„Die Leistungserbringer im Hilfsmittelbereich befinden sich im Spagat zwischen Leistungspflicht und finanziellem Kollaps“, betont Alf Reuter, Präsident des BIV-OT. Mehr als 25 Prozent der Versicherten* in den gesetzlichen Krankenkassen (GKV) seien auf qualitätsgesicherte Hilfsmittelversorgungen angewiesen – von der häuslichen Sauerstoff-Versorgung bis zur konservativ-technischen Versorgung vor und nach Operationen, so Reuter. „Viele davon zählen zur Corona-Risikogruppe. Doch die flächendeckende Versorgung ist gewaltig unter Druck geraten. Jetzt muss alles dafür getan werden, damit unsere Häuser ihre Leistungen aufrechterhalten können – das betrifft Schutzkleidung, Lieferbarkeit von Hilfsmitteln und ebenso die wirtschaftliche Absicherung. Die Befragung liefert eine gute Übersicht, wo es klemmt.“
Engpässe identifiziert
An der Befragung „Corona-Auswirkungen 2020“ zwischen dem 6. und 15. April 2020 haben bundesweit rund 600 Mitgliedsbetriebe des BIV-OT teilgenommen – knapp die Hälfte aller Innungsmitglieder. Die Antworten offenbarten riskante Engpässe bei der Versorgung der Patientinnen und Patienten, denn bei verschiedenen Produktgruppen (PG) erwies sich die Lieferfähigkeit aufgrund fehlender Handelsware oder Materialien zur Produktion als gefährdet. Dies betrifft in besonderem Maße Inhalations- und Atemtherapiegeräte (PG 14), Krankenpflegeartikel (PG 19) sowie Pflegehilfsmittel (PG 50, 51, 53), darunter vor allem die zum Verbrauch bestimmten Pflegehilfsmittel (PG 54). Doch in anderen Segmenten zeigen sich ebenso Gefährdungen der Lieferfähigkeit, wie beispielsweise bei Messgeräten für Körperzustände und -funktionen (PG 21) oder Absauggeräten (PG 01).
Hohes Engagement sichert Versorgung
„Die Befragung zeigt aber auch, dass durch das hohe Engagement und die Initiative der Branche die bundesweite Hilfsmittelversorgung der Patientinnen und Patienten in vielen Bereichen bislang gewährleistet ist. Die Betriebe tun wirklich alles, damit das so bleibt und sie ihrer Versorgungspflicht nachkommen können“, unterstreicht Reuter. Auf zahlreichen Gebieten gebe es wenig bzw. kaum Lieferengpässe. Beispiele hierfür seien Orthesen und Schienen (PG 23), Arm- und Beinprothesen (PG 38, 24), Brustprothesen (PG 37), Stoma-Artikel (PG 29), Bandagen (PG 05), Einlagen (PG 08), Inkontinenzhilfen (PG 15), Hilfsmittel zur Kompressionstherapie (PG 17) oder Lagerungs-, Mobilitäts- und Stehhilfen (PG 20, 22, 28).
„In diesen Bereichen mache ich mir allerdings Sorgen, dass Patientinnen und Patienten notwendige Versorgungen unter den Kontaktbeschränkungen verschleppen. Dies darf nicht geschehen! Sonst droht trotz Sicherheit in der Versorgung auch, dass hier elementare Spätfolgen auftreten können“, warnt Reuter. Klar werde durch die Befragung allerdings auch, dass Politik und Krankenkassen handeln müssen: „Unsere Leistungserbringer versorgen die Patientinnen und Patienten unter teils sehr schwierigen Umständen mit dringend benötigten Hilfsmitteln – und entlasten damit andere Bereiche des Gesundheitssystems, darunter die Krankenhäuser“, erklärt Reuter.
Nicht voll arbeitsfähig
Die Arbeitsfähigkeit in den verschiedenen Versorgungssegmenten erwies sich laut Befragung bei etlichen Betrieben schon eingeschränkt. Auf die Frage, „welche Bereiche im Unternehmen eher bzw. voll arbeitsfähig sind“ antworteten die befragten Unternehmen wie folgt: Sanitätshaus 42,5 Prozent; Orthopädie-Technik 48,5 Prozent; Orthopädie-Schuhtechnik 44,2 Prozent; Reha 53,1 Prozent; Home Care 47,6 Prozent und Medizintechnik 42,2 Prozent.
Gravierende Auswirkungen hat fehlende persönliche Schutzausrüstung (PSA): So wurde vor allem der Mangel an FFP2/3-Mundschutz von rund 82,3 Prozent der Befragten als ein Grund benannt, der „aktuell oder innerhalb der nächsten Woche“ zu Einschränkungen ihrer Lieferfähigkeit führt – gefolgt von Desinfektionsmittel (71,3 Prozent), einfachem Mundschutz (69,9 Prozent) und Einweghandschuhen (54,1 Prozent).
Wirtschaftliche Folgen der Corona-Krise
Umsatz- und Auftragseinbrüche spüren laut der Befragung die deutliche Mehrzahl der Unternehmen. Insgesamt 82 Prozent der Befragten geben an, dass ihr Umsatz im März 2020 im Vergleich zum März 2019 abgenommen bzw. stark abgenommen habe. Für die Auftragslage sagten dies sogar 88,8 Prozent der Befragten.
In naher Zukunft wird keine Besserung erwartet – im Ausblick auf den Folgemonat Mai 2020 ergab sich ein ähnliches Bild. Wenn die Unternehmen auf die wirtschaftliche Schieflage reagieren müssen, ist mit schwerwiegenden Folgen zu rechnen: So planen aktuell 70,6 Prozent aller in der Untersuchung befragten Betriebe Kurzarbeit, sofern diese noch nicht umgesetzt wurde. 61,4 Prozent planen Urlaub für (Teile der) Belegschaft, 60,3 Prozent den Abbau von Arbeitszeitkonten. 16,4 Prozent sehen sich zur Kündigung von Mitarbeitern gezwungen. 8,8 Prozent ziehen vorübergehende Betriebsschließungen in Erwägung. „Schließungen wären für die Betriebe aber nur die allerletzte Möglichkeit, wenn keine andere Maßnahme mehr greift. Denn jedes unserer Sanitätshäuser, jede orthopädie-technische Werkstatt wird zunächst versuchen, bei dem hohen Fachkräftemangel unserer Branche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Betrieb zu halten“, bekräftigt BIV-OT-Präsident Reuter.
Korrektur und Ausblick
Kurz vor Fertigstellung der Befragung wurden bereits erste Zwischenresultate veröffentlicht, bei deren Verarbeitung es zu Fehlauswertungen gekommen war. Laut FOM entstand der Fehler bei den zwei Mehrfachabfragen der Untersuchung durch die statistische Verarbeitung der eingegebenen Rohdaten in der Software, infolgedessen zunächst ein fehlerhaftes Ergebnis ausgeworfen wurde. Letztlich handelte es sich um eine falsche Codierung. Der Fehler in der Verarbeitung der Software konnte beseitigt werden, sodass mit dem Endergebnis nun alle Resultate korrekt vorliegen:
Betroffen waren die Auswertung „Mangel an Schutzmaterial“ (Frage: Der Mangel an welchem Schutzmaterial (zum Eigenschutz) führt aktuell oder innerhalb der nächsten
Woche zu Einschränkungen in Ihrer Lieferfähigkeit?) sowie „Maßnahmen im Betrieb“ (Frage: Welche Maßnahmen im Hinblick auf Ihre Beschäftigten planen Sie für Ihren Betrieb umzusetzen?). Hierbei war es unter anderem zu der fehlerhaften Aussage gekommen, dass 88 Prozent der befragten Unternehmen mit Betriebsschließungen rechnen (tatsächlich: 8,8 Prozent), 80 Prozent Kündigungen aussprechen werden (tatsächlich: 16,4 Prozent) sowie 30 Prozent Kurzarbeit planen (tatsächlich 70,6 Prozent). Bei der PSA wurde in der fehlerhaften Grafik unter anderem der Mangel an FFP2/3-Mundschutz mit 17,7 Prozent genannt (tatsächlich: 82,3 Prozent), der Mangel an Desinfektionsmittel mit 28,7 Prozent (tatsächlich: 71,3 Prozent).
Um die weiteren Auswirkungen der Corona-Krise auf die Branche zu dokumentieren, wird die Befragung der Mitgliedsbetriebe des BIV-OT fortgesetzt. Die zweite Befragungswelle wird ab 4. Mai bis einschließlich 10. Mai stattfinden.
*Quelle: GKV-Spitzenverband (2017)