Eine Ausstellung, die jeden anzieht und alles streift, was Menschen berührt oder berühren. Von der Wiege bis zum Leichentuch: Vom Anfang bis zum Ende umgibt uns Stoff. Fetzen, Folien, Lumpen(pack). Rund 40 Künstlerinnen und Künstler betrachten das Textile als Grundform der Künste sowie die Rolle von Kunststoffen unter Berücksichtigung aktueller umweltpolitischer und spionagetechnischer Aspekte. Die Schreibmaschine triumphiert plötzlich über die digitale Kommunikation und hält aus Angst vor Spitzeln Einzug in Politikerbüros. Derweil wird das Aus für die Plastiktüte eingetütet.
Die Entstehungszeit der in der Galerie in der Trinkkuranlage gezeigten Arbeiten reicht von 1967 bis 2014. Die Ausstellung hat eine historische Vorlage in der Region. "Kunst & Kunststoff" hieß 1968 in Wiesbaden eine Hommage an die neue Leichtigkeit, die sich in Industrie-Design und Kunst bemerkbar machte. Ein Jahr zuvor war die Serienproduktion des Panton Chair angelaufen, der Weltkarriere machte. Es war die Ära der Abkehr von Eiche und Kirschbaum im Wohnraum. Wie eine Reliquie exponiert Stefan Pietryga eine Miniatur der nach dem Schöpfer des ersten Monoblock-Freischwingers aus Kunststoff benannten ikonischen Stuhlkreation Verner Pantons in Plexiglas.
1967 war auch startklar für Kunst zum Anziehen: Wie künstlerische Phantasie und Industrie einander befruchten, zeigt das Beispiel Regenhaut: Die Frankfurter Mode-Designerinnen Helga Lukowski und Sylvia Ohanian inspirierte frühzeitig ein Werk von Thomas Bayrle. Sie brachten einen Entwurf des vielseitigen Künstlers und Teilnehmers der documenta 13 zur Serienreife: Kunst für den Körper und zugleich ihre Demokratisierung. Die Spurensuche auf dem Gebiet von Allerweltsmaterial und Alltagsutensilien, die zunehmend Ölreserven erschöpfen und Meere vermüllen, sie führt freilich nicht nur in die Tiefe der ästhetischen Geschmacksbildung der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts und auf die Spielwiese serieller Konzeptionen.
Inzwischen wissen wir: Der Plastikartikel im Warenkorb von heute ist der Plastikmüll von morgen. Ökologisch betrachtet bedeutet er trotz moderner Recyclingmethoden oft eine Einbahnstraße. Nachhaltigkeit erfährt prekärer Kunststoff in der Metamorphose zu Kunst. Quod erat demonstrandum. (Text Dorothee Baer-Bogenschütz)
In dieser Ausstellung hängen und stehen Bilder und Objekte nicht wie gewöhnlich im Raum. Durch die Ausstellungsarchitektur soll sich am Beispiel der gezeigten Arbeiten ein Dialog zwischen den unterschiedlichsten Kunststoffen und Stoffen und deren Anwendungen entwickeln. Plötzlich gehört zusammen, was normalerweise nicht zusammengehört (z.B. Holz und Plexiglas bei der Arbeit von Vera Röhm).
Die Annäherung oder gar Berührung der unterschiedlichen Arbeiten könnte der Ausstellung sogar einen Hauch von Gesamtkunstwerk verleihen, auch, wenn sich hier und da etwas Kitsch oder/und Kunst begegnen und vermischen.
Bei der ersten Kunst-Ausstellung "Kunst & Kunststoff" 1968 in Wiesbaden war alles noch ganz einfach und überschaubar. Es gab wenige verschiedene Materialien, z.B. Schaumstoff, Plexiglas, Polystyrol, ein paar Folien usw. die von Künstlern wie Ferdinand Spindel oder Uli Pohl und anderen verwendet wurden. Unterdessen steht eine Flut von unterschiedlichsten Kunststoffen und Stoffen zur Verfügung. Es dreht sich auch nicht mehr um die reinen Materialien, sondern um gefertigte Produkte aus Kunststoff, die zerstückelt, zerstört, gereiht oder gehäuft als Multiple (Ottmar Hörl) oder ähnlich wie Readymades (Heide Weidele oder Thomas Baumgärtel) eingesetzt werden.
Kunststoffe und Stoffe erlauben auch den ironischen, kritischen und sogar den "kitschigen" Umgang mit dem Material. Material existiert einfach, es ist weder gut noch böse - es ist rein phänomenal - die einen wollen und benutzen es, die anderen nicht. Es kommt darauf an, was man daraus macht.
Die künstlerische Verwendung der Materialien und ihr Einsatz sind fast immer zeitabhängig. Die Ergebnisse bewegen sich zwischen reiner Ästhetik und Design (Perfektion ist der Inhalt) bis zu zeitkritischen Äußerungen (Beispiel: Das Objekt von Mark Hegmans und Urban Hüter "Gilgamesch". Der sumerische Herrscher ist von Lumpen umgeben und hat als erster gegen diesen "Feind" zum Schutz eine Stadtmauer errichten lassen - bestehend aus Lumpen).
Warum diese Ausstellung? Einerseits erstaunen und fesseln uns die immer perfekteren Fertigungsmethoden und die daraus entstehenden Arbeiten (z.B. Jeff Koons), andererseits sind besonders Kunststoffe wegen der Ausbeutung der Rohstoffe und ihrer Umweltproblematik heftig in die Kritik geraten.
Die Ausstellung "Kunst-Stoff-Kunst" ist bis zum 31. August 2014 zu sehen in der: Galerie in der Trinkkuranlage, Ernst-Ludwig-Ring 1, 61231 Bad Nauheim, Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag von 14 bis 18 Uhr, Samstag, Sonntag und an Feiertagen von 11 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei. Weitere Informationen: "kunstvoll e.V."