Da die Leistungssätze seit 1993 trotz gesetzlicher Verpflichtung zur jährlichen Anpassung und trotz Anstiegs der Verbraucherpreise auf inzwischen 35% unverändert niedrig blieben, war eine solche Entscheidung nach dem Verlauf der mündlichen Verhandlung am 20.06.2012 schon erwartet worden.
"Spätestens seit der Hartz IV-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 lag es nahe, dass das Bundesverfassungsgericht zu diesem Ergebnis kommen würde, da auch die Leistungssätze nach dem AsylbLG auf einer bloßen Schätzungen beruhten und damit bereits mangels Bemessungsgrundlage verfassungswidrig waren", so Rechtsanwalt Thomas Oberhäuser von der Arbeitsgemeinschaft Ausländer- und Asylrecht im Deutschen Anwaltverein.
Die Bundesregierung habe mehr als zweieinhalb Jahre Zeit gehabt, das bisher Versäumte nachzuholen und die ins Blaue hinein geschätzten Leistungen auf eine realitätsgerechte, inhaltlich transparente und auf einem sachgerechten Verfahren beruhende Bemessungsgrundlage zu stellen, also die Leistungssätze dem tatsächlichen Bedarf entsprechend anzupassen.
"Diese Untätigkeit hat das Bundesverfassungsgericht nunmehr abgestraft", so Oberhäuser weiter. Denn das Urteil gehe weit über die bloße Feststellung der Verfassungswidrigkeit hinaus. Das Bundesverfassungsgericht hält die fortdauernde Anwendung der verfassungswidrigen Normen angesichts der existenzsichernden Bedeutung der Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht für hinnehmbar. Der elementare Lebensbedarf der Leistungsberechtigten - so das Bundesverfassungsgericht - ist in dem Augenblick zu befriedigen, in dem er entsteht.
Hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 09.02.2010 zu den Leistungen nach dem SGB XII / SGB II noch davon abgesehen, Übergangsregelungen zu schaffen und dem Gesetzgeber Vorgaben zur Anpassung der Leistungen zu machen, sieht sich das Gericht jetzt von Verfassungs wegen verpflichtet, Übergangsrecht zu schaffen, das nicht nur bis zu einer Umsetzung der Entscheidung durch den Gesetzgeber zu beachten ist, sondern rückwirkend für alle noch nicht abgeschlossenen Leistungsfälle ab dem 01.01.2011 gelten soll.
"Es besteht daher auch jetzt noch die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, da die Leistungen häufig bescheidlos gewährt würden und daher binnen Jahresfrist anfechtbar sind", so Rechtsanwältin Eva Steffen, Mitglied im Ausschuss Ausländer- und Asylrecht des Deutschen Anwaltvereins und Prozessbevollmächtigte in den Vorlageverfahren. Die Betroffenen sollten Kontakt zu ihren Bevollmächtigten aufnehmen.
"Eine Nachzahlung für bereits bestandskräftig entschiedene Leistungszeiträume hat das Bundesverfassungsgericht für alle Zeiträume bis Ende Juli 2012 allerdings ausgeschlossen", so Steffen weiter.
Das Bundesverfassungsgericht macht den Gesetzgeber darüber hinaus weitergehende Vorgaben, die dieser bei seiner Neuregelung zu beachten und umzusetzen hat:
So erlaubt es die Verfassung bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht, pauschal nach dem Aufenthaltsstatus zu differenzieren; der Gesetzgeber muss sich immer konkret am Bedarf existenznotwendiger Leistungen orientieren. Ein Minderbedarf wegen eines voraussichtlichen Kurzaufenthalts ist - so das Bundesverfassungsgericht - jedenfalls dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn der Aufenthalt tatsächlich deutlich länger dauert. Für diese Fälle ist ein zeitnaher, an den Gründen für einen unterschiedlichen Bedarf orientierter Übergang von den existenzsichernden Leistungen für Kurzaufenthalte zu den Normalfällen vorzusehen. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss zudem durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Die evident unzureichende Höhe der Grundleistungen kann nicht durch die Anwendung einer Norm kompensiert werden, die im Einzelfall die Bewilligung höherer Leistungen ermöglicht.
Das Bundesverfassungsgericht kritisiert darüber hinaus, dass dem AsylbLG eine gem. § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB II bzw. § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB XII entsprechende Regelung fehlt, wonach bei Kindern und Jugendlichen der Bedarf für Bildung und Teilhabe als Anspruch gesichert werden. Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden. Im Übrigen ist der Gesetzgeber hierzu auch durch Vorgaben verpflichtet, die sich aus dem Recht der Europäischen Union und aus dem Völkerrecht ergeben.