Wir setzen uns in unserer Stellungnahme zu den leider bislang im Medienstaatsvertrag selbst, aber auch in den eingearbeiteten bisherigen Stellungnahmen offensichtlich nur unzureichend thematisierten Fragen der Barrierefreiheit des Medienangebots auseinander.
Grundlage hierfür stellen insbesondere Erwägungsgrund 23 und Artikel 7 der Richtlinie (EU) 2018/1808 vom 14. November 2018 zur Änderung der Richtlinie 2010/13/EU dar. Diese Richtlinie muss bis zum 19. September 2020 in deutsches Recht umgesetzt werden.
Die Bundesregierung verweist in ihrem 2. und 3. Staatenbericht zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auf Anfrage des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen unter Frage 22. (Seite 41 ff. zu Artikel 21 UN-BRK) darauf, dass Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland bei Menschen mit Beeinträchtigungen das meistgenutzte Medium sei. Sie behauptet, dass in der ARD „alle Erstsendungen“ mit Untertitelung angeboten würden. Ebenso hätten die neun ARD-Landesrundfunkanstalten die Zahl der untertitelten Sendungen in den vergangenen Jahren gesteigert. Es würde darüber hinaus eine „stetig wachsende Zahl“ von Sendungen mit Gebärdensprache „zum zeitsouveränen Abruf“ angeboten. Auch für das ZDF werden hohe Zahlen von Untertitelungen angeführt. Es wird – weniger konkret – zudem hervorgehoben, dass „Personen mit Hörbehinderungen“ Inhalte mittels „Gebärdensprache live in der ZDF Mediathek verfolgen.“
Um so mehr überrascht es uns, dass die Aspekte der Barrierefreiheit und Zugänglichkeit des Fernsehens im überarbeiteten Entwurf des Medienstaatsvertrages nur am Rande in § 3 Absatz 2 und 3 sowie in § 52e Absatz 5 Nummer 4 eine Rolle spielen.
Das entspricht weder der gesellschaftlichen Bedeutung von Barrierefreiheit noch den rechtlichen Vorgaben, die wir dem Benachteiligungsverbot des Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG, der AVMD-Richtlinie, der UN-BRK und den Behindertengleichstellungsgesetzen des Bundes und der Länder entnehmen.
Das Grundgesetz verbietet in Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG ganz grundsätzlich die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen wegen der Behinderung. In Artikel 21 der UN-BRK wird dieser Grundsatz konkretisiert, indem die Vertragsstaaten dazu aufgefordert werden, „alle geeigneten Maßnahmen“ zu treffen, um (unter anderem) zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen das Recht (und die Möglichkeit) haben, sich „Informationen und Gedankengut zu beschaffen.“ Dabei sollen Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf Informationserhalt „gleichberechtigt mit anderen“ Menschen ausüben können.
Eine weitere Spezifizierung erfolgt durch Artikel 21 lit. c) und d) der UN-BRK, der verlangt, dass die Vertragsstaaten private Rechtsträger, die Dienste für die Allgemeinheit anbieten, „dringend dazu auffordern, Informationen (…) in Formaten zur Verfügung zu stellen, die für Menschen mit Behinderungen zugänglich und nutzbar sind“, und „Massenmedien (…) dazu auffordern, ihre Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu gestalten“. Es reicht daher nicht aus, wenn die Länder als politisch Verantwortliche die Anbieter privater Medien anlässlich der Vertragsverhandlungen über den Medienstaatsvertrag lediglich dazu auffordern, ihre Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu gestalten – im Rahmen des Medienstaatsvertrages wird ja gerade eine Regulierung vorgenommen, die grundsätzlich auch für private Rechtsträger und ihre Angebote konkrete Verpflichtungen enthält. Hier ist es vielmehr Aufgabe der Länder „alle geeigneten Maßnahmen“ zu treffen, um der Gewährleistungsverpflichtung aus Artikel 21 der 1 UN-BRK nachzukommen. Denn wenn Menschen mit Behinderungen keine Möglichkeit haben, die in Deutschland ausgestrahlten Fernsehsendungen wahrzunehmen, werden sie benachteiligt und von der gesellschaftlichen Teilhabe in dem Umfang, in dem diese Barriere zugelassen wird, ausgeschlossen: Auch Sendungen privater Medien prägen kulturelle Entwicklungen nachhaltig und beeinflussen den gesellschaftlichen Diskurs und die gesellschaftliche Wahrnehmung erheblich – je nach Alters-gruppe sogar in zunehmendem Maße.
Angesichts dessen wird die pauschale Soll-Vorschrift in § 3 Absatz 2 des überarbeiteten Entwurfs des Medienstaatsvertrages dem Recht von Menschen mit Behinderungen auf benachteiligungsfreien Zugang zu medial verbreiteten Informationen und (künstlerischem und unterhaltsamem) Gedankengut nicht gerecht, zumal sie so allgemein formuliert ist, dass Anbieter*innen von Medien in dreifacher Hinsicht entlastet werden: Durch das „sollen“ wird ihnen ein Ermessensspielraum eingeräumt, der außerdem noch durch die nicht konkretisierte Berücksichtigung ihrer „technischen und finanziellen Möglichkeiten“ relativiert und abschließend durch das nicht näher qualifizierte schlichte „vermehrt“ vollends unüberprüfbar ausgestaltet wird. Diese Sichtweise, die barrierefreien Zugang lediglich als einen Kostenfaktor betrachtet, ist nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich, sondern lässt auch außer Acht, dass ein barrierefreier Zugang zu Medienangeboten ermöglicht, dass mehr Menschen diese nutzen und damit auch beispielsweise Adressat*innen für gesellschaftliche, kulturelle und Werbeangebote erreicht werden.
Auch die neue AVMD-Richtlinie hat eine andre grundsätzlichere Sichtweise auf Barrierefreiheit und stellt in Erwägungsgrund 22 unter Verweis auf die UN-BRK fest, dass „die Gewährleistung der Barrierefreiheit (…) eine wesentliche Anforderung“ ist. Daraus folgt, dass „die Mitgliedstaaten ohne unangemessene Verzögerung sicherstellen“ sollen, „dass die sich die ihrer Rechtshoheit unterworfenen Mediendienstanbieter aktiv darum bemühen, ihre Inhalte für Menschen mit Behinderungen, insbesondere für Menschen mit Seh- und Hörstörungen, zugänglich zu machen.“ Maßstab ist dabei das ausdrücklich benannte Ziel der vollständigen Barrierefreiheit, bei deren Erreichung „praktische und unvermeidbare Einschränkungen, die beispielsweise im Fall von live übertragenen Sendungen (…) eine vollständige Barrierefreiheit verhindern könnten, zu berücksichtigen sind. Dies bedeutet nicht, dass bei live übertragenen Sendungen Barrierefreiheit nicht anzustreben ist. Die Live-Übersetzung von Kommentierungen zum Beispiel eines Fußballspiels in Deutscher Gebärdensprache (DGS) ist genauso möglich wie die einer Talkrunde über Hassreden.
Die Maßnahmen aus Erwägungsgrund 22 haben in der neuen Fassung des Artikel 7 der AVMD-Richtlinie ihren Niederschlag gefunden, der in Artikel 3 Absatz 2 und 3 des überarbeiteten Entwurfs des Medienstaatsvertrages jedoch nur unzureichend berücksichtigt wird. Während der neue Artikel 7 der AVMD-Richtlinie eine Verpflichtung enthält, die sicherstellt, dass die Mediendienstanbieter den Zugang zu Diensten „stetig und schrittweise“ tatsächlich verbessern, schränkt Artikel 3 Absatz 2 des überarbeiteten Entwurfs des Medienstaatsvertrages diese Verpflichtung für die privaten Mediendiensteanbieter, wie oben dargelegt, unangemessen ein – und enthält darüber hinaus keine Verpflichtung zu einer Stetigkeit der schrittweisen Verbesserung – und schon gar nicht das Ziel aus Erwägungsgrund 22 und das aus Artikel 21 UN-BRK zu beziehende Kriterium und Ziel der „vollständigen Barrierefreiheit“.
Dass die Verpflichtungen aus Artikel 7 Absatz 3 bis 5 der AVMD-Richtlinie (neu) im überarbeiteten Entwurf keine Entsprechung finden, stellt überdies einen Verstoß gegen Artikel 11 der UN-BRK dar.
Weiterhin möchten wir – insbesondere mit Blick auf die Stellungnahme der Bundesregierung im 2. und 3. Staatenbericht – darauf hinweisen, dass Untertitelungen für viele Menschen mit schweren Hörbeeinträchtigungen nicht immer hilfreich sind, weil es sich bei ihnen lediglich um eine Umsetzung der deutschen Lautsprache in deutsche Schriftsprache handelt, die sich in Aufbau, Wortwahl und Grammatik teilweise erheblich von der DGS unterscheidet, die für die meisten gehörlosen Menschen Muttersprache ist. Untertitelungen sind daher keinesfalls ein Ersatz für die Einblendung von DGS-Dolmetscher*innen. Gerade bei Untertitelungen beobachten wir zudem zum Teil erhebliche Qualitätsprobleme, die auch die Wahrnehmung der entsprechenden Medien beeinträchtigen. Wir regen deshalb an, dass die Medienanbieter zur Durchführung von Qualitätssicherungsmaßnahmen verpflichtet werden.
Des Weiteren stellen wir fest, dass ein zentraler Grundsatz der UN-BRK, nämlich das in Artikel 4 Absatz 3 der UN-BRK enthaltene Gebot der Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen im Rahmen enger Konsultationen und aktiver Einbeziehung („Nicht über uns ohne uns“) sowohl bei der Erarbeitung des Medienstaatsvertrages als auch im Medienstaatsvertrag mit Blick auf die Sicherstellung und Einhaltung der Verpflichtungen hinsichtlich der Einhaltung und des Ausbaus des Medienstaatsvertrages nicht beachtet wurde.
Insofern fordern wir Sie auf, folgende Ergänzungen und Änderungen des überarbeiteten Entwurfes vorzunehmen:
§ 2 Absatz 2 wird um einen vierten Absatz ergänzt:
Barrierefrei sind Rundfunkangebote, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.
§ 3 Absatz 1 wird wie folgt ergänzt:
(…) haben in ihren Angeboten die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, die sittlichen und religiösen Überzeugungen der Bevölkerung sind zu achten. Die Angebote sollen dazu beitragen, die Achtung vor Leben, Freiheit und körperlicher Unversehrtheit, vor Glauben und Meinungen anderer zu stärken; sie sollen auch das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen schärfen und Diskriminierungen entgegenwirken. Weitergehende landesrechtliche Anforderungen (…)
§ 3 Absatz 2 und 3 werden wie folgt geändert und in einem eigenen Paragrafen (§ 4 oder § 3 a) unter der Überschrift „Barrierefreiheit“ zusammengefasst:
(1) Die Veranstalter nach § 3 Absatz 1 Satz 1 sorgen dafür, dass der Zugang zu ihren Medienangeboten für Menschen mit Behinderungen durch geeignete Maßnahmen stetig und schrittweise verbessert wird, um so dem Recht von Menschen mit Beeinträchtigungen und von älteren Menschen auf Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Union und der diesbezüglichen Inklusion Rechnung zu tragen. Das Ziel dieser Maßnahmen ist umfassende Zugänglichkeit audiovisueller Mediendienste. Geeignete Maßnahmen sind insbesondere der Ausbau des Angebots an gebärdensprachlichen Übersetzungen unter anderem bei Live-Übertragungen von gesellschaftlich, kulturell oder politisch bedeutenden Ereignissen und in Kinderprogrammen sowie die Ausweitung von Untertitelungen auch in Sparten- und Zielgruppenprogrammen.
(2) Um die stetige Verbesserung der Zugänglichkeit der Mediendienste zu erreichen sollen die Mediendiensteanbieter unter aktiver Beteiligung der maßgeblichen Organisationen der Menschen mit Behinderungen Aktionspläne für Barrierefreiheit erarbeiten. Die Aktionspläne sind den jeweils zuständigen Landesmedienanstalten, im Fall der ARD den zusammengeschlossenen Landesrundfunkanstalten, beim ZDF und dem Deutschlandradio den jeweiligen Aufsichtsgremien zu übermitteln. Hat ein Veranstalter nach Absatz 1 Satz 1 bis zum 1. November 2021 keinen entsprechenden Aktionsplan vorgelegt, informiert er die nach Absatz 3 Satz 2 zuständigen Stellen darüber, teilt die Gründe dafür mit und erklärt, wie die Verbesserung der Zugänglichkeit der angebotenen Mediendienste stattdessen erreicht werden soll. Die zuständigen Landesmedienanstalten können private Veranstalter daraufhin verpflichten, in einer bestimmten Frist einen erneuten Versuch zu unternehmen, einen entsprechenden Aktionsplan für Barrierefreiheit zu entwickeln. Die Informationen nach Satz 2 bis 4 sind von den zuständigen Stellen an den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen zu übermitteln.
(3) Die Veranstalter bundesweit verbreiteter privater Fernsehprogramme erstatten der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt, die ARD den zusammengeschlossenen Landesrundfunkanstalten, das ZDF und das Deutschlandradio den jeweiligen Aufsichtsgremien alle drei Jahre, beginnend mit dem 1. November 2022, Bericht über die getroffenen Maßnahmen zum stetigen Ausbau der Barrierefreiheit. Die Berichte werden anschließend der Europäischen Kommission und dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen übermittelt.
(4) Bei der Schlichtungsstelle nach § 16 BGG wird für Menschen mit Behinderungen eine leicht zugängliche und öffentlich verfügbare Online-Anlaufstelle eingerichtet, über die Informationen bereitgestellt und Beschwerden entgegengenommen werden, die die in dieser Vorschrift behandelten Fragen der Barrierefreiheit betreffen.
(5) Die Veranstalter nach § 3 Absatz 1 Satz 1 stellen sicher, dass Notfallinformationen, einschließlich öffentlicher Mitteilungen und Bekanntmachungen im Fall von Naturkatastrophen, die der Öffentlichkeit mittels audiovisueller Mediendienste zugänglich gemacht werden, so bereitgestellt werden, dass sie für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind. Dafür hören sie die maßgeblichen Verbände der Menschen mit Behinderungen an und stimmen sich untereinander ab.
§ 7 Absatz 2 wird wie folgt ergänzt:
Rundfunkwerbung ist Teil des Programms. Sie soll daher auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich sein.
§ 52e Absatz 2 ist wie folgt zu ergänzen:
Die Benutzeroberflächen sind auch für Menschen mit Behinderungen zugänglich zu gestalten. Gleichartige Angebote (…)