Tier durchgeführt, sondern nur einzelne Zellen der getöteten Tiere analysiert. Sattdessen werden die Tierversuche damit gerechtfertigt, dass sich Zellen in Kultur anders verhalten würden als im lebenden Organismus. Hier ignorieren die Experimentatoren nicht nur die Unterschiede zwischen Mensch und Tier, sondern auch moderne Zellkulturansätze wie Organoide, in denen Zellen im dreidimensionalen Verband wachsen, der aus mehreren Zelltypen bestehen kann und die Bedingungen im lebenden Organismus simuliert.
So wurde auch das Deletionssyndrom 22q11, bei dem ein kleines Bruchstück der Erbinformation auf Chromosom 22 fehlt und welches die Forscher nun an Mäusen untersuchten, bereits von anderen Wissenschaftlern mit Hilfe von Organoiden erforscht, die aus Zellen freiwilliger menschlicher Spender gewonnen wurden. Auch die Organoide wurden mit der Genschere behandelt. Diese Methode ist auch den Forschenden von der ETH Zürich sehr wohl bekannt, denn obwohl sie einerseits ihren Versuch an Mäusen damit rechtfertigen, dass die Zellen sich in Zellkultur anders verhalten würden, verweisen sie andererseits auf eben jene Studie mit den menschlichen Organoiden, welche ihre eigenen Ergebnisse bestätigen würde. Zudem finden an der ETH Zürich – und zwar im selben Department und unter derselben Adresse – Versuche mit Hirn-Organoiden statt, bei denen mit der Genschere CRISPR/Cas einzelne Zellen genetisch verändert werden. In einem Versuch wurden so beispielsweise 36 Gene untersucht, die mit Autismus in Verbindung stehen (3). „Warum im Gehirn von Mäusen experimentiert wird, während die gleiche Fragestellung auch mit Organoiden untersucht werden kann, ist vollkommen unverständlich“, kritisiert Walter. „Über die Vorgänge bei der Erkrankung erfährt man durch solche Versuche nichts. Vielmehr wird hier ein lebendes Tier als ‚Anzuchtgefäß‘ für genetisch veränderte Zellen benutzt – in Versuchen, die auch in Zellkultur hätten durchgeführt werden können – wie man bei einem Blick ins Nachbarlabor einfach hätte feststellen können“, so Walter weiter.
Es gibt eine ganze Reihe von tierversuchsfreien Methoden zur Untersuchung des Beitrags von Genen auf die Entstehung von Krankheiten. Neben den bereits genannten Zellkulturverfahren wie Organoiden lassen sich auch Computer-Modelle einsetzen, um die Aktivität einzelner Gene anhand kleinster Mengen patienteneigenen Materials vorherzusagen (4). Viele weitere Beispiele für eine moderne tierversuchsfreie Forschung, die tatsächlich humanrelevante Ergebnisse liefert, finden sich in der Non-Animal-Technologies-(NAT)-Datenbank des Ärztevereins (5).
„Der Glauben vieler Forscher, dass Versuche, die im Tier durchgeführt werden, irgendwie besser seien, ist nicht nur seltsam, sondern auch tief verankert. Wir arbeiten weiter daran, dieses Dogma zu durchbrechen und Wissenschaftler von der Leistungsfähigkeit tierversuchsfreier Verfahren zu überzeugen. Gerade Tierversuche, für die es ausgereifte tierfreie Verfahren gibt, die den Experimentatoren auch bekannt sind, dürfen nicht mehr genehmigt und durch Publikation der Ergebnisse in renommierten Journalen als Erfolg dargestellt werden“, fordert Walter.
Quellen
1. ETH Zürich: Bei Tieren einzelne Zellen genetisch verändern, Pressemitteilung von Fabio Bergamin vom 20.09.2023 >>
2. Santinha A.J. et al. Transcriptional linkage analysis with in vivo AAV-Perturb-seq. Nature 2023; doi >>
3. ETH Zürich: Ein menschliches Modell für Autismus, Pressemeldung vom 13.09.2023 >>
4. Baur B et al. Predicting patient-specific enhancer-promoter interactions. Cell Reports Methods 2023; 3(9):100594
5. NAT-Datenbank >>