Wann war der richtige Moment? Heute, an einem Montagmorgen? Warum nicht. Vor elf Jahren war er immerhin in Syrien an dem wohl verfluchtesten Wochentag aller Zeiten zur Welt gekommen; an einem erbärmlichen Montagmorgen. Während seine Mutter nach einer anstrengenden Geburt das Bett hatte hüten müssen, hatte sein Vater ihn nach seinem Großonkel Mustafa benannt. Aus ihm war Mustafa Ayan geworden.
Mustafa. Er hasste den Namen, seit er sprechen konnte, nein, er war kein Auserwählter wie sein Onkel. In seinen Augen waren seine Zeugung im Kriegsgetümmel, selbst das Wachstum im Mutterleib, seine Geburt zwischen den Trümmern und ohne ärztliche Hilfe ein Desaster und ein schlechtes Omen gewesen. Nahezu seit seinem ersten Schrei war da diese Stimme in ihm, die ihn Nacht für Nacht an das Fallen der Bomben und das Bersten von Stein erinnerte, diese lähmende Angst, in ihm wachhielt. Später – die Flucht nach Deutschland – in einem Schiffsrumpf voller Leichen, das kenternde Boot, die Toten am Strand, seine überflüssige Rettung.
Dennoch, wer wollte behaupten, dass aus ihm nicht auch ein Sonntagskind werden konnte? Menschen waren doch imstande, sich zu ändern. In Syrien war er nicht in der Lage gewesen, sich zu ändern. Er hatte viele Monate in einem imaginären Flugzeug hoch über den Wolken seine Runden gedreht. Nur so hielt er Distanz zu den Kriegsgräueln in seinem Land. Erst heute – in diesem Wohnheim wollte er endlich den Sprung mit dem Fallschirm in Richtung Erde wagen.
Was hatte er in den vergangenen Monaten alles versäumt.
„Du bis elf“, murrte die Hintergrundstimme in seinem Kopf.
„Verdammt noch mal!“, flüsterte er. Er war kein Baby mehr, sondern ein erwachsener Junge, der die Flucht nach Deutschland allein überstanden hatte. Wovor hatte er sich in den vergangenen Monaten nur so gefürchtet? Er hatte das Grauen erlebt, war mittendrin gewesen. Er hatte zerfetzte Menschen gesehen, Babys, die in Brunnen geworfen wurden und zerrissene Körperteile, die wie Unrat auf einem rot verfärbten Pflaster verteilt lagen; in der Ferne immer wieder Sirenengeheul und fallende Bomben. Deutschland sei sicher, hatte sein Vater ihm gesagt.
Allmählich dämmerte es ihm, warum er in dem Wohnheim mit dem Sprung ins Leben so lang gewartet hatte. Er hatte sich nicht immer so stark gefühlt wie heute. Die Flucht hatte ihn geschwächt. Das musste er sich an diesem Montagmorgen eingestehen. Er hatte bislang niemanden gehabt, der ihn beschützte, hinter dem er sich hätte verstecken können. Dieser Gedanke hatte ihm in diesem fremden Land stets mächtig viel Angst eingeflößt.
Wag den Sprung. Du wirst es nicht bereuen.
Aber tief in ihm war diese jämmerliche Hintergrundstimme, die ihm immer wieder Du kannst es nicht, du wagst es nicht zuraunte; begleitet von dem absurden Klang einer Geigensaite und einem Hintergrundchor aus den quälenden Hilferufen der Frauen und Kinder aus kenternden Booten, umgeben von Unrat und brutaler Gewalt, geplagt von Hunger und Durst.
Mit aller Kraft hatte er versucht, Back-Vocal, wie er seinen inneren Peiniger nannte, zum Schweigen zu bringen, doch der konnte seinen Mund nicht halten. Back-Vocal war ein Widerling, der ihn jede Nacht quälte, obwohl er jetzt in Sicherheit war. Dem würde er es zeigen.
Mustafa hatte seit Längerem ausführlich über seine Veränderung gegrübelt. Anfangs würde es sich wohl nicht so gut anfühlen. Er hatte sich immer unauffällig verhalten.
Vielleicht wirkte er nach dem Sprung nicht überzeugend oder unwirklich, aber das Fremdsein würde mit der Zeit gewiss nachlassen.
Doch ehe ein Mensch sich änderte, musste er wohl zuerst seine Umstände ändern. Der Bruch sollte radikal sein – und endgültig.
In seinem imaginären Flugzeug, hoch über den Wolken, hatte er so oft davon geträumt und seine Metamorphose aus großer Höhe vor Augen gehabt. In der Vergangenheit war ihm dabei immer schwindlig geworden.
Seltsamerweise verspürte er heute keine Angst, obwohl immer neue weiße Streifen mit rasender Geschwindigkeit an ihm vorbeiwehten. Und der Wind! Er zog ihn an sich, saugte, pfiff und protestierte.
Er malte sich aus, dass sein altes Ich mit ängstlichem Blick zusah, wie er sich voller Zuversicht auf die Tür des Flugzeuges zubewegte. Diese Vorstellung mochte er. Wenn er an den verängstigten Mustafa dachte, hatte er fast Mitleid mit ihm. Aber nur fast!
Er wollte sich nicht mehr mit dem elfjährigen Flüchtling Mustafa beschäftigen. Er war jetzt ein anderer Mensch. Mustafa ist tot!
Die Wahrheit war, dass er nichts mehr von ihm wissen wollte.
„Tatsächlich?“, meldete sich Back-Vocal zu Wort.
„Ja!“
„Sicher?“
„Ja, du Arsch.“
„Hey, Vorsicht! Ich behalte dich im Auge.“
Er war bereit, an diesem Montagmorgen den Sprung zu wagen. Unten im Zelt warteten die Zuschauer auf seinen freien Fall. Er wollte sie nicht länger warten lassen.
Spring, Mustafa, spring!, meinte er, sie in der Tiefe rufen zu hören.
Er sprang.
Mustafa starb.
Azmi – der Entschlossene wurde geboren.
*
Der Freitag war ein launischer Sommertag gewesen. Das Wetter, sich ständig verändernd, jagte Wolken aus Blau und Violett über die Stadt. Im August rechnete man in der Regel nicht mit derartigen Witterungen.
Azmi und seine Freunde hatten auf der Bank vor dem Wohnheim ihre brüchigen und melancholischen Lieder ertönen lassen, die ihr Echo im Tschilpen der Spatzen und in den plötzlichen Ausbrüchen der amourösen Drosseln in den Bäumen am Straßenrand vor dem Wohnheim fanden.
Da Azmis Freunde Jugendliche seines eigenen Schlags waren, Flüchtlinge, die in dem Ort ein zweites Zuhause gefunden hatten, ließen sie mit alten Geschichten aus ihrer Heimat ihre Vergangenheit aufleben und wandten sich dann wie selbstverständlich der Gegenwart zu.
Heute hatte Azmi nur mit halbem Ohr zugehört. Die Sehnsucht nach seiner Familie und seiner Heimat war an diesem Tag besonders stark. Bald würden auch sie nach Deutschland kommen.
Er starrte aus dem Fenster und führte Selbstgespräche. Der Mond strahlte am Nachthimmel, wenn auch hin und wieder von Wolkenfetzen verdunkelt, die der kräftige Ostwind wieder fortjagte.
Fünf dunkel gekleidete Personen tauchten jäh aus den Schatten auf und näherten sich dem Wohnheim. Sie hielten brennende Fackeln in den Händen.
Azmi hatte in Syrien oft eine Fackel aus einer Holzlatte gemacht, wenn das Licht durch einen feindlichen Angriff ausgefallen war.
Hier im Haus gab es Licht.
Er musste ihnen Bescheid sagen. Als er das Fenster schließen wollte, geschah es.
Die Männer schleuderten die brennenden Fackeln aufs Dach und durch geöffnete Fenster ins Wohnheim.
Azmi stürmte aus seinem Zimmer, das er mit fünf anderen Jungen teilte, und rannte um sein Leben. In letzter Sekunde entkam er einem brennenden Balken, der neben ihm auf den Boden knallte.
Azmi stieg wieder in sein imaginäres Flugzeug, wurde zu Mustafa, dem verängstigten Flüchtlingsjunge aus Syrien, der nicht mehr an den Frieden glaubte, der nicht wusste, ob er jemals wieder den Mut aufbringen würde, aus seinem imaginärem Flugzeug zu springen – um zu überleben.
Er kreiste mit Freund Back-Vocal über das übrig gebliebene schwarze Balkengerippe und die zertrümmerten Ziegel des Wohnheims.
„Wie eine klaffende Wunde“, meldete sich Back-Vocal. „Deutschland ist nicht sicher. Dein Vater hat dich angelogen.“
Azmi nickte und weinte.
Einst war dies sein Garten gewesen. Einst war dieses Gebüsch sein Busch, war diese Wildnis seine Wiese, auf der er gespielt hatte und die nun mit der grauen Asche des zerstörten Wohnheims überzogen war. Der Krieg hatte in seiner Heimat weder Gnade noch Gerechtigkeit gekannt, in diesem Land hatte der Hass diesem Garten seine Schönheit genommen. Der kleine Zaun, der den Garten umgeben hatte, war verschwunden, das schmiedeeisernen, verrosteten Tor, das aus seinen Angeln gebrochen war, lag auf dem Rasen zwischen den Trümmern. Niemand würde mehr kommen, um zurückzuschneiden, was blühen wollte - die Büsche, die Bäume, sogar das Gras.
„Krieg…", flüsterte Mustafa. "Kommt“
Die Kinder, die ängstlich neben ihm auf dem Boden hockten, nickten und stiegen in Mustafas Flugzeug ein.
Astrid Korten
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