Gleich zwei Mal ist in diesem Newsletter Gerhart Branstner vertreten, dieser Philosoph und Advokat der Heiterkeit – zum einen mit seiner Sammlung heiterer Spiele „Der Himmel fällt aus den Wolken“ und zum anderen mit seiner an den berühmten Äsop erinnernden Tierfabelsammlung „Der Esel als Amtmann“.
Zugleich Autobiografie und Reflektion seiner eigenen Lebensgeschichte sowie Reisebericht und Auseinandersetzung mit einer psychosomatischen Erkrankung ist „Der Seele ungeheure Kluft. Leben, Reisen und Schicksal des Gil B. frei nach dem deutschen Gil Blas des Johann Christoph Sachse und einem Vorwort von J.W v. Goethe“ von Gilbert Belo.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Das heutige Buch befasst sich mit einem leider wieder aktuell gewordenem Thema, mit dem Thema Antisemitismus und Rassismus. „Warum hassen eigentlich die Nazis die Juden?“, wird der Erzähler gefragt. Von dieser Frage überrascht antwortet der jüdische Junge: „Ich weiß nicht“, sagte ich ratlos. „Ich weiß es wirklich nicht.“ Und welche Antworten haben wir heute? Wo kommt er her, dieser neue Antisemitismus, dieser neue Rassismus?
„Stefan – Jenseits der Kindheit“ von Walter Kaufmann – die deutsche Druckausgabe dieser Erinnerungen erschien erstmals 1966 in der Edition Holz des Kinderbuchverlages Berlin – damals noch unter dem Titel „Stefan – Mosaik einer Kindheit“. Dabei handelte es sich um die Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Helga Zimnik (Originaltitel: „Beyond The Green World of Childhood“). Ergänzt um drei weitere Erzählungen erschien das Buch 1985 neu im selben Verlag, jetzt aber unter dem Titel „Jenseits der Kindheit“: Stefan – das ist Walter Kaufmann, der als Kind jüdischer Adoptiveltern mit viel Glück vor den Nazis aus Deutschland fliehen konnte, zunächst nach England, dann nach Australien. Aus der Sicht des jüdischen Jungen Stefan erfahren wir vom Alltag in Deutschland und von den wachsenden Schikanen gegenüber den Juden, aber auch von Solidarität, von der Flucht nach England und von seiner Deportation nach Australien: „Sie erreichten das Lager lange nachdem sie von weit her die Wachtürme gesichtet hatten, und als sich hinter ihnen die drei Stacheldrahttore schlossen, empfanden sie die massiven Holzbaracken des Lagers wie eine Zuflucht vor der Wüste.“ Dort, in der australischen Wüste gehen Kindheit und Jugend von Stefan zu Ende. Die folgende Episode vom Anfang des Buches spielt noch in Deutschland, in dem allerdings schon die Nazis an die Macht gelangt waren:
„Für Rebekka, meine Tochter
DIE EINFACHEN DINGE
1
Georg ist noch immer mein Freund. Das mag seltsam klingen, denn Georg ist nirgends, wo ich ihm die Hand reichen könnte. Ein halbes Leben trennt uns voneinander. Vielleicht ist er schon lange tot. Er ist noch immer mein Freund - in einem symbolischen Sinn. Ich erinnere mich noch genau: Ich war elf Jahre alt, und Georg wartete stets am Ende unserer Straße auf mich. Er wollte nicht zu mir nach Hause kommen. Hielt sein Stolz ihn zurück, oder war es nur Schüchternheit, oder fürchtete er sich gar, in eine ihm fremde Welt einzudringen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich draußen mit Georg traf und dies hinter mir ließ:
Unser Haus, das man über eine steinerne Treppe erreichte; an der Eingangstür eine elektrische Klingel, deren Läuten hell durch den Vorraum tönte. Auf ihren Ruf hin eilte Käte, das Dienstmädchen, herbei; Teppiche dämpften ihre Schritte; hinter ihr schwangen Glastüren zurück, mit einem Geräusch, als würde Luft aus einem Schacht gesogen. Sie öffnete die Haustür und ließ die Besucher ein in die zurückhaltende Ruhe des Hauses - führte sie ins Arbeitszimmer oder in Vaters große Bibliothek, die seinen Ernst und seinen Ordnungssinn erkennen ließ, oder, falls der Gast zur Mutter wollte, in das lichte, luftige Frühstückszimmer mit den Landschaftsaquarellen in schlichten Rahmen, den Vitrinen mit Mutters Porzellansammlung, zerbrechlichen gelben Stühlen und Tischen und breiten, zum Garten hinausgehenden Fenstern, durch die die Morgensonne hereinflutete. Ich schlug die Haustür hinter mir zu, dass es durch den Flur hallte, sprang die Steintreppe hinunter und rannte die Straße entlang, bis ich - atemlos - an der Ecke auf Georg stieß.
„Hallo“, begrüßte ich ihn. „Ich wusste, dass du da sein würdest.“
„Ja“, sagte Georg. „Magst du Kastanien?“ Er griff in die Taschen und holte große braune Kastanien heraus, die er von einer Hand in die andere warf.
„Fein!“, rief ich. „Wir wollen sie rösten.“
„Gut“, stimmte er zu.
Dann zogen wir los; Georg schob die Hände in die Taschen, damit die Kastanien nicht herausfielen. Sein dunkles Haar war vom Wind zerzaust, das Hemd über der Brust geöffnet. Seite an Seite trabten wir durch die Straßen dem Walde zu.
*
Wenn ich heute an Georg denke und mir jene fernen Tage meiner Kindheit ins Gedächtnis zurückrufe, formen sich vor meinen Augen aus vielen bunten Erinnerungen feste Bilder. Und diese Bilder zeigen unsere Freundschaft, die jetzt für mich eine neue Bedeutung gewinnt.
*
Wir beide hockten vor einem kleinen Feuer, das wir auf einer Lichtung im Wald angezündet hatten, schwiegen eine ganze Weile und sahen zu, wie die Kastanien rösteten und dunkler wurden, die Schalen knackten in der Hitze.
Rings um uns waren Bäume, Eichen und Ulmen und Birken, durch die Wipfel schimmerten Flecken vom klaren Himmel, die Sonnenstrahlen stachen durch die leise zitternden Blätter. Georg unterhielt das Feuer mit trockenen Zweigen, und ich wendete die Kastanien in den Flammen um.
Schließlich brach Georg das Schweigen. „Vater erlaubt mir nicht, in die Hitlerjugend einzutreten, ganz gleich, was geschieht.“
„Willst du denn eintreten?“, fragte ich. „Du weißt ja, mich würden sie nicht nehmen.“
„Das ist was anderes. Du bist ein Jude.“
„Auch wenn ich kein Jude wäre, würde ich nicht eintreten, denn ich lasse mich nicht herumkommandieren.“
„Ich auch nicht.“
„Warum redest du dann überhaupt davon?“
„In der Schule hacken sie auf dir herum, wenn du nicht dabei bist.“
„Na und, Georg?“, fragte ich.
„Verdammt, Stefan, du bist schwer von Begriff!“
Er angelte sich eine Kastanie aus dem Feuer, schälte sie und biss ein Stück ab.
„Warum hassen eigentlich die Nazis die Juden?“, fragte er plötzlich, als ob er die ganze Zeit darüber nachgedacht hätte.
Die Frage traf mich wie ein Schlag. Ich wusste, die Nazis hassten uns, aber niemand hatte mir je erklärt, aus welchem Grunde sie uns hassten. Jetzt, da ich Georgs Frage nicht beantworten konnte, verwirrte mich meine Unwissenheit.
„Ich weiß nicht“, sagte ich ratlos. „Ich weiß es wirklich nicht.“
Einen Augenblick lang sah mich Georg prüfend an. Dann schob er mir eine Kastanie zu und sagte: „Denk nicht mehr daran, denk einfach nicht daran. Wenn sie dich hassen, will ich nichts mit ihnen zu tun haben. Wir sind doch Freunde, nicht wahr?“ Und dann mit Nachdruck: „Oder nicht?“´ Und damit zur ausführlicheren Vorstellung der anderen Angebote dieses Newsletters:
Erstmals 1977 veröffentlichte Gerhard Branstner im Buchverlag Der Morgen „Der Himmel fällt aus den Wolken. Heitere Spiele dargestellt als eingebildete Aufführungen und wohlmeinend glossiert von zwei nicht minder eingebildeten Herren“: Fünf heitere Stücke über das antike Griechenland, den Schalk in einem orientalischen Märchen, einer Gerichtsverhandlung gegen und mit Abraham im Himmel, eine gespalten-vereinte Familie in Fragen der Liebe und einen Roboter, der das Familienleben aufmischt. Ein tiefsinniger Humor eint alle kurzweilig zu lesenden Stücke, die am Ende von zwei Theaterkritikern kommentiert werden, die sie als Lehrstücke nutzen. Ein Lesevergnügen der besonderen Art. Begeben wir uns ins zweite Stück und damit ins Morgenland:
„Der Tag des Schalks
ein orientalisches Märchenspiel
Da die Herren A und B diesmal nicht per Zufall, sondern auf Abrede nebeneinander zu sitzen kamen, kamen sie auch sogleich ins Gespräch.
„Mir sind“, sagte Herr A, „Ihre Ausführungen über unseren Autor nicht aus dem Kopf gegangen.“
„Sehr freundlich von Ihnen“, meinte Herr B.
„Und ich bin zu dem Schluss gekommen“, fuhr Herr A unbeirrt fort, „dass Sie den Mann näher als nur durch seine Stücke kennen.“
„Darin haben Sie recht“, bestätigte Herr B, „ich bin, in gewissem Sinne, sein Sekretär.“
„Interessant!“, rief Herr A. „Da können Sie mir gewiss sagen …“
Doch Herr B legte den Finger auf den Mund, dann deutete er zur Bühne: „Die Vorstellung beginnt.“
Sie beginnt mit einem Vorspiel. Machmud und Mustafo, zwei ebenso ärmlich wie bunt gekleidete Gesellen, kommen bei geschlossenem Vorhang auf die Vorbühne. Sie haben die Arme hochgereckt und die Zipfel eines Tuches gefasst, so dass eine Art Baldachin gebildet wird. Unter diesem läuft, lustig die Fiedel streichend, der in ebenso bunte Flicken gekleidete Achmed. In der Mitte der Vorbühne angelangt, tritt er unter dem Baldachin hervor, ohne sein Spiel zu unterbrechen. Machmud und Mustafo breiten das Tuch auf dem Boden aus, es ist ein Schachtuch. Die beiden holen in der Art der Zauberkünstler Schachfiguren aus den Taschen ihrer Kleider und stellen sie auf. Das Spiel beginnt. Achmed schaut hin und wieder auf die Figuren und gibt seinen Senf dazu, auch durch die Art, wie er die Geige spielt. Machmud lobt seine und Mustafos Beschäftigung mit ironisch gefärbtem Pathos:
„Schach, das Spiel der Könige!“
„Und der Bettler“, ergänzt Mustafo.
„Immer aber“, meint Machmud, „das Spiel der Nichtstuer.“
„Oder der Nichtskönner“, spöttelt Achmed.
„Das trifft die Könige“, entgegnet Mustafo.
„Und die Bettler“, behauptet Achmed.
„Das trifft sich gut“, sagt Machmud. „Ob König oder Bettler: Wer nichts kann, soll auch nichts tun. Wo Dummheit sich mit Faulheit paart, da bleibt der größte Schad’ erspart.“
„Denn: Dummheit und Fleiß kost’ hohen Preis“, setzt Mustafo hinzu.
„So heißt es und so ist es“, bestätigt Machmud. „Die faule Dummheit ist - beinah eine Tugend, die fleißige aber gewiss ein Laster.“
Achmed weist mit dem Fiedelbogen auf Machmuds Figuren: „Setz den Turm zum König, sonst bist du beim nächsten Zug matt.“
„Du darfst Machmud nicht helfen“, ruft Mustafo. „Wie soll ich gegen ihn gewinnen, wenn er klüger spielt, als er ist!“
„Er spielt noch immer dumm genug“, erklärt Achmed.
Machmud widerspricht: „He du, spiel dich nicht auf! Auch wenn im Schach und Geigenspiel du Meister bist und ich in beiden eine Null; was Witz und Weisheit anbelangt, davon hab ich genug und mehr als du!“
„Hoho, das käm auf eine Probe an!“, ruft Mustafo aus.
„Eine Probe?“, fragt Machmud, „was soll eine Probe da beweisen?“
„Du prahlst mit deinem Witz“, spottet Achmed, „und hast nicht einmal Witz genug, dir aus den Folgen deiner Prahlerei zu helfen.“
Machmud, nach kurzem Besinnen: „Nun gut, ich nehme mich beim Wort: Bevor die Sonne Mittag zeigt, bin ich, als Zeichen meines Witzes, was hier im Land nur einer ist!“
Mustafo glaubt nicht recht verstanden zu haben. „Im Land nur einer? Kalif ist nur einer!“
„Du sagst es“, bestätigt Machmud selbstgefällig.
„Du willst noch heute König sein? Ein Schalk auf des Kalifen Thron!“
Machmud lacht. „Das eben ist der Witz.“
„Ein Witz, nicht mehr“, meint Achmed.
„Ein Witz und doch mein voller Ernst - bei meiner Ehre.“
Jetzt lacht auch Achmed. „Das ist bei allerhand.“
„Und bei nicht eben viel“, meint Mustafo.
„Ihr habt mein Wort, noch heute bin ich König. Und du, Achmed, musst mir dabei den Affen machen. Und Mustafo, du machst den Affenführer!“
Achmed ist empört. „Ich soll den Affen machen?“
„Kein lausiger, ein hochbegabter Affe sollst du sein“, erklärt Machmud.
„Und ich der Affenführer?“ fragt Mustafo verständnislos.
„Dir scheint der Wechsel wohl zu schroff, sonst selber Affe - und jetzt Affenführer.“
Mustafo will aufbegehren, doch Achmed kommt ihm zuvor. Zu Machmud erklärt er: „Mach dir den Affen selber!“
„Und wenn ich dich im Schach besiege, machst du mir dann den Affen?“
„Du mich im Schach besiegen?“, ruft Achmed ungläubig. „Da müsste ich bei Gott ein Affe sein!“
Machmud: „Die Wette gilt?“
Achmed bestätigt: „Bei Allah!“
Alle: „Bei Allah!“
Achmed reicht Mustafo die Geige und stellt die Figuren neu auf. Machmud zu Mustafo: „Gib mir die Geige!“
Achmed hat die Figuren aufgestellt und macht den ersten Zug. „Was soll die Geige bei dem Spiel?“
„Sie spielt ein wenig mit.“ Machmud geigt zum Gotterbarmen.
Achmed, mit qualvollem Gesicht: „Du bist wahrhaft von Gott begnadet, ein seltenes Naturtalent. Die Geige und das Schach beherrschst du gleichermaßen.“
„Und zu gleicher Zeit. Darauf kommt es an“, erklärt Machmud.
„He, Achmed“, ruft Mustafo, „wohin des Wegs mit deinem Pferd?“
Machmud spielt lauter, damit Achmed Mustafo nicht verstehen kann.
Achmed, zu Mustafo: „Was sagtest du?“
„Er lobt mein Geigenspiel“, sagt Machmud schnell und spielt noch lauter.“
Bereits ein Jahr zuvor war von Gerhard Branstner ebenfalls im Buchverlag Der Morgen Berlin die Fabel-Sammlung „Der Esel als Amtmann oder Das Tier ist auch nur ein Mensch“ erschienen: In diesen Tierfabeln nimmt der Autor menschliche Schwächen aufs Korn. Immer wieder reibt er sich an der Dummheit und Überheblichkeit der Herrschenden und den Jasagern unter seinen Untertanen. 1976, dem Jahr des IX. Parteitags der SED und dem vielleicht ersten Jahr des späteren Untergangs der DDR, dem Anfang von ihrem Ende gewissermaßen, erschienen, wurden auf humorvolle Weise die Mächtigen in der DDR kritisiert. Aber auch einige Jahrzehnte später hat sich (auch ohne DDR) nichts zum Positiven verändert. Hören wir mal rein:
„Ohne Wahrheit ist die Kunst,
was die Pflaume ohne Wurm:
ein Ding,
worüber sich kein Mensch aufregt
Missgeachtet lebt sich's schwer, unbeachtet noch viel mehr
Ein Elefant war auf seine alten Tage bösartig geworden, sodass die übrigen Tiere sich nicht anders zu helfen wussten und seinen Tod beschlossen. Es setzte einen fürchterlichen Kampf, aber endlich lag der Riese gefällt am Boden. Da kam ein Karnickel angerannt und schlug wie wahnsinnig auf den toten Elefanten ein.
Auf die verwunderte Frage der Schildkröte, weshalb es noch auf den Toten einschlage, wo es doch das einzige Wesen sei, dem der Elefant zu Lebzeiten nie etwas getan habe, rief das Karnickel: Das ist es ja gerade, was mich so wütend macht!
Wer Furcht hat, sich zu schneiden, schabt sich den Bart von Weitem
Der Igel war zu einer Hasenhochzeit geladen worden, und um sich der Ehre würdig zu zeigen, beschloss er, sich zu rasieren. Da er aber fürchtete, sich zu schneiden, führte er das Rasiermesser in so weitem Abstand, dass es die Borsten nicht einmal berührte.
Als er das Messer beiseitelegte, meinte die Frau des Igels: Du hast dich zwar nicht geschnitten, rasiert bist du aber auch nicht.
Ich hatte zwischen zwei Übeln zu wählen, entgegnete der Igel, und ich habe mich für das kleinere entschieden.
Klugheit und Mut wohnen unter einem Hut
Dem Löwen war ein Junges entlaufen, und er befürchtete, dass es einem anderen Raubtier zum Opfer fallen könnte.
Da kam das Wiesel gelaufen und sagte dem Löwen: Dein Junges wurde gefunden; es ist wohlauf und wird noch heute von der Hyäne zurückgebracht.
Über die frohe Nachricht geriet der Löwe außer sich und soff sich einen gewaltigen Rausch an. Als er so voll war, dass er nicht mehr auf den Beinen stehen konnte und unanständige Lieder zu singen begann, brachte die Hyäne das Löwenjunge, es war aber tot. Der Löwe brauchte in seinem Schumm einige Zeit, bis er das begriffen hatte. Na warte! drohte er jetzt dem Wiesel, wenn ich wieder auf den Beinen stehen kann, sollst du die Lüge büßen.
Die Lüge hat dich, entgegnete das Wiesel, in einen Zustand versetzt, in dem du die Wahrheit ertragen konntest; was soll ich da büßen?
Als der Löwe wieder nüchtern war, sagte er zu dem Wiesel: Du warst nicht nur klug, du warst auch mutig. Hätte ich die Wahrheit erfahren, als ich noch einigermaßen auf den Beinen stehen konnte, wäre es um dich geschehen gewesen.
In einem komplizierten Fall ist das Urteil oft formal
Der Seehund hatte seine Fressalien in einen Sack gesteckt und ging davon, um ein Bad zu nehmen. Da kam der Pinguin und machte sich über die Fressalien her; da er sich aber zu lange damit aufhielt, wurde er von dem zurückkehrenden Seehund überrascht. Um nicht entdeckt zu werden, schlüpfte der Pinguin in den Sack. Der Seehund besah sich den Sack, nahm einen Knüttel und schlug kräftig drauf ein. Endlich schlüpfte der Pinguin heraus, lief zum Delfin und bestellte ihn zum Richter über den Fall.
Ich habe, erklärte er, den Seehund höchstens um zwei Pfund Fressalien gebracht, dafür hat er mir mindestens zweihundert Pfund Prügel verabreicht. Und so was ist nicht gerecht.
Wir werden sehen, meinte der Delfin und befragte den Seehund. Der aber sagte: Ich kam aus dem Wasser und wollte mir, um mich zu erwärmen, ein wenig Bewegung machen. Da habe ich auf den Sack eingeschlagen. Mit meinem Sack kann ich ja wohl machen, was ich will.
Was sagst du jetzt? fragte der Delfin den Pinguin. Irgendwie hat der Seehund recht, meinte der Pinguin kleinlaut, irgendwie hat er aber auch nicht recht.
Na schön, sagte der Delfin, da können wir auch nur irgendwie Recht sprechen. Das Urteil lautet: Der Pinguin darf dem Seehund die überzähligen Prügel zurückerstatten, aber nur dann, wenn der Seehund in einem Sack steckt, der dem Pinguin gehört.
Die Schwächen der Schwachen sind die Stärke des Drachen
Zwei Hunde mussten am Hofe des Tigers die niedersten Dienste verrichten, bekamen dafür aber nicht einmal einen Knochen zu sehen.
Wenn wir uns zusammentun, sagte der eine Hund zum anderen, können wir den Tiger bezwingen und sind unserer Knechtschaft ledig. Der andere Hund war einverstanden, meinte jedoch, dass sie die Unterstützung des Schlosshundes nötig hätten.
Der Schlosshund tat auch so, als sei er mit dem Plane einverstanden. Da er aber befürchtete, die gemeinen Hunde könnten an die Macht kommen, unterrichtete er seinen Herrn und riet ihm, den beiden Hunden einige Knochen hinzuwerfen, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Der Tiger aber kannte die beiden besser und warf ihnen nur einen Knochen hin.
Wer den Mörder verschont, wird mit Leichen belohnt
Der Wolf war in eine tiefe Grube gestürzt und rief um Hilfe. Das hörte ein Lamm, und weil der Wolf ihm leid tat, suchte es eine lange Wurzel, an der sich der Wolf aus der Grube zog. Statt sich aber bei dem Lamm zu bedanken, fiel er sogleich über es her, um es zu fressen. Das Lamm zeterte laut über die Undankbarkeit des Wolfes, der Wolf aber setzte dagegen, dass es widersinnig sei, gerettet zu werden, um dann Hungers zu sterben. Diese Antwort verwirrte das Lamm, und als ein kleiner Hund daherkam, bat das Lamm ihn, die Sache zu entscheiden.
Der wird schon wissen, was ihn erwartet, wenn er nicht für mich stimmt, dachte der Wolf und war damit einverstanden, dass der Hund den Richter machte.
Der Hund überlegte eine Weile, dann sagte er: Wer einen Wolf rettet, verdient auch, von ihm gefressen zu werden. Und damit stieß der Hund das Lamm in die Grube.
Der Wolf bedankte sich für den klugen Richterspruch, sprang dem Lamm nach und machte sich über es her.
Du musst sterben, sagte der Hund zu dem Lamm, damit deinesgleichen am Leben bleibt. Und flugs zog er die Wurzel aus der Grube und zerbiss sie in kleine Stücke.
Wer oben sitzt, sieht niemals alles, am wenigsten im Fall des Falles
Der Adler baute seinen Horst auf einer alten Eiche, obwohl der Maulwurf ihn davor gewarnt hatte. Der Baum war wurzelkrank, und das konnte nur der Maulwurf wissen. Schon beim nächsten Sturm brach die Eiche und erschlug die jungen Adler.
Es war ein Fehler, sagte der Adler, dass ich auf den Maulwurf nicht gehört habe. Ein noch größerer Fehler aber wäre es gewesen, hätte ich auf ihn gehört. Das hätte ein schlechtes Beispiel gegeben, und alle Maulwürfe würden sich fortan erdreisten, uns Ratschläge zu erteilen. Wo bliebe da der Adler?“
Erstmals 2007 veröffentlichte ein gewisser Gilbert Belo in der SalemEdition „Der Seele ungeheure Kluft. Leben, Reisen und Schicksal des Gil B. frei nach dem deutschen Gil Blas des Johann Christoph Sachse und einem Vorwort von J.W v. Goethe“: Gilbert Belo reflektiert seine eigene Lebensgeschichte, sein Buch ist zugleich Autobiografie, Reisebericht und Auseinandersetzung mit seiner psychosomatischen Erkrankung. Er schlägt den Bogen von Gil B.`s „Erstem Leben, das im dritten Jahr des mörderischsten aller Kriege, im Kreißsaal eines Kölner Krankenhauses“, beginnt, bis zur Wiedergeburt: „Annähernd zwei Jahre müssen vergehen, bis ich Entscheidungen so treffen kann, dass die alten Bilder nicht wiederkommen und allmählich ganz verschwinden. Wir werden nicht versuchen herauszufinden, was schlussendlich das Entscheidende war, das dazu geführt hat. Wichtig ist, dass ich weiß: Nun bin ich in der Lage durchzuhalten, wenn meine Seele und mein Verstand ja sagen, und kann darauf bauen, dass im gegebenen Augenblick das Richtige geschieht.“ Zuvor lässt Gil B. den Leser teilhaben an dem, was er an Höhen und Tiefen in seinem Leben gesehen hat, seine Versuche, die Tiefen zu überwinden. Zum Beispiel durch Reisen, um die Brücke zum Gil Blas des Johann Christoph Sachse zu schlagen. Die Lebensgeschichte des Gilbert Belo entwickelt sich zum Reisebericht, zur Schilderung seiner Abenteuer und Begegnungen mit fremden Kulturen, um dann plötzlich zur Offenlegung seiner psychosomatischen Störung zu werden. Bis zu dem Punkt, an dem es vermeintlich nicht mehr weitergeht: „Doch auch das nützt nichts, die Ängste zerreißen meine Gedanken, sie lassen sich nicht abstellen. Ich bin am Ende, auf knapp 60 Kilo zusammengeschrumpft, und eigentlich zu keiner Willensentscheidung mehr fähig.“ Dass es doch weitergeht, zeigt das Buch, das Gilbert Belo geschrieben hat. Darüber sagt er selbst: „Ich habe meine Ängste aufgeschrieben und ein Buch daraus gemacht, damit möglichst viele lesen können, dass es einen Weg aus der Angst gibt.“ Das macht Hoffnung für alle, die in ähnlicher Situation sind, wie es Gilbert Belo war. Denn „Gil B. ist auf seinem guten Wege“, schreibt Beate Pottmann-Knapp, Psychotherapeutin für Logotherapie und Existenzanalyse, in der Schlussbetrachtung von „Der Seele ungeheure Kluft“. Und hier wird zunächst noch einmal der Geheimrath aus Weimar zitiert und das Vorwort präsentiert, in dem sich der Autor zu dem historischen Gil Blas in eine produktive Beziehung setzt:
„Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Bewusstsein eigner Gesinnungen und Gedanken, das Erkennen seiner selbst.“
Goethe, Morgenblatt für gebildete Stände
Vorwort
Der deutsche Gil Blas und ich
Auf der Suche nach einer Idee für meine Lebensgeschichte kommt mir ein altes Buch mit dem Titel „Der deutsche Gil Blas“ in die Hände, 1822 gedruckt und mit einem Vorwort von Goethe versehen. Das macht mich gleich dreifach neugierig: Erstens kenne ich den Gil Blas de Santillane des französischen Schriftstellers Lesage aus dem Jahre 1720, eines „Dieners vieler Herren“, den der Autor die unterschiedlichsten Abenteuer in diversen gesellschaftlichen Schichten erleben lässt, um diesen gleichermaßen einen Spiegel vorzuhalten. Dazu gehören selbstredend auch Amouren, wie die Geschichte seiner Liebe zur Dame Lorenca Sephora; Gil Blas hofft, von der Tochter seines Herrn erhört zu werden, damit er „… von Liebesqualen – gleich Qualen des Tantalus – durch ein Elysium des Genusses erlöst werde.“
Zweitens kann ich kaum glauben, dass diese Romane dem Autor des „deutschen Gil Blas“ bekannt waren, geschweige denn, dass er sie vor Augen hatte, als er seine Memoiren schrieb. Der deutsche Titel trägt unzweifelhaft Goethes Handschrift und ich bin gespannt, ob die geschilderten Erlebnisse an das Original erinnern.
Das Dritte ist Goethes Präambel! Stellen Sie sich vor, Sie wollen von Ihrem Leben berichten, können auch ganz gut erzählen, aber so richtig romanhaft will es nicht klingen. Da entschließen Sie sich, Ihren literarisch bewanderten Chef zu bitten, er möge doch so nett sein und mal drüberschauen. Der hat Verständnis für diesen Wunsch, liest das ihm vorgelegte Werk, korrigiert hier und da, stellt Sätze und Kapitel richtig, schreibt eigenhändig ein Vorwort und empfiehlt anschließend seinem Verleger, es zu drucken. Sicherlich nicht alltäglich, zumal dann, wenn es sich bei dem Vorgesetzten um Johann Wolfgang von Goethe handelt, seinerzeit Minister bei Herzog Ernst August von Sachsen-Weimar und zuständig für Theater und Kultur, gemeinhin als der größte deutsche Dichter bekannt. Dieser menschenfreundliche Akt veranlasst mich, sofort mit der Lektüre des Buches zu beginnen, von dem wohl niemand jemals etwas erfahren hätte, wäre da nicht Goethe gewesen.
Mit bürgerlichem Namen Johann Christoph Sachse, wurde der Autor 1761 in den Wirren des siebenjährigen Kriegs, bei dem es zwischen Breslau, Lobositz, Prag, Hoyerswerda und Krefeld zu 28 sinnlosen Schlachten zwischen Preußen, Österreich und Russland einerseits und Frankreich andererseits gekommen war und Preußen alleine an die zweihunderttausend Mann verheizt hatte, in dem kleinen thüringisch-sächsischen Dorf Lobstädt bei Gotha geboren. Sein Vater hatte in der hannoverschen Armee gedient und kehrte nach Kriegsende „… mit reicher Beute, d.h. einer abgetragenen Uniform, einem Degen, einem alten Pfeifenkopf und leerem Tornister“ nach Hause zurück.
Er berichtet von einer äußerst unglücklichen familiären Situation während seiner Kindheit, die ihn im Alter von 10 Jahren zum ersten Mal auf die Straße treibt. Es folgt eine andauernde Not, zahlreiche Unfälle kommen erschwerend hinzu, und kurze Zeit später sieht man ihn als Bauerngehilfe beim Viehhüten im heutigen Niedersachsen. Von hier treibt es ihn über Hannover und Hamburg nach Stade, wo er Diener bürgerlicher Herrschaften wird. Bei einem Festmahl zu Ehren des „Prinz von Wallis, der gleichzeitig Bischof von Osnabrück ist“ hilft er, diesen zu bedienen mit „… gebratenen Ochsen und Fischen von ungeheurer Größe“ – und wird später Bursche bei diversen Militärs.
Dazwischen kommt es zu einer Reise nach Amsterdam. Auf dem Rückweg gerät er in die der Französischen Revolution folgenden Koalitionskriege, bevor er im Gefolge des herzoglich-sächsischen Legationsrates Weiland in Rastatt landet und dort die Ermordung französischer Minister miterlebt. Bereits 1792 hatte er in Frankfurt, bezeichnenderweise am 14. Juli, dem Jahrestag der Revolution, die Kaiserkrönung gesehen, die „… nach allen in der Goldenen Bulle vorgeschriebenen Feierlichkeiten“ ablief. Sein Buch endet mit einem Credo: „Denke frei, handle treu und übe Pflicht, mit Lust und Zuversicht“.
Im besagten Vorwort lobt Goethe die lebendige Schilderung der Biografie seines Bibliotheksdieners, doch zugleich macht er Einschränkungen: „… wollte man dem Geschriebenen diesen Titel vorsetzen, so wäre vor allem zu erklären, dass der französische Gil Blas ein Kunstwerk, der deutsche dagegen ein Naturwerk sei, und dass sie also in diesem Sinne durch eine ungeheure Kluft getrennt erscheinen.“ Aha! Verständlich, diese Distanzierung bei einem großen Dichter, der einerseits Shakespeare würdigt – und nun Sachse kommentiert. Diese Kluft kennzeichnet den Abstand zwischen beiden Werken, was den intellektuellen Anspruch angeht, und ordnet das Buch in den Bereich der trivialen Literatur, wohl auch im Hinblick auf die „geneigte Leserschaft“, die zur damaligen Zeit wesentlich kleiner war als das bei uns der Fall ist, wo inzwischen ganze Medienlandschaften sich dieses Genres bedienen. Was Sachse erlebt hat, könnte heute ein Millionenpublikum begeistern.
Es ist mehr als bemerkenswert, wenn ein Mann wie Goethe, mit seinem Selbstverständnis, seiner Stellung in der literarischen Welt, sich eines solchen Werkes annimmt, ein Ausdruck seiner Vorliebe für alles Individuelle selbst unbedeutender Menschen. Während sich Sachses Mutter noch Sorgen macht, dass sie nicht „… in ein Land (Hessen!) ziehen wolle, wo Leibeigenschaft herrsche“ und man sich andernorts voller Verachtung über das Buch dahingehend äußert, dass es „… höchst komisch sei, dass ein armer kleiner Domestik sich anmaßt, ein Schicksal gehabt zu haben“, ist sich der Meister nicht zu schade, einem alltäglichen Lebensbericht eine literarische Chance zu geben.
Das macht Mut und ich beschließe, mich den beiden zuzugesellen; hat Goethe einmal geholfen, wird er es auch noch ein zweites Mal tun, und herab vom Olympischen Dichterthron sich huldvoll meiner annehmen.
Gil Blas und ich haben nicht nur die Initialen GB gemeinsam; das Sujet der Erzählung passt zu meiner Geschichte, so dass ich – lediglich Namen und Daten verändernd – des Öfteren seinen Text wie von ihm geschrieben übernehmen kann. Seine Entdeckung war ein Wink des Schicksals und so sei es mir gestattet, mich an sein Werk anzuhängen – weiß ich doch das Original von Meisterhand redigiert.
Doch meine Geschichte nimmt eine eigene, dramatische Wendung. Goethes Wort von der „ungeheuren Kluft“ erfährt in diesem Buch eine tiefere Dimension, nimmt sein Ende vorweg, bezeichnet das Trennende, Zerreißende einer Kluft, wenn sie die Topografie der Seele spaltet.“
Der heutige 1. Mai wäre zugleich der 90. Geburtstag des Grafikers, Zeichners und Hochschullehrers Armin Münch gewesen. Wenige Tage zuvor veröffentlichte der Rostocker Schriftsteller Michael Baade als Eigenproduktion der EDITION digital unter dem vielversprechenden Titel „Und das Licht der Glocken tanzt auf den schaumigen Kronen“ eine Hommage auf seinen langjährigen Freund. MICHAEL BAADE WÜRDIGT ARMIN MÜNCH. Langsam spricht es sich herum: nicht alles in der DDR war schlecht. Die Bildende Kunst des vor dreißig Jahren untergegangenen zweiten deutschen Staates erlebt zur Zeit im Westen des Landes eine erstaunliche Renaissance, mehrere Ausstellungen begeistern Kritiker und Besucher gleichermaßen. Zu diesen Künstlern gehört der 2013 verstorbene Maler und Grafiker Armin Münch, der über ein halbes Jahrhundert die kulturelle Landschaft in den Nordbezirken der DDR mitgestaltet und mitgeprägt hat. Der Rostocker Schriftsteller Michael Baade war mit Armin Münch lange Jahre befreundet und hat mit ihm in vielfältiger Weise zusammengearbeitet. Aus dem Fundus der vielen Zeichnungen und Grafiken, die der Künstler dem Autor gewidmet hat, hat Baade jetzt ein liebens- und lesenswertes Buch des Dankes zusammengestellt, das zu Münchs 90. Geburtstag erscheint. Nimmt man diese Alterswerke zur Hand, darf man Münch getrost als Busenfetischisten bezeichnen. Seine wohl- und vollgerundeten Brüste stellen kleine Weltkugeln dar. Sie sind Symbole für das Ewig-Weibliche und für die Mutter Natur, von der wir alle geboren, getränkt und ernährt werden. „Wie ist Natur so gut, die uns am Busen hält“, sagt Goethe, Baades und Münchs Gewährsmann. Und weiter: „Wo fass ich dich, unendliche Natur? Euch Brüste, wo? Ihr quellt, ihr tränkt, und schmacht ich so vergebens?“ Immer wieder verbindet Münch das Motiv der vollen Brüste mit dem Motiv der volltönenden Glocke. Der Glockenbauch versinnbildlicht den Mutterschoß. So werden Busen und Glocke zu Zeichen der Vereinigung von irdischer und himmlischer, von leiblicher und geistlicher Liebe. Und hier können wir verfolgen, wie Bekanntschaft und Freundschaft von Münch und Baade ihren Anfang und ihren Fortgang nahmen:
„Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?“
Goethe schrieb diese „Zueignung“ zum „Faust“. Sie spiegelt auch das Bemühen Armin Münchs wider, die „schwankenden Gestalten festzuhalten“, nicht vordergründig das Äußere zu illustrieren, sondern zum Wesen vorzudringen: „Dass ich erkenne, was die Welt/im Innersten zusammenhält.“
Als18-Jähriger sieht Armin Münch in der Trümmerwüste Dresden eine „Faust“-Inszenierung. Er notiert: „Die großartige Einfachheit und Klarheit in der Kunst.“ Das wird das Credo seines Schaffens werden und Zeit seines Lebens wird er sich mit der Faust-Gestalt auseinandersetzen, die er bald als Faustmephisto begreift. So auch in den 60er und 70er Jahren.
ln diesem Zeitraum verfasse ich meine Diplomarbeit über die „Faust“-Rezeption an Theatern und bin als Vorsitzender der Goethe-Gesellschaft in Rostock tätig. So eröffne ich die „Faust“-Ausstellung von Armin Münch im Heinrich-Mann-Klub mit dem Vortrag „Faust“-Illustrationen von der Vergangenheit bis zur Gegenwart, von Goethe bis Armin Münch. Später bekomme ich eine originell gestaltete Karte, natürlich mit Faust und Mephisto, und werde in die Helsinkier Straße 28 eingeladen. Es beginnt eine intensive und langjährige Arbeitsfreundschaft. Unser Engagement für gesellschaftliche Prozesse verbindet uns in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und zentralen Fragen der Menschheit.
Ich zitiere aus einer Presse-Veröffentlichung: „Zwei unterschiedliche künstlerische Auskünfte zu einem Thema, das die Welt in Atem hält. Nationalpreisträger Professor Armin Münch, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, schuf die Graphik ‚Vietnamesischer Kämpfer‘, die hier in gedanklicher Korrespondenz mit den Gedichten des Rostocker Schriftstellers Michael Baade steht.“
ln dieser Auswahl ist die Graphik „Schwangere Ballerina – Lebenstanz gegen den Atomtod“ zu nennen. Mit hoher künstlerischer Meisterschaft schuf Armin Münch eine eindrucksvolle Warnung vor dem atomaren Inferno. Ich antworte mit einem Dreizeiler „Welche Möglichkeiten im Land der Unbegrenzten“.
Es folgen die Federzeichnung „Porträt Ingrid“ und mein Liebesgedicht „Ohne dich“.
Die Insel Hiddensee ist unsere gemeinsame Liebe. Die Federzeichnung „Blick auf Hiddensee von Dranske“ verbindet er mit meinem Prosagedicht „Die Insel“ und eine mehrteilige Folge „Hiddensee – Menschen und Meinungen“ wird von ihm einfühlsam illustriert und begleitet.
Ein Höhepunkt in unserer 40-jährigenFreundschaft ist sicher die Buchpublikation „Sturmkinder … auf Hiddensee und anderen Inseln“. Sie erscheint zum 75.Geburtstag des Künstlers. Die poetischen Impressionen bereichert Armin Münch mit 45 Graphiken.
Eine unvergessliche Buchpremiere vereint Künstler und Autor mit dem Schauspieler Siegfried Kellermann.
Der Maler und Graphiker Armin Münch prägte in fast 60 Jahren die Kultur in der Region wesentlich mit. Er lebt in seinen Zeichnungen weiter. In seinen Arbeiten ist das „Faustische“ aufgehoben und es lebt das „Ewig-Weibliche“. Wir ehren einen Meister der sensiblen Linie und der expressiven und formgewaltigen Handschrift.“
Es lohnt sich, die bereits eingangs zitierte Einladung von Michael Baade zu Armin Münch, zu seiner Kunst und zu seinem Lobpreis des Weiblichen anzunehmen und sich so seine eigenen faust-mephistoschen Gedanken darüber zu machen, was die Welt im Innersten zusammenhält und wie sie gerettet werden kann.
Viel Vergnügen beim Lesen, weiter eine gute, gesunde und Corona-freie Zeit und bleiben Sie vor allem schön gesund und munter und bis demnächst. Es gibt schließlich noch so viel zu entdecken und zu erkunden, die weiblichen Weltkugeln ausdrücklich und genussvoll eingeschlossen …