Das Atomkraftwerk Brunsbüttel wird trotz massiver interner Zweifel an seiner Sicherheit seit Jahren am Netz gehalten. Eine so genannte periodische Sicherheitsanalyse (PSÜ), die eigentlich nach zwei Jahren in 2003 hätte abgeschlossen sein sollen, dauert bereits mehr als sechs Jahre. Die geheim gehaltene Mängelliste, deren Veröffentlichung Vattenfall nach langer juristischer Blockade seit gestern nicht mehr im Wege stehen will, betrifft nach einer der Deutschen Umwelthilfe vorliegenden Expertenanalyse praktisch alle Kernbereiche der Rektorsicherheit. Besonders kritisch sind nicht erbrachte Bruchsicherheitnachweise im Rohrsystem, Werkstoffprobleme, Mängel in der Elektro- und Leittechnik, sowie die Verwundbarkeit gegen Terroranschläge. Insgesamt zählten die Sicherheitsexperten zum Stichtag 21. Juni 2006 rund 650 offene Punkte – von denen sich 165 als besonders prekär erwiesen. Sie gehören zur so genannten Kategorie 2 („Nachweisdefizit, das kurzfristig zu beseitigen ist“).
„Wir verlangen, dass die schleswig-holsteinische Sozialministerin Gitta Trauernicht Vattenfall zur Vorlage sämtlicher Sicherheitsnachweise der Kategorie 2 binnen vier Wochen veranlasst. Wenn der Konzern bis dahin nicht liefert, muss der Reaktor abgeschaltet werden“, erklärte DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch. Er habe große Zweifel, dass Vattenfall zur Erfüllung dieser Auflage in der Lage sei. „Die gelebte Unsicherheitskultur im AKW Brunsbüttel muss und wird ein Ende haben“. Im vergangenen Jahr habe Vattenfall ebenfalls nach DUH-Recherchen eingestehen müssen, dass, entgegen vorherigen Beteuerungen, die Notstromelektrik in Brunsbüttel in ähnliche Probleme hätte laufen können wie im schwedischen Vattenfall-Reaktor Forsmark, der seinerzeit nur knapp einer Katastrophe entgangen war. Resch: „Jetzt entpuppt sich die Brunsbüttel-Mängel¬liste als Sprengsatz. In diesen Tagen erleben wir den Anfang vom Ende des Atomzeitalters in Brunsbüttel.“ Die Tatsache, dass Vattenfall nach der Bekanntgabe der DUH-Pressekonferenz seinen Widerstand gegen die Veröffentlichung aufgegeben habe, bestätige „geradezu prototypisch, dass die Atomkraftbetreiber immer solange mauern, bis eine Veröffentlichung nicht mehr verhindert werden kann.“
2006 verteilten sich die fehlenden Sicherheitsnachweise wie folgt auf die Themengebiete: Aktivitätsfreisetzung (6), Bruchausschluss (19), E- und Leittechnik, Reaktorschutz (4), Einwirkungen von außen (EVA) und Einwirkungen von innen (EVI) – z.B. Erdbeben, Terroranschläge, Brandfolgen (27), Materialverhalten – Belastbarkeitsgrenzen, Materialermüdungen (85), Sicherheitssysteme (5), Störfallszenarien (9), Strahlkraftbelastungen (8) und sonstiges (3).
Die periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ), auf deren Ergebnissen die Brunsbüttel-Mängelliste beruht, geht auf die Amtszeit von Bundesumweltministerin Angela Merkel. Die heutige Kanzlerin hatte eine bundesweit einheitliche Regelung durchgesetzt, wonach PSÜs bei allen Meilern alle zehn Jahre durchgeführt werden müssen und nach jeweils zwei Jahren abgeschlossen sein sollen. Die Existenz einer Liste mit hunderten „offener Punkte“ zum AKW Brunsbüttel hatte die für die Atomaufsicht in Schleswig-Holstein zuständige Ministerin Trauernicht im Sommer 2006 in einem Zeitungsinterview offenbart. Daraufhin hatte die DUH Akteneinsicht nach EU-Umweltinformationsrecht beantragt. Trauernicht stimmte dem Anliegen der DUH nach einigem Zögern zu. Doch dann blockierte Vattenfall die Herausgabe der 956 Seiten umfassenden Unterlage aus dem Juni 2006 mit einer Klage. Trauernicht ihrerseits wehrte sich gegen die sofortige Vollziehung ihrer Entscheidung zugunsten der Umweltschützer. Unter anderem argumentierte der Konzern, die Veröffentlichung der Schwächen des über 30 Jahre alten Reaktors würde seinen Wert bei einem möglichen Verkauf schwächen, weil so die Notwendigkeit von Nachrüstinvestitionen offenkundig würde.
Seit gestern spielt die Argumentation keine Rolle mehr, obwohl die Vattenfall-Anwälte noch vor einer Woche mit einem Antrag auf Fristverlängerung erneut auf Zeit gespielt hatten. Nun will der Konzern die Klage zurückziehen.
„Mit der Informationsblockade wollte Vattenfall offenbar verhindern, dass unter dem Druck einer öffentlichen Debatte teure Nachrüstinvestitionen von der Atomaufsicht erzwungen werden“, mutmaßte der Leiter Politik und Öffentlichkeitsarbeit der DUH, Gerd Rosenkranz. Vattenfall hat bei Bundesumweltminister Sigmar Gabriel gleich zwei Anträge zur Laufzeitverlängerung für Brunsbüttel gestellt. Ihnen werden nach der Störfallserie der letzten Wochen keine Chancen mehr eingeräumt. Stattdessen fordert Gabriel neuerdings die vorzeitige Stilllegung alter und unsicherer Atomkraftwerke wie Brunsbüttel. „Das hätte er schon im vergangenen Jahr tun sollen, als die DUH nach Forsmark den gleichen Vorschlag gemacht habe. Schade, damals wollte er nicht“, sagte Rosenkranz.
Jetzt werde die Mängelliste entweder teure Nachrüstinvestitionen erzwingen oder wahrscheinlicher die Stilllegung des Meilers. Rosenkranz erinnerte daran, dass in der Mängelliste die drohende Gefahr terroristischer Angriffe aus der Luft kaum eine Rolle spiele. Schließlich hatte das KKB seinen ersten Bericht schon vor dem 11. September 2001 abgeliefert. Wegen seines Alters ist Brunsbüttel besonders anfällig gegen Angriffe aus der Luft.