Die weiteren Sonderangebote – einschließlich der Rubrik Fridays for Future – stammen wieder alle von ein und demselben Autor und zwar wieder von Volker Ebersbach, mit dessen Texten man mühelos die Zeiten durcheilen kann – vom Alten Rom bis zur inzwischen auch untergangenen DDR. Überwiegend eben dort spielt sein Buch „Kinder des Narziss“, in dem es um zwei Freunde und um die Scherben eines Lebens geht – im übertragenen wie auch im wortwörtlichen Sinne. Die Gedichte des Gaius Valerius Catullus Catull präsentiert das vierte der heutigen Sonderangebote – „Aus dem Lateinischen. Übersetzung, Nachwort und Anmerkungen von Volker Ebersbach“. Spannende Unterhaltung von der ersten bis zur letzten Seite bietet der historische Roman „Gajus und die Gladiatoren“, der uns in Neros Zeit führt.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Diesmal steht wieder das Thema Umwelt im Fokus und wie zu DDR-Zeiten Natur und Umwelt zerstört wurden, um Braunkohle zu gewinnen. Die Bagger fraßen sich durch die Landschaft, zerstörten Lebensraum für Pflanzen und Tier und nicht zuletzt auch menschlichen Lebensraum. Allerdings hat diese Form von Umweltfrevel in Deutschland noch immer nicht ganz aufgehört, auch wenn es die DDR schon lange nicht mehr gibt.
Erstmals 1999 veröffentliche Volker Ebersbach im Heidrun Popp Verlag Grimma als Band 3 der Grimmaer Reihe seinen Gedichtband „Irdene Zeit“ (Herausgeber: Dr. Heidrun Popp): Der Gedichtband ist eine lange gereifte Sammlung, eine Summe. Da die meisten dieser Texte während der bis 1989 dauernden Mauerzeit nicht veröffentlicht werden konnten, heißt die Entstehungszeit für sie nicht ein Jahr, ein Datum oder eine Tageszeit, sondern eine Zeitspanne, während der immer wieder daran gearbeitet wurde. Leser haben jeweils die vorläufig letzte Fassung von mehreren Fassungen in der Hand. Vieles hat sich seither geändert. Die Pleiße ist nicht mehr schwarz. Aber die Bäume sterben noch. Viele Braunkohlenbagger sind verstummt, einige brüllen weiter. Der Dichter darf seine Meinung sagen, ohne gerügt oder benachteiligt zu werden, aber immer noch denken einige sich ihn aus. Das Einhorn kommt so wenig zur Ruhe wie die Liebesmühle, die Blätter fallen weiter, und Sisyphos wäre nicht er selbst, fände sein Stein festen Halt. Irdene Zeit geschieht, solange die Erde dauert. Und hier eines dieser Gedichte, in dem von den rostfarbenen Riesenhunden die Rede ist:
„Die Bagger
Im Braunkohlenkrater fressen sie sich
auf Hörweite heran. Nachts,
wenn die Straßenhahn aussetzt,
die Autos unter Laternen schweigen,
wenn mein Nachbar schnarcht,
jaulen sie hungrig auf:
rostfarbene Riesenhunde.
Ständig sind sie am Fraß.
Unaufhaltsam graben sie sich durchs Land,
verschlingen Wälder und Dörfer, nähren
die Riesenschweißfüße der Chemie.
Mitschuldig wie eine Geisel
schleppe ich hängenden Kopfes
Asche treppab und Briketts treppauf.
In der Elsteraue die Sägen:
Sie knattern und rattern,
sie ächzen und krächzen,
sie schreien, kreischen, stöhnen.
Die Bäume aber neigen
sich sanft und schweigen.
Sie gehen den Weg der Kohle“
Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
Erstmals 1985 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Des Königs Musikant. Geschichten aus dem Leben des Carl Philipp Emanuel Bach“ von Renate Krüger: Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788) gilt als der berühmteste unter den Söhnen von Johann Sebastian Bach. Er war Schüler der Thomasschule zu Leipzig, Student der Rechte in Frankfurt/Oder, stand 28 Jahre als Kammercembalist im Dienst König Friedrichs II. von Preußen und versah schließlich das Amt des Musikdirektors und Kantors am Johanneum in Hamburg. Carl Philipp Emanuel Bach war zu seinen Lebzeiten berühmter als sein Vater Johann Sebastian und gilt als einer der bedeutendsten Komponisten zwischen Barock und Wiener Klassik im sogenannten Zeitalter der Empfindsamkeit.
Der fiktive Erzähler François de La Chevallerie, Historiker und Bibliothekar in Berlin, beschreibt zwei Lebensläufe, den des Kapellbedienten Carl Philipp Emanuel Bach und den der zwielichtigen fiktiven Gestalt von Friedrich Wilhelm Gemshorn, Sohn eines Schafrichters und Henkers aus Brandenburg an der Havel. Beide begegnen sich auf Schloss Rheinsberg, der Residenz des Kronprinzen Friedrich von Preußen und Tummelplatz abenteuerlicher Existenzen. Gemshorn wird Handlanger eines sächsischen Spions, der Sohn von Johann Sebastian Bach hofft auf Aufstiegsmöglichkeiten am Hof des Kronprinzen - aber er bringt es nur bis zum Ersten Kammercembalisten. Gemshorn tritt bald als wandernder Schauspieler, bald als bürgerlicher Unternehmer auf, zwischen Sachsen und Preußen findet ein Krieg statt, und Herr von La Chevallerie begegnet dem jungen Lessing, der es später verschmäht, unter dem Schutz des Philosophen Voltaire Einlass in das königliche Opernhaus zu finden. Er wird Zeuge einer Bücherverbrennung auf dem Gendarmenmarkt: der König lässt eine Schrift von Voltaire den Flammen übergeben. Auch in Carl Philipp Emanuel Bach verbrennt etwas: das Vertrauen auf König Friedrich. Ein Konzert am Rheinsberger Hof des Prinzen Heinrich entfremdet ihn gänzlich der höfischen Kunst und Welt, und er beginnt trotz vorgerückten Alters eine neue musikalische Karriere im bürgerlichen Hamburg. Hier aber stellt sich zunächst einmal der Erzähler selbst vor – Monsieur François de La Chevallerie:
„Entree – Eingangsmarsch
Mein Leben ist bis in seine feinsten Verästelungen davon geprägt, dass ich am gleichen Tag geboren wurde wie der neue preußische Staat. Mein Vater, Oberst der Reiterei aus der französischen Kolonie, begleitete mit Tausenden anderer Untertanen seinen Landesherrn, der als Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg, nach Königsberg, in das weit entfernte Preußen, aufbrach und als König Friedrich I. mit Glanz und Gloria nach Berlin zurückkehrte.
Meiner Mutter war es nicht erspart worden, sich gleichfalls auf den beschwerlichen Weg in den Norden zu machen, und nach diesen Anstrengungen und Aufregungen brachte sie mich zu früh auf die Welt, fast auf die Stunde genau, als sich unter dem Jubel der Menge der Kurfürst selbst die preußische Königskrone aufs Haupt setzte. So vermehrte ich das königliche Gefolge und zog schreiend und hungrig in Berlin ein, die Residenz von Brandenburg und die Hauptstadt Preußens, eines Landes, das weit entfernt im Norden lag. Aber solche Entfernungen spielten in unserer Familie keine Rolle. Meine Eltern waren in Paris geboren, hatten aber aus Glaubensgründen ihre französische Heimat verlassen müssen und Aufnahme im Kurfürstentum Brandenburg gefunden.
Ich wurde nicht Reiteroffizier wie mein Vater, obgleich jedermann sagte, unser Name La Chevallerie verpflichte nun einmal zum Militärdienst, sondern wandte mich den Künsten und Wissenschaften zu und brachte es zum anerkannten Geschichtsschreiber und Bibliothekar. Solange ich mich zurückerinnern kann, erlebte und erfuhr ich, was in Preußen geschah, ich stand immer inmitten preußischer Geschichte. Manchmal meine ich, ich sei selbst ein Stück von ihr, obwohl ich noch immer besser französisch als deutsch spreche und meine Schriften in die deutsche Sprache übersetzen lassen muss. Und obwohl ich mit den preußischen Verhältnissen nicht immer einverstanden bin und manchmal mit Faust und Säbel dazwischenfahren möchte. Aber was würde sich damit ändern? Preußens Hauptstadt Berlin ist nun einmal meine Heimat, ich gehöre zu ihr, im Guten wie im Bösen ...
Zu meiner frühesten Kindheitserinnerung zählt das Reiterstandbild des Kurfürsten Friedrich Wilhelm, den man jetzt den Großen Kurfürsten nennt. Immer wieder spazierte mein Vater mit mir zur Schlossbrücke und ließ mich das Denkmal anstaunen.
„Ja, das ist ein Pferd, Francois“, versicherte er, „aber gerade gut genug für einen solchen Reiter!“ Und er zog den Hut vor dem Kurfürsten, der vor einem Menschenalter den französischen Flüchtlingen die Tore seines Landes geöffnet hatte.
Auch jetzt noch finde ich mich manchmal vor dem Großen Kurfürsten ein und sinne über den Weg nach, den Brandenburg-Preußen gegangen ist. Stärker aber noch zieht es mich in den Innenhof des Zeughauses, der mit ungewöhnlichem Schmuck versehen ist: den Masken sterbender Krieger. Der leiderfüllte, schmerzliche Ausdruck ihrer Gesichter passt oft am besten zu meinen Gedanken. Ich will mich jedoch vor Grübelei und Selbstquälerei hüten und lieber scharf darüber nachdenken, was geschehen ist und wie aus dem Geschehenen Geschichte wurde. Ich habe vieles erfahren, vieles aufgeschrieben, ich besitze eine Bibliothek, die in Berlin ihresgleichen sucht, und möchte nun eine Geschichte aus mir herauslocken, die auch Erfundenes und trotzdem nur Wahres enthält.
Nicht nur eine Geschichte, es sind Lebensläufe, pralle, runde Menschenschicksale, die meine Straßen und Wege kreuzten, manchmal in vollem Lauf, dann wieder holpernd und mühsam. Ich will sie erzählen, nicht nur wie ein Dokument festhalten, obgleich mir das als Geschichtsschreiber ja zustünde.
Doch nicht nur die Tatsachen will ich darstellen und somit der Nachwelt überliefern, sondern auch das, was zwischen ihnen wirkt, das eigentliche Leben, das sich so schwer in Zahlen und Berichte fassen lässt, weil Zahlen und Berichte nicht das ganze Herz des Schreibers fordern.
Ich möchte mit allen meinen Gefühlen und Sinnen dabei sein, als hätte ich mit diesen Menschen gelebt. So erzähle ich dies nicht als nüchterner Beobachter und Archivar, der alles gründlich ausgeforscht hat, sondern ich stecke selbst in meinen Geschichten mit drin. Wozu wäre mir sonst wohl meine Fantasie gegeben?
Wenn ich etwas nicht genau weiß, werde ich meine Vorstellungskraft zu Hilfe nehmen und so die Wahrheit finden und darstellen.
Warum ich es erzähle?
Auch deshalb, um herauszufinden, wo ich selbst stehe, welchen Weg ich gegangen bin. Und auch, um das andere Preußen zu finden, welches hinter dem allenthalben vorgezeigten Bild der Harmonie sichtbar wird, das auch mich sehr lange begleitet hat. Wer sollte es wohl entdecken können, wenn nicht ich, der Geschichtsschreiber, der Bibliothekar, der Archivar?
Die Weggefährten, die mich vor allem beschäftigen, sind der Musiker Carl Philipp Emanuel Bach und der Notendrucker und Schauspieler Friedrich Wilhelm Gemshorn.
Herr Bach wird ebenso in die große Geschichte eingehen wie sein Vater, der Leipziger Thomaskantor, obgleich er keine „Geschichte“ gemacht hat, wie man so sagt. Ich erlebte ihn als strebsamen, fleißigen Mann, der alle seine Kräfte in die Arbeit, in seine Musik steckte.
Jetzt ist Bach Musikdirektor in Hamburg; alle Welt drängt sich nach seinen Kompositionen und seiner Bekanntschaft. Zu Beginn meiner Geschichte ist er ein noch junger Cembalospieler, der gerade seine Studien in Leipzig und Frankfurt hinter sich gebracht und seinen Platz in der Rheinsberger Kapelle des Kronprinzen Friedrich gefunden hat.
Ob die Namen des Notenstechers Gemshorn einer ferneren Nachwelt erhalten bleiben werden, wage ich zu bezweifeln; für mich ist sein Leben jedoch ebenso wichtig wie das des Musikers Bach.
Auch diese beiden Menschen lehrten mich preußische Lebenswege kennen und mit meinem eigenen zu vergleichen, mich selbst besser zu verstehen.“
Erstmals im Jahre 2000 veröffentlichte Volker Ebersbach im Heidrun Popp Verlag Waldsteinberg seinen Roman „Kinder des Narziss“: Erzählt wird der Werdegang zweier Freunde aus der Generation, die 1949, im Jahr der Gründung der beiden deutschen Staaten, eingeschult wurden und 1961, im Jahr des Mauerbaus, Abitur machten.
Siegfried Stufenhauer und Wolfgang Siebensohn sind Einzelkinder im kleinbürgerlichen Milieu einer mitteldeutschen Kleinstadt, die ein starkes Bedürfnis nach Freundschaft entwickeln und (frei nach Alice Miller) das „Drama des begabten Kindes“ im Sozialismus erleben. Es ist die Geschichte zweier bei vielen Ähnlichkeiten doch zunehmend „spiegelverkehrt“ gegensätzlicher Freunde. Wenn sie sich in dasselbe Mädchen verlieben, sind sie anfangs, während der Pubertät, noch Komplizen. Unvermerkt werden sie aber bald zu Rivalen. Ihre Differenzen nehmen parallel zur Zeitgeschichte und zur Erziehung in DDR-Schulen immer mehr politischen Charakter an. Beide wollen sich für „das Gute“ engagieren, verstehen aber in sich häufenden Fällen etwas ganz anderes als der andere darunter. Die Bewertung des 13. August 1961 wird ihr endgültiges Zerwürfnis.
Aber sie leben auf derselben Seite der Mauer, im selben Land. Obwohl sie einander ausweichen, verschlägt es sie in dieselbe thüringische Universitätsstadt. Nun wird eine Liebe zu derselben Frau ihr Schicksal: Ulrike Herbst. Der Angepasste, der Genosse, wird - ungewollt - zum Verräter. Danach gerät er, vereinsamend, zunehmend selbst in Schwierigkeiten. Am 3. Oktober 1990 fragt er sich, selbst ein Gescheiterter, vor den Scherben seines Lebens nach seiner Schuld am Scheitern der Ideale, die ihn anfangs mit dem verlorenen Freund verbunden hatten.
Dieser Roman teilt authentisches Wissen um feinste Realien und unverwechselbare psychische Hintergründe mit, ohne autobiografisch zu sein. Der Verfasser bevorzugt Schauplätze und Personentypen, die er gut kennt. Es ist ein Roman, der Lebensgeschichten aus der DDR erzählt, der die uralte Geschichte von Liebe, Kälte und Verrat nur in der abgekapselten Gesellschaft der DDR spielen lässt. Hier ein Stück vom Anfang dieses spannenden Buches, den man auch als eine Art Selbstbefragung des überlebenden literarischen Helden verstehen kann:
„I. Buch: Narzissen in Meißner Porzellan
- Kapitel Gespenster
Wolfgang Siebensohn kehrte zu der Frage oft zurück: Woher komme ich? Er konnte es sich niemals vorstellen: das Nichts. Mit seiner Geburt war etwas zu Ende gegangen, an das er sich nie erinnern würde. Mit dem Tod begänne etwas von vorn, etwas anderes vielleicht oder genau dasselbe, geringfügig gewandelt, mit anderen Gesichtern und Namen, in anderen Gegenden der Welt, des Universums, im Grunde jedoch dasselbe, nur ohne Erinnerung an Voriges. Dem Träumenden erscheinen ein Leben lang Landschaften, Bauwerke, Gestalten, die er nie in Wirklichkeit sah. Der Wache sieht eine Farbe im Sonnenlicht, ein gelbes Ahornblatt, eine im Wind wippende Narzisse, hört eine Stimme Beglückendes oder Schreckliches sagen, zum allerersten Mal – und doch: als sei ihm gerade das schon einmal widerfahren. Er sieht für Sekunden seine Zukunft wie klare Fernen an einem Mittsommerabend. Nur der Spiegel, der in einen Spiegel schaute, sähe das Nichts. Wer sich zwischen Spiegel stellt, sieht dort, wo sich, wären sie klar genug, das Unvorstellbare, das Nichts auftäte, immer sich selber. Darum bezweifelte es Wolfgang, ob er zum ersten Mal gekommen sei, ob er je endgültig verschwände.
Das Kind sträubt sich gegen den Schlaf. Es will nicht zurück ins Dunkel. Sinkt es weg aus dem Licht, in dem es heimisch werden will, erscheinen ihm Wesen anderer Welten. Sie wollen ihm wehtun. Sie leiden selber. Fahl und faltig kommen sie, grämlich blickend oder bedrohlich, knopfäugig, trieflippig, die Haare gesträubt, der Mund zerrissen, oder ganz ohne Gesicht. Dürr, stelzbeinig, in schlotternden Kleidern staken sie plumpe Kähne durch schwarze Wasser, durch Scharen taumelnder Sterne, blecken schrundige Gebisse; Papierohren flattern, Greifhände spreizen sich in mattschimmernden Geweben. Das Gezücht wohnt in einer weidenden Kuh, geht durch ihren Hintern ein und aus, brüllt und kreischt im durchscheinenden Gitter der Rippen. Bräunlich krabbelt es auf Käferbeinen aus dem Lampenschirm, weißlich windet es sich unterm Tisch aus wurmigem Knäuel, einander umschlingende Arme, geriffelte, im Tasten sich längende Finger. Schweinerüssel lauern in Zimmerecken, Vogelschnäbel im Bettzeug. Äffisch Behaarte reiten auf kleinen flinken Pferden die Straße herauf, durchs Haus, über die Dächer. Gierig, gehetzt, bilden sie einen Kreis. Über wessen Ergreifung, wenn nicht über seine, beraten sie? Ein zirpender, wispernder, pfeifender Schwarm stürzt mit Insektenflügeln zum Fenster herein. Das Kind spürt Krallen im Haar, Pfoten an der Kehle, Zungen an den Füßen, hört den eigenen Schrei, sieht Licht, erkennt ein Gesicht. Das Gesicht der Mutter ist entsetzt und sorgenvoll. Auch sie müsste das alles gesehen haben.
Sie nennt die Wesen Gespenster und will nicht wahrhaben, dass es sie gibt außer in Träumen. Was sind Träume? Die Gespenster kommen, wenn er schläft, und sie schlafen, wenn er wacht.
Später, als er gelernt hatte, Träume von der Welt zu unterscheiden, sich selbst als den Träumenden anzunehmen, lauerte Wolfgang wachend Signalen auf, die, wenn er schlief, Gespenster weckten. Er suchte nach den alltäglichen Brutstätten der Plagegeister, die nachts über ihn herfielen. Der Schlaf machte ihn wehrlos. Dem fernen Fauchen, Stampfen, Bellen einer Dampflokomotive lauschte er, die einen Güterzug anschleppte: Winterlicher Ostwind trug ein Schnaufen herüber, dem rasches Gebell folgte, in Brüllen sich überschlagend. Das Kollern und Poltern von Kalk, mit dem Solvay die Brennöfen beschickte, scholl über die schwarzen Dächer. Wenn Mutter eine Lampe brennen ließ, schauten in silbernem Rahmen grimmige Fratzen aus den Felsschroffen der Zugspitze zu ihm herab. Kaum begannen sie augenrollend zu reden, schreckte ihn, in einem Brei von Störgeräuschen ertrinkend, die Radiostimme eines Nachrichtensprechers aus erstem Schlummer. Mit Schrecken erkannte er die beiden hölzernen, hölzern hackenden Trommler eines Orchestrions auf dem Rummelplatz und die Affenfratzen in der Gespensterbahn. Die riesigen Insekten waren Sirenengeheul und Flugzeugbrummen. Mutter führte ihn am Fenster vorüber aus dem dunklen Zimmer. Die Sterne waren in Bewegung. Sie ordneten sich zu Dreiecken: Christbäume ohne Weihnachten. Unter nicht allzufernem Donner, der die Wände zittern machte, zogen ihnen Funkengarben entgegen. Mutter sagte: Das ist die Flak. Die trifft nur Luft. Fremde Leute schützten sich im Keller vor der Luft, Hausbewohner, Nachbarn. In Decken gehüllt, zwischen Koffern und Rucksäcken, grüßten sie Mutter, sprachen von Bombentreffern in der Bahnhofstraße, freuten sich über das Feuer im Finanzamt, schäkerten mit dem Kind, holten Bonbons mit Fusselklümpchen aus den Manteltaschen, machten sich wieder davon, weil Wasser in den Keller lief.
Am Tag ist die Luft voll Geplärr. Stiefel glänzen und krachen. Wolfgang steht auf einem Stuhl am Fenster und sieht hundert vollkommen gleiche Gespenster vorüberziehen. Manche halten sich goldene Rohre vor die Gesichter; Kessel auf den Köpfen lassen nicht erkennen, ob sie hineinblasen oder hindurchschauen. Der Lärm kommt aus den Männern, die sich in Uniformen und Stahlhelmen verstecken, hohl und hart. In der Welt ist Krieg. Wer aus dem Feld kommt und eine Schlacht mitgemacht hat, ist wahrscheinlich hohl wie das Kaninchen, das er Mutter im Hof hat schlachten sehen. In den Schlachten dieses Krieges werden einem die Eingeweide herausgenommen. Manche Männer fallen, aber nicht so wie er, der, so weh es tut, gleich wieder aufsteht. Sie bleiben liegen. Sie sind tot. Einem ist zwischen Krücken das Hosenbein mit einer Nadel hochgesteckt. Haben sie ihm an der Front das Bein abgebrochen? Andere sind vermisst. Die Frauen, deren Mienen er betrachtet, um zu verstehen, was sie meinen, finden es weniger schlimm, wenn ihr Mann oder ihr Junge in den Mist fällt.
Im Hinterhaus richten sich Uniformierte ein. Der Steppke spart der Postfrau einen Weg und bringt ihnen Briefe. Sie haben auf Armbinden und auf ihren Papieren ein schwarzes Zeichen, ein auf Kante stehendes Fenster mit einer Lücke auf jeder Seite. Jungs, die mit Kreide das Pflaster bemalen, streiten, wie herum es gehört. Zum Steppke und zu Frauen sind Uniformierte freundlich. Männer schnarren sie an. Von Männern wird mehr verlangt. Sie blicken gern feierlich und streng wie das Gesicht auf dem Bild, unter dem sie schreiben und verhandeln. Hätte nicht einer von ihnen dasselbe Oberlippenbärtchen, könnte man es für den Schmutzfleck unter der Nase halten, der den Steppke verrät, wenn er aus dem Wasserhahn in der Hofecke getrunken hat. Mutter meint dieses Gesicht, wenn sie ihm dann beim Kämmen zum Spaß den Scheitel auf der anderen Seite zieht und kichert: wie der Führer! Der Führer heißt Adolf. Mutter kämmt den Scheitel richtig, liest aus einem Kinderbuch: Adolf heiß ich, die Hosen zerreiß ich, die Nüsse zerbeiß ich und sonst nichts weiß ich. Im Spiegel hat er den Scheitel dann doch auf der Seite des Führers.
Uniformierte, das war die Wehrmacht. Das waren Nazis. Auf einmal verschwanden die Männer vom Hinterhaus. Dann waren es Amis. An einem sommerlichen Apriltag standen sie in einem sandfarbenen Panzer vorm Haus und verteilten Süßes, das Schokolade hieß und aussah wie einer von ihnen.
Dann waren es Russen. Das schwarze Zeichen war verboten, wie nur etwas verboten sein konnte. Es wurde ein Unzeichen, das man heimlich mit Herzklopfen dennoch malte und mit dem Schließen aller Lücken zu einem Fenster verharmloste.
Auch was die Russen singen, klingt hart, hohl, unverständlich. Alle fürchten sich vor den Russen. Wenn über Leute gesprochen wird, ist das Wichtigste, ob einer Nazi war oder nicht. Wer Nazi war, wird abgeholt.“
Erstmals 1974 erschien im Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig „Gaius Valerius Catullus. Gedichte. Aus dem Lateinischen. Übersetzung, Nachwort und Anmerkungen von Volker Ebersbach: GAIUS VALERIUS CATULLUS (etwa 87 bis 54 v. u. Z.) erlebte als knapp Fünfzehnjähriger den panischen Schrecken, den das bis in die Nähe seiner Vaterstadt Verona herangerückte Spartakusheer auslöste, und auch in Rom, wo er die standesgemäße höhere Bildung empfangen sollte, erfuhr er von den entlang der Via Appia nach ihrer Niederlage gekreuzigten Aufständischen.
In einer Welt voller Brutalität und Zynismus, voller Gier nach Geld und Macht, die schien, als ob aus ihr alle menschlichen Werte verschwunden seien, hat Catull ein Werk, schillernd und reich an Kontrasten, geschaffen: In ihm vereint sich grobe und freche, an Drastik kaum zu überbietende Invektive mit Versen von erlesenem Künstlertum; Strophen, die von rückhaltloser Leidenschaft zu der geliebten Lesbia zeugen, stehen neben Gedichten der Trauer um den einzigen Bruder und anderen, die um das Geborgensein in der als schön empfundenen Natur und um den Wert der Freundschaft wissen, die - gegen Korruptheit der Zeit und Zeitgenossen gerichtet - Schöpfergeist und Fleiß rühmen und von der Gewissheit erfüllt sind, unvergänglich zu sein. Catulls Dichtung ist ein Manifest menschlicher Bewährung. Hier zwei seiner Gedichte in der Übertragung aus dem Lateinischen von Volker Ebersbach:
10 Weil ich müßig am Markt herumstand, führte (Varus me meus ad suos amores)
Weil ich müßig am Markt herumstand, führte
mich mein Varus zu seinem Schatz und zeigte
mir dann nur, wie ich sofort sah, ein Nüttchen,
gar nicht unelegant, ganz appetitlich.
Kaum gekommen, da fielen wir ins Schwatzen;
von Bithynien allerlei: was gab es
dort, wie stehen die Dinge jetzt, und ob es
mir wohl einige Gelder eingebracht hat.
Ich erwiderte, wie es war: dass weder
ich noch irgendein Praetor noch die Truppe
Grund gehabt hat, den Kopf zu hoch zu tragen.
„Außerdem war der Praetor scharf nach Weibern,
krümmte für die Soldaten keinen Finger.“
„Aber hast du dir nicht zumindest ein paar
Sänftenträger gekauft, die dort zu Haus sein
sollen?“, fragten sie mich. Und um dem Mädchen
nur ein bisschen zu imponieren, sag ich:
„Wenns um diese Provinz auch ziemlich schlecht
steht,
ganz so mies ging es mir denn doch nicht, dass ich
nicht acht tüchtige Kerle kaufen konnte.“
Doch ich hatte nicht einen, hier nicht, dort nicht,
der ein klappriges Bettgestell auf seine
Schultern huckepack hätte nehmen können.
Und das schamlose Frauenzimmer sagt doch:
„Ach, mein lieber Catull, du könntest mir die
Träger bitte ein wenig leihn. Ich möchte
zu Serapis getragen werden.“ – Sag ich
zu ihr: „Warte, ich bin ganz durcheinander.
Sagte ich, sie gehören mir? Mein Freund, der
Gaius Cinna, verschaffte sich die Träger.
Seine, meine – was geht das mich an? Wirklich,
ich benutze sie so wie meine eignen.
Hab dich doch nicht so dämlich! Darf man sich von
dir denn nicht durcheinanderbringen lassen?“
46 Schon kommt wieder mit linder Luft der Frühling (lam ver egelidos refert tepores)
Sah man glücklicher je zwei Menschen, unter
solchen günstigen Zeichen ihre Liebe?
Schon kommt wieder mit linder Luft der Frühling,
schon besänftigt der zarte Hauch des Westwinds
unterm Himmel den Zorn der Frühjahrsstürme.
Lass die phrygischen Ebnen und das reiche
Land des heißen Nicaea nun, Catullus!
Flieg zu Asiens weltberühmten Städten!
Ungeduldig erwacht der Wunsch zu wandern,
freudig zucken die Füße schon vor Eifer.
Lebe wohl denn, du Kreis von lieben Freunden!
Aus der Heimat vereint weithergekommen,
ziehn wir nun auf getrennten Wegen heimwärts.
Erstmals 1985 veröffentlichte Volker Ebersbach im Verlag Neues Leben Berlin als Band 195 der Reihe „Spannend erzählt“ den historischen Roman „Gajus und die Gladiatoren“, auf dessen Rücktitel es heißt: „Gajus kommt nach Rom, voller Neugier, voller Erwartungen, aber auch voller Beunruhigung. Er hat schon einiges hinter sich, den Tod des Vaters, die schlimmen Jahre beim Onkel, den Aufstand in den Steinbrüchen von Luna. In Rom hofft er seinen Bruder wiederzufinden, der zum Schützling Kaiser Neros und zum größten unter den Gladiatoren aufgestiegen ist, und er hofft Eirene zu treffen, die er im Hause des Onkels kennengelernt hat und die nach Rom verkauft wurde. Doch statt Eirenes empfängt ihn Aganippe, die Nymphe, die jeder für Geld haben kann, und statt des Bruders zeigt ihm Longus, Mitglied des Vereins der Tagediebe, die prachtvollen Straßen. Als Gajus endlich Eirene wiedersieht, ist sie für ihn verloren, denn sie liebt einen anderen Mann. Und als er dem Bruder gegenübersteht, ist es in der Arena. Nach dem Brand von Rom, bei der Christenverfolgung, hat man auch Gajus verhaftet. Nun soll er mit seinem Bruder kämpfen, zum Vergnügen des Publikums.“ Und so beginnt der spannende Roman, dessen Handlung Leserinnen und Leser sofort zu fesseln vermag:
„I. Blutiger Marmor
An diesen Tag wird er sich immer wieder erinnern müssen. Im Morgengrauen ist er schon wach, bevor das Weckhorn mit seinen dumpf anschwellenden Rufen zwischen den Schlafbaracken die Runde macht. Denn er weiß, es wird kein gewöhnlicher Tag. Jupiter, den Allmächtigen, hat er am Abend zuvor gebeten, die Wahnwitzigen zu warnen. Zu Apollo, dem göttlichen Seher, dem Orakelkundigen, hat er gefleht, den thrakischen, judäischen, germanischen und anderen fremdländischen Sklaven Traumgesichte zu schicken, damit sie ihr Vorhaben aufgeben, vorerst wenigstens. Je näher er den Hornruf spürt, umso stärker klopft sein Herz. Sie schnarchen und pusten auf ihren Pritschen, wälzen sich noch einmal auf die andere Seite, so dass die Pfosten knarren, und drücken ihre Kohlfürze in die Strohsäcke, ohne eine Ahnung, wie viel Blut sie heute sehen werden. Wie es auch ausgehen mag, es wird viel Blut fließen. Das weiß Gajus. Unbegreiflich, dass er überhaupt Schlaf gefunden hat in dieser Nacht.
Er sieht, wie das erste, matte Tageslicht in der Luke Farbe gewinnt. Für ihn ist es nun zu spät. Jetzt können nur noch die Götter das Blutbad verhindern. Glaubt er an sie? Bis zu dieser Nacht hat er gedacht, dass er an die Götter glaube. Aber die Angst vor dem Weckhorn ist stärker als jeder Glaube. Warum, fragte er sich, bin ich nicht in der Dunkelheit hinüber zu den Sklavenbaracken geschlichen? Dort hat diese Nacht kaum jemand ruhig geschlafen. Ist es möglich, dass der Ablauf eines ganzen Tages von einem einzigen Menschen abhängt? Und der sollte diesmal ich gewesen sein? Aber auch die Wachen haben gewiss nicht geschlafen. Und wie sich Gardys, dem Thraker, bemerkbar machen oder Bacaeus, dem Judäer, oder auch nur Derxenus, dem Armenier, ohne dass ein Hund anschlägt, ohne dass ein Soldat die Ohren spitzt? Aber Worte sind rascher als Klingen. Ein einziger Ruf aus seiner Kehle, ehe man zuschlüge: „Alles ist entdeckt!“ oder: „Ihr seid erkannt!“ Hunderte von Menschen könnten diesen Tag überleben, der nun mit Sicherheit ihr letzter ist. Doch er, Gajus, wohl nicht.
Keine Ausrede hätte ihm geholfen. Nicht einmal dem findigen Longus, dem Meister der Ausrede, wäre da eine glaubwürdige eingefallen. Der Hand des Soldaten ist nicht zu entkommen. Auf die bohrenden Fragen des Verwalters gibt es keine ausweichende Antwort. – Nur ich weiß, wer ich bin. – Mit diesem Satz muss Gajus seit seiner Flucht aus Neapel leben. Er ist in den Marmorbrüchen von Luna ein Zugelaufener. Niemand kann ihm nachweisen, dass er ein Sklave sei; nicht jeder Sklave trägt in diesen Zeiten noch Brandmale. Besonders solche, die man in seinem Haus täglich um sich hat, verschont man damit, um sie nicht nutzlos zu verunzieren. Haussklaven genießen Vorrechte, die ihre Treue gewährleisten. Seit die Preise für Sklaven gesunken sind, ist Arbeit für Freie rar geworden, und schon mancher freigeborene Italiker, dessen Können niemand mehr mit einem täglichen Lohn bezahlen will, gab sich für ein Taschengeld in den Sklavenstand, um Brot und Nachtlager sicher zu haben. Für einen von denen könnte man ihn halten.
Als er kam, fragte niemand danach. Was er nirgends in ganz Italien mehr hatte finden können, in den Marmorbrüchen von Luna gab man es ihm: täglichen Lohn für tägliche Arbeit. Der Kaiser baut in Rom. Eine Unzahl von Marmorblöcken für Säulen und Pfeiler, Stufen und Platten, Reliefs und Statuen braucht er. Ein Heer von Sklaven haut sie aus dem angeschnittenen Berg, schlägt sie zurecht nach Maß und karrt sie weg. Aber es ist nicht gut, so viele Sklaven an einem Ort schuften zu lassen, auch wenn sie aus allen Völkerschaften zusammengewürfelt sind. Sie begehren wieder und wieder auf gegen die römischen Feldzeichen: Thraker, Britannier, Germanen, Judäer, Armenier. Leichter wird es für die Aufseher, wenn zwischen den Sklaven Freie arbeiten. Sie drängen sich danach, da so viele sich brotlos herumtreiben. Den Sklaven sind sie ohnehin nicht gewogen, da sie ihnen überall die Arbeit wegnehmen. Man braucht nur mit etwas besserem Futter ihren Dünkel ein wenig zu nähren, und die .Aufseher haben ein Netz von kleinen Aufpassern in Händen, das eine Hundemeute ersetzt.
Gajus schließt die Augen. Diesen Tag will er nicht sehen. Hätte er die Sklaven gewarnt, hätte er wenigstens in eine der Baracken halblaut gerufen, dass ihre geplante Erhebung kein Geheimnis mehr ist, und sich dann, war es schon nicht mehr zu vermeiden, von der Wache fassen lassen – der Tag wäre ihm nicht so verhasst. Warum bleibt das Weckhorn so lange aus? Halten sie es nicht mehr für nötig, zu tun, als wüssten sie nichts? Oder zieht sich die Zeit nur hin wie immer, wenn man etwas Bestimmtes erwartet?
Gajus hat Tag für Tag von Gardys, dem Thraker, die zugehauenen Blöcke in Empfang genommen, hat sie, in Seile verzurrt, auf Holzrollen niedergelassen und zusammen mit Bacaeus, dem Judäer, den flachen Schutthang hinunterbugsiert. Derxenus, der Armenier, ist jedes Mal zurückgeblieben, um die Holzrollen aufzuheben und vorn wieder unterzulegen. Täglich heiße Sonne, täglich ein längerer Weg, täglich schwerere Blöcke, aber weder mehr Wasser noch in der Kohlsuppe mehr Fett. Die Striemen und Blasen, die von den Seilen und Kanten in der Haut zurückblieben, an Händen und Armen und über den Schultern, sind immer wieder frisch aufgerissen. Jeder Marmorblock wurde feucht von Schweiß, und mancher nahm bräunlich verkrustetes Blut mit auf den Weg nach Rom, Blut von Gardys, dem Thraker, von Bacaeus, dem Judäer, von Derxenus, dem Armenier, Sklavenblut, und Blut von Gajus, dem Freigeborenen, dem das römische Bürgerrecht zusteht, er kann es nur nicht beweisen; denn sein Name ist noch nirgends eingetragen. Nur in der Steuerliste von Neapel steht er mit dem Vermerk „Mündel“ unter dem seines Onkels Gnaeus. Doch dem ist er davongelaufen, um endlich frei zu sein, wie er geboren wurde. Dem Blut an den rohen, scharfkantigen Marmorblöcken ist nicht anzusehen, ob es aus freien oder unfreien Adern floss.
Gajus bekommt täglich eine schlechte Kupfermünze, dünn wie Blech, mit dem Porträt des Imperators Lucius Domitius Nero. Der Kaiser ist großzügig. Der Kaiser baut. Der Kaiser gibt gern und hat deshalb viele Freunde, und sie alle bauen, sie alle bestellen den Marmor in Luna, der so gut ist wie der von Paros, aber billiger. So nagen mehr eisenbestückte Hände als je zuvor in dem aufgeschnittenen Berg von Luna. Die Staubwolke senkt sich erst bei Einbruch der Dunkelheit, und wenn der letzte Tagesschein hinter dem Ligurischen Meer schwindet, leuchten noch in mondener Helle die schweigenden Marmorwände.
Die Sklaven bekommen nur Strohsack, Essen und Trinken. Sie arbeiten in klirrenden Ketten. Eine Münze dürfen sie sich nicht einmal schenken lassen. In ihrem lumpigen Schurz hätten sie auch gar keine Tasche, um sie zu verstecken. Ihre Bewegungen sind langsamer wegen der Ketten. Doch Gajus scheint es mitunter, dass Derxenus auch mit der Kette ein wenig schneller hangab laufen könnte, dass die Seile nicht so in seine Schulter zu schneiden brauchten, wenn Bacaeus aufhören würde, mit dem Kopf zu wackeln und seinen alleinigen Gott anzurufen, dass Gardys den Block, wenn er ihn abliefert, eine Spur sanfter ins Seil kippen lassen könnte. Derxenus lässt oft die Holzrolle los, ehe der Quader aufliegt. Sie rollt fort, er muss hinterherlaufen, und alle haben eine Pause.
Allmählich hat Gajus verstanden, dass Fleiß und Sorgfalt keineswegs Tugenden sind für Menschen, denen ihre Arbeit nichts einbringt. Doch dieses Verständnis hilft wenig, wenn wegen der Schlamperei der Sklaven manchmal die Härte der Arbeit ihn mehr trifft als sie. In Reichweite der Peitschen, mit denen die sparsam postierten Aufseher wedeln, kann Bacaeus sehr gut seinen Teil der Last übernehmen und Derxenus behände mit seinen Hölzern vorausspringen. Und Gardys ist ein wahrer Künstler im Abkippen eines behauenen Quaders, sobald ihm jemand zuschaut, der einen Riemen in der Hand hält.
Manche unter den Freien beschweren sich laut über das faule Sklavenpack, sobald ihnen ihr Anteil an der Arbeit zu groß erscheint. Einige schwärzen die Sklaven aus ihrer Nähe sogar grundlos an, um sich bei ihnen Respekt zu verschaffen. Es macht ihnen nichts aus, verhasst zu sein, wenn man sie nur fürchtet. Sie sind deshalb auch bei den anderen Freien nicht beliebt. Aber niemand tut ihnen etwas, denn sobald einer Streit mit einem Freien hat, schwärzt er auch den Freien an. Es gibt wenige dieser Art, diese wenigen jedoch sind eine Macht, weil sie gnadenlos verfahren und keine Ausnahme kennen. Sie bekommen am Monatsende eine Silbermünze, mit der sie bei den Bauern der Umgebung bessere Lebensmittel kaufen und bei den Handwerkern Geräte bestellen können, die das tägliche Leben erleichtern: Holzschüsseln, Bronzebecher, Kämme, Schuhwerk, Gürtel, Kappen, Waschzuber. Sie haben Posten, an denen fast nie ein Unfall vorkommt. Sie geben sich als Prügelknechte her. Ihre Peitschen haben auch manchem Freien schon den Rücken zerrissen, und sie antworten lieber mit der Faust als mit dem Wort.“
Und dann passiert etwas unerwartet-Erwartetes (erwartet zumindest von Eingeweihten), das das Leben auch von Gajus völlig auf den Kopf stellen und in eine andere Richtung drängen wird. Und diese Richtung heißt Rom, die Stadt aller Städte. Gajas bekommt Gelegenheit, sowohl seinen Bruder als auch Eirene wiederzusehen – allerdings unter ganz anderen Umständen als er wohl gedacht hat. Und der sieht und lernt noch jede Menge anderer Leute kennen. Und das ist eine gute Glegenheit für Leserinnen und Leser, sich mit Gajus, seinen Freunden und Feinden, in der antiken Welt herumzutreiben und ganz nebenbei sowie ebenso unaufdringlich und spannend mitzuerleben, wie es damals dort wohl zugegangen ist. Und selbst Kaiser Nero sind Gajus und wir heutigen Zuschauer einmal ganz nah, gefährlich nah sogar. Steigen Sie ein, in die Zeitmaschine und fliegen Sie mit nach Rom vor 1958 Jahren …
Einen guten Flug, viel Vergnügen beim Lesen, einen schönen April und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
Ach, und wie hat Ihnen die Musik von Bach gefallen, also die von Carl Philipp Emanuel Bach?