Die Welt in Agonie, in ihr der Mensch, klein, bang, von Entsetzen geschüttelt, das Grauen des Todes vor Augen - diese Sicht teilten die Wiener Künstler und Intellektuellen des Fin de siècle. Prophetisch erkannten sie die kommenden Schrecken und vergegenwärtigten sie in Worten, Tönen und Bildern. Mahlers Sinfonien sollten, nach eigenem Bekenntnis, "wie die Welt" sein, sollten "alles umfassen". Wie auf einem Grat sieht er die Welt, wie sie war und wie sie sein wird. Er komponiert Sinfonien, deren Bau durch das Zugleich von Rück- und Voraus-Geist in sich verschoben ist, Risse und Brüche zeigt. Die Welt der klassischen Musik ist verfallen, liegt schon in Trümmern, deren einzelne Steine er mit verzweifelter wie sehnsüchtiger Gebärde in sein sinfonisches Gebäude einsetzt. Allerdings an Stellen, die der mit traditionellen musikästhetischen Kategorien operierende Betrachter damals nicht suchte und folglich nicht fand. Das brachte Mahler den Vorwurf kompositorischen Unvermögens ein: In Wirklichkeit gibt er mit seinen Sinfonien ein einzigartiges Gleichnis alles Vergänglichen in seiner Unzulänglichkeit, was zu seiner Zeit nur wenige erkannten. Dazu bedient er sich in seiner 9. Sinfonie teilweise schon geradezu banal zu nennender Mittel: traditionelle Tanztypen wie Ländler und Walzer als Abbild irdischen Lebens, wie es unverblümter und ironischer nicht dargestellt werden kann - das dümmlich-genügsame Kollektiv in schwerfällig-stampfender Gemeinsamkeit. Die Walzerteile drücken aus, dass hier am Vorabend der Apokalypse getanzt wird, in verzweifelter Lebensgier. Am Ende enthüllt sich rückschauend und -hörend der erste Satz der 9. Sinfonie als ein nicht enden wollender Seufzer: im Vorwissen des Kommenden ein Seufzer der Resignation, wie ihn nur echte Trauer hervorbringt. Nie wieder begehbar sind die Wege unserer Vergangenheit; nicht revidierbar ist das, was zukünftig geschehen wird.
Programm:
Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 9 D-Dur
Rafael Frühbeck de Burgos | Dirigent