Das große und zugleich sehr dicke Buch von Erik Neutsch führt mitten hinein in die Diskussionen um die Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der DDR, um Moral, Ökonomie, Kultur. Es stellt viele Fragen und zwingt den Leser zur ständigen Auseinandersetzung.
Für seinen Roman war der Autor mit dem Nationalpreis für Kunst und Literatur der DDR ausgezeichnet worden. Frank Beyer verfilmte das Buch für die DEFA. Der gleichnamige Film mit Manfred Krug (Balla) und Eberhard Esche (Parteisekretär) wurde zu den Arbeiterfestspielen im Juni 1966 in Potsdam uraufgeführt und begeistert aufgenommen. Auf Betreiben des Zentralkomitees der SED lief der Film allerdings nur wenige Tage, danach wurde er verboten und verschwand bis Ende 1989 im Archiv. Eine erneute Begegnung mit Film und Buch lohnt sich.
In „Das Schiff läuft wieder aus“ lässt Ulrich Völkel Kapitänleutnant Gollmann anlässlich des Todes des jungen Matrosen Bernd Sorowski vieles auf den Prüfstand stellen. So zwingt es ihn immer von neuem darüber nachzudenken, was es heißt, Offizier einer sozialistischen Armee zu sein.
In „Staatsaktion. Ein Werdegang in Episoden“ gelingt es Robert Tschöp, in 15 Skizzen Wesentliches zu seinem Werdegang literarisch zu gestalten. Seine Texte runden sich zu einem eindrucksvollen Bild ostdeutscher Befindlichkeit zwischen Mauerbau und Wendezeit.
In dem erstmals 1964 erschienenen Jugendbuch „Jagd in Kaupitz“ von Joachim Nowotny haben wir es mit drei aufgeweckten zwölfjährigen Jungen zu tun, die immer über alles Wichtige in ihrem kleinen Dorf informiert sind, sowie mit einem riesigen Keiler und mit einem kapitalen Rehbock.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Zum heute vorgestellten Buch sei zunächst nur so viel gesagt, dass es einen sehr beziehungsreichen Titel trägt, der so und so verstanden werden kann. Und um Weiber geht es da natürlich auch.
Erstmals 1985 veröffentlichte Joachim Nowotny im Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig seinen Band mit Erzählungen „Schäfers Stunde“: Ist sie glücklich, ersehnt? Gar eine Schäferstunde? Immerhin hat Schäfer ja wohl drei Frauen kennengelernt bei jenem Heiratsball in Herberts Kneipe, als das Bier so gewaltig floss.
Oder eine Stunde der Gefahr, der Bewährung? Die letzte Stunde? Eine gute, eine geschlagene?
Auf jeden Fall: Schäfers Stunde. Geschichten werden hier erzählt, über Schäfer und andere, aus der Heidelandschaft und der Großstadt, von Liebe und Arbeit, den Sorgen und Freuden des Aufwachsens und Altseins. Ein Stift - er fühlt sich schon beinahe als richtiger Zimmermann - muss von einem Tag zum andern „unter lauter Weibern“ bestehen. Und: Die alte Patzeln zittert vor Anstrengung, weil sie den Schutzgeist eines unschuldigen Kindes zu ihrem letzten Sohn an die Front auf den Weg zwingen will. Ein Achtzigjähriger blickt manchmal bekümmert an seinem Sohn vorbei; woher rührt seine Enttäuschung? Die alte Hanna - sie hat es gut bei ihrer Enkelin – „streuselt“ an einem unfreundlichen Januartag durch die Großstadt und sucht: Zuwendung. Heiteres und nachdenklich Stimmendes, Komisches und Tragisches, große Zeitfragen und Alltag vermischen sich in diesen Lebensstunden.
Die Erzählung „Weiberwirtschaft“ aus diesem Buch war 1983 von Peter Kahane (Drehbuch und Regie) für die der DEFA verfilmt worden. Dazu heißt es bei der DEFA-Stiftung:
Kurz nach 1945. Achim, ein junger Zimmermann, wird nach dreijähriger Lehrzeit auf ein abgelegenes Bauerngehöft geschickt, um es instand zu setzten. Drei Frauen verschiedener Generationen bewirtschaften den Hof allein. Die Großmutter Hanna hat ihren Mann im Ersten Weltkrieg verloren, die Mutter Gertrud den ihren im Zweiten. Die Tochter Heidi ist noch jung, aber schon heiratsfähig. Der fleißige, schüchterne Junge kommt den Frauen äußerst gelegen, sie verwöhnen ihn, machen ihm auf eindeutige Weise klar, dass er ihnen nicht nur als Handwerker genehm ist. Die Mutter verführt ihn, die Großmutter deckt mit ihm das Dach und versucht, ihn mit der Enkeltochter zu verkuppeln. Doch als er die Arbeit beendet hat, ergreift der junge Mann die Flucht.
Und nun noch eine Leseprobe aus dem Buch:
Ich und pokern, empörte sie sich. Was glauben Sie von mir. Meine Zahlen bedeuten etwas. Ich weiß es noch wie heute. Die Wally, was die Verkäuferin in unserem Dorfkonsum war, kam gerannt und rief: Komm schnell, Telefon, dein Manfred ist am anderen Ende. Was ist bloß passiert, denke ich, und renn’, so wie ich bin, ohne Kopftuch und in Schürze ’rüber. Nicht so schlimm, sagt mein Junge, beruhige dich, ich hör’ ja per Draht, wie du pustest. Bloß, Andrea ist ein bisschen krank. Angina oder so. Sie hat Fieber. Nicht hoch. Neununddreißig. Wir haben gedacht, es geht ’runter, weil wir doch ans Schwarze Meer wolln. Der Arzt sagt, wir können das Kind nicht mitnehmen. Soll die Reise nun verfallen? Oder könntest du ...? Natürlich kann ich, sag’ ich, fahrt ihr mal. Es ist zwar schade, dass Andrea nicht mitkann, aber ich freu mich auf sie. Hab’ doch niemanden mehr, den ich betun kann, seit Albert ... dein Vater unter der Erde ist. Du müsstest zu uns kommen, Mama, sagt Manfred, für Andrea wäre es zu anstrengend. Sie hat neununddreißig Fieber, weißt du. Na sicher, sag’ ich. Und er: Aber dann müsstest du gleich losfahren, unser Flugzeug geht morgen früh. Wir haben bis zuletzt gewartet, weißt du. Aber mit neununddreißig ... Junge, sag’ ich, mach dir doch keine Sorgen. Ich komme, sobald ein Zug fährt ... Und als ich merke, dass er sich beruhigt, als er mir die Abfahrtszeiten durchgibt, da hab’ ich Schaf doch tatsächlich keinen anderen Gedanken im Kopf als das Geld. Kriegst du denn was zurück, wenn Andrea nicht mitfliegt? Mal sehen, sagt Manfred, wir haben uns vom Arzt ein Attest geben lassen. Bis bald.
Ich hänge auf und denke: Dann ist ja alles in Ordnung. Also fahr’ ich hin, mein Sohn und meine Schwiegertochter machen sich auf die Reise, und Andrea sitzt schon am selben Mittag im Bett und verlangt Eierkuchen, meine Spezialität. Abends messe ich Fieber. Siebenunddreißig sechs. Ich streichle das Mädchen und sag’: Da werden wir uns ein paar schöne Tage machen. Ha!
Hanna zog die Tasche mit einem Ruck vor die Brust. Sie schwieg, starrte an Rudi vorbei in die Dämmerung, wo sie die Konturen auflöste, und sprach schließlich mit der Stimme einer Fremden weiter.
Das Geld ist dann auch gekommen, sagte sie. Das Geld ... Was sonst kam ... die Särge, die waren nicht zu öffnen. Sie werden vielleicht davon gelesen haben. Es war wohl das erste Flugzeugunglück überhaupt bei uns. Und gleich alle tot. Die Urlauber und die Besatzung ...
Herr Seifert, voreilig zufrieden, hatte sich schon vor diesen Sätzen auf den Weg hinter die Ladentafel gemacht. Nun blieb er stehen. Stand auf eine Art, die erkennen ließ, dass es ihm schwerfallen würde, den nächsten Schritt zu tun. Doch die Tür schepperte, ein Kunde kam. Da musste er schon. Aber etwas von Herrn Seifert blieb am runden Tisch; er vereinigte sich erst wieder zu dem ganzen Mann, nachdem der Kunde bedient und gegangen war.
Furchtbar, sagte Herr Seifert. Dann schwieg auch er. Sah hinüber zu Rudi. Der fuchtelte nicht, hatte auch dem Tischbein keine Botschaft mitzuteilen. Die Rettung musste aus Herrn Seifert selber kommen. Er besann sich auf heilende Wirkung der Zeit. Warten Sie mal, grübelte er, das ist doch auch schon seine fünfzehn Jahre her. Oder sechzehn?
Er forschte in Hannas Gesicht nach einer Antwort.
Die saß immer noch aufrecht, die Tasche zwischen den knochig gespannten Fingern, die Augen auf die Wand gerichtet, alle Falten vom Schatten ausgefüllt und die Lippen im Mund verborgen.
Der Roman „Spur der Steine“ von Erik Neutsch erschien 1964 beim Mitteldeutschen Verlag, Halle (Saale).
Lesen Sie doch ein bisschen daraus:
Endlich blickte er auf, wiegte bedächtig den Kopf hin und her und sprach: "Seit Wochen verlangt man von mir nun schon eine Erklärung, lieber Kollege. Anfangs glaubte ich noch, die Angelegenheit einfach unterdrücken zu können, ich maß ihr keine Bedeutung bei. Sie entsinnen sich, wie damals, als Sie nackend auf dem Marktplatz badeten. Wieviel Überredungskünste kostete es, die Polizei zu beschwichtigen! Doch diesmal wurde die Beschwerde hartnäckig wiederholt, und ich muß nun leider einsehen, daß es ein sehr schlechtes Licht auf die Baustelle würfe, wenn ich Sie weiterhin schützte. Ich muß schon sagen, lieber Freund, Sie haben uns da in eine miserable Lage gebracht, wahrhaftig..."
Balla begehrte auf. "Was soll das eigentlich heißen? Ich kapiere kein Wort..."
Trutmann war ehrlich erstaunt. "Ach... Sie können es sich wirklich nicht denken?"
"Nein."
"Sie Unschuldsengel..." Trutmann spöttelte und zirpte vergnügt mit der Zunge. "Natürlich betrifft es die Bakelitplatten, die Sie mit einem Komplicen aus der Presserei gestohlen haben."
Überrascht und wütend sprang Balla auf. "Was soll ich? Das soll natürlich sein? Ich soll geklaut haben?"
"Ja."
"Nein."
"Bestreiten Sie es etwa?"
Balla begriff die volle Tragweite dessen, was ihm vorgeworfen wurde. "Diebstahl...", stammelte er. "Ich und ein Dieb... Hören Sie!" Er erzählte, was geschehen war, hastig und verworren. Nur den Technischen Direktor des Chemiewerkes erwähnte er nicht.
Trutmann blieb ungerührt. Er durfte sich nicht beirren lassen. Immerhin war er auch für die Erziehung verantwortlich. "Nun ja", sagte er. "Ihre Motive in Ehren. Es mildert die Umstände, daß Sie nicht aus Eigennutz gehandelt haben, sondern das Bakelit für die Schalttafeln verwenden wollten. Aber, aber... Vergehen am Volkseigentum bleibt Vergehen am Volkseigentum. Oder haben Sie etwa eine Genehmigung gehabt?"
"Ja."
"Wie... Von wem?" Trutmann kramte ein Schriftstück hervor und las nach. "Von diesem Pätzoldt wohl, oder?"
Es klang verächtlich, und Balla antwortete schroff: "Ich sag es nicht. Ihnen jedenfalls nicht. Ich reiß keinen rein. Vielleicht sag ich es Horrath. Der ist nicht von Anfang an überzeugt, daß ich geklaut hab..."
Balla konnte nicht ahnen, daß er mit dieser Auskunft den Oberbauleiter tief in seiner Eitelkeit verletzte. Es wirkte, als hätte er nun doch mit der Faust auf den Tisch geschlagen, Trutmann spürte die Mißachtung seiner Person, seiner großzügigen Güte. Mit aller Deutlichkeit mußte er dem Brigadier zeigen, daß nur er über ihn zu befinden hatte, niemand anders. An seine Rivalität mit Horrath erinnert, geriet er in Zorn und drohte: "Für Disziplin und Moral auf der Baustelle zu sorgen, obliegt allein der Oberbauleitung. Das sollten Sie wissen. Und da es mit beidem ohnehin nicht am Wasserwerk zum besten bestellt zu sein scheint, muß ich mir wirklich überlegen, ob auch Sie noch für ein derartiges Objekt taugen."
Balla ging bis dicht an den Schreibtisch heran. Drohungen schüchterten ihn nicht ein. Im Gegenteil, sie reizten ihn am meisten. "Heraus mit der Sprache! Los!" sagte er, völlig respektlos. "Was das heißt, will ich wissen... Jetzt, da wir bald über den Berg sind..." Nach all den Erlebnissen war ihm die Chemikalienstation, ohne daß er sich dessen bewußt geworden war, ans Herz gewachsen. Er hätte es jetzt merken müssen, wenn ihn seine Wut nicht erneut daran gehindert hätte.
Trutmann ertrug nicht, daß Balla vor ihm stand. Er erhob sich ebenfalls. "Ich verbitte mir Ihren Ton..."
Erbost gab Balla zurück: "Und ich verbitte mir, daß Sie mich einen Dieb nennen."
Trutmann schrie: "Ich lasse Sie von der Baustelle entfernen!"
"Abservieren, was? Strafversetzen wie die Ingenieurin, wie?" Balla verteidigte sein Recht. Er tat es, wie er es gewohnt war. Er tastete nach dem Hammer im Gurt. "Aber mit uns springen Sie nicht so um. Die Chemikalienstation ziehen wir hoch. Ich bleibe... Und die Ingenieurin bleibt auch... Ende."
Was selten geschah, Richard Trutmann verlor jede Beherrschung. In seiner Not suchte er nach einem Halt. Er stemmte sich zu voller Größe auf und umklammerte die Kante des Schreibtischs. Er schnappte nach Luft und ließ sich hinreißen. "Halten Sie den Mund!" brüllte er. "Sie... Sie Lümmel!" Dabei hob er mit beiden Händen den Schreibtisch an, als wollte er ihn umstürzen.
Streit mit den Fäusten war Ballas Stärke. Er hob den Tisch von der anderen Seite an. Das schwere Möbel schwankte unter ihren Händen hin und her. Balla dachte: Dir geb ich's, wie ich's noch keinem gegeben hab. Und wenn du der Minister wärst, beleidigen laß ich mich nicht... Die Fältchen um Augen und Mund spreizten sich vor Angriffslust. "Von Ihnen laß ich mir gar nichts verbieten."
Der Tisch entglitt Trutmanns Händen. Krachend schlug das Holz auf die Dielen. Der Oberbauleiter hatte mit einem solchen Widerstand nicht gerechnet. Ernüchtert zweifelte er, ob er der Mahnung Horraths gefolgt war: Mach deine Sache gut... Erschöpft sank er in seinen Sessel, stöhnte und fuhr sich mit der Hand zur Brust. Die Zornröte seines Gesichts war einer plötzlichen Blässe gewichen. Schweißperlen traten aus den Poren der schlaffen Haut.
„Das Schiff läuft wieder aus“ von Ulrich Völkel erschien erstmals 1975 im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Mann hat seine Erfahrungen gemacht, jetzt misst er sein Verhalten an der Wirklichkeit. Erfolg oder Versagen werden zum Gradmesser eigener Bewährung. Aus der kritischen Erinnerung an Vergangenes formt sich die Erkenntnis für künftige Lebensart, für menschliche Haltung.
Bei einer Provokation auf hoher See kommt der junge Matrose Bernd Sorowski ums Leben. Sein Kommandant, Kapitänleutnant Gollmann, fährt nach Plauen, um der Mutter die Nachricht vom Tod ihres Sohnes zu überbringen. Die Frage: Ich habe Bernd Sorowski gekannt, doch wer ist er wirklich gewesen, und wie war mein Verhältnis zu ihm? - zwingt Gollmann immer von neuem, darüber nachzudenken, was es heißt, Offizier einer sozialistischen Armee zu sein. Er gewinnt tiefe innere Einsichten in die Notwendigkeit, sich an jedem Tag und zu jeder Stunde so zu verhalten, dass Matrosen und Soldaten unbegrenztes Vertrauen in ihren Kommandeur und dessen Fähigkeit setzen können, jederzeit richtige Entscheidungen zu treffen.
Das Nachdenken über Bernd Sorowski, aufgelöst in erlebnisreiche Szenen, führt Gollmann schließlich auch zu einer Überprüfung seiner Beziehungen zu anderen Offizieren, zu seinem Schulfreund, dem Arzt Dr. Blankschön, und zu seiner Frau Ellinor, Schauspielerin am Rostocker Theater. - Ulrich Völkel zeichnet ein Bild der ständigen, vorwärtsschreitenden Entwicklung eines Menschen, für den Stillstand bereits Rückschritt bedeutet. Eingebettet in Vorgänge der sechziger Jahre aus dem Leben der Volksmarine, vermittelt er in dem erstmals 1975 erschienenen Buch Erkenntnisse, die weit über diesen Bereich hinausgehen.
Und hier eine Leseprobe:#
Jochen lauschte. Kein Geräusch klang aus der Wohnung. Ob Mutter überhaupt zu Hause war? Er klingelte dreimal kurz. So hatte er immer geklingelt. Und da stand sie auch schon in der Tür. „Jochen, du?“ Sie hatte gleich gewusst, dass er es war. Sie hatte den ganzen Tag gespürt, dass ihr Sohn heute nach Hause kommen würde. Das geht einem manchmal so. Jedenfalls glaubt man hinterher, den ganzen Tag daran gedacht zu haben, so groß und überraschend ist die Freude.
Sie umarmten sich. Der Junge kam selten nach Hause. Rostock ist weit, und eigentlich - zu Hause war er dort seit Jahren schon. Aber für seine Mutter blieb er immer der kleine Junge, der irgendwann einmal heimkommen musste.
„Ich geb’ dem Fahrer schnell Bescheid. Er wartet noch, weil ich nicht wissen konnte, ob du wirklich da bist“, sagte Jochen.
„Du bist nicht mit der Bahn gekommen?“
„Nein“, erwiderte er, „dienstlich.“ Und er wusste, dass das nicht das rechte Wort war für seinen Auftrag.
Sie bemerkte seine Unruhe. „Ist was passiert?“
„Nein“, antwortete er, und er dachte: Man sieht es mir also an. „Ich geb’ bloß Bescheid.“ Und während er die Treppe hinabging, überlegte er, dass es nicht gut war, wenn man ihm das ansah. Die Frau würde sofort wissen, wenn er zu ihr ging, warum er kam.
„Fahren Sie in die Dienststelle, Genosse Ammer! Schlafen Sie sich aus. Morgen Punkt sieben hier.“
„Gut, Genosse Kapitänleutnant. Soll ich drinnen Bescheid sagen?“
„Ist nicht nötig, danke.“
Ammer fuhr zur Dienststelle. Jochen Gollmann ging wieder die Treppe hoch. Diesmal hatte Frau Falk gemerkt, dass jemand im Haus war. Sie kam mit Eimer und Lappen, die stets bereit standen. Früher hatte sie immer einen Vorwand gebraucht für ihre Neugier. Jetzt war es Gewohnheit geworden. Er grüßte sie freundlich. Sie wollte gleich ein Gespräch anfangen, aber er ging nach oben. Enttäuscht blickte sie ihm nach. Dann wischte sie über die unteren Stufen.
Die Mutter war fröhlich. Während sie ein kleines Abendbrot machte, stand er neben ihr in der Küche. Sie unterhielten sich. Manchmal blickte sie ihn unauffällig von der Seite an. Aber er merkte es und dachte: Als ob sie es weiß. Mütter wissen nicht alles, aber sie ahnen das meiste.
Er beobachtete sie und verglich ihre rührende Umständlichkeit mit Ellinors geschäftiger Eile. Das waren Dinge wie aus einer anderen Welt. Wann schon hatte er Zeit, zu Hause in der Küche zu stehen und zu sehen, wie ein Abendbrot für ihn zubereitet wurde? Er war Offizier. Der größte Teil seines Lebens spielte sich an Bord ab oder in irgendwelchen Dienstzimmern bei der Flottille. Er hatte die meiste Zeit Männer um sich. Trotzdem war es gut zu wissen, dass sein Leben auch anders verlaufen könnte. Manchmal war es nur ein mit viel Liebe zubereitetes Abendbrot, dass er sich sagte: Es muss sein, so hart der Dienst auch ist. Damit nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint.
Und doch würde eine Mutter ihren Sohn beweinen - morgen. Morgen musste er zu der Frau gehen und es ihr sagen. Da stellte er sich vor, dass auch er es hätte sein können, der über Bord gerissen worden war und ertrunken. Ein anderer hätte dann diese Fahrt machen müssen nach Plauen zu seiner Mutter. Merkwürdig, die ganze Zeit war er nicht auf diesen Gedanken gekommen. Nun bemächtigte er sich seiner, und er erschrak bei der Vorstellung, dass ein Genosse gekommen wäre und gesagt hätte zu der Frau, die ihm so überrascht die Tür geöffnet hatte: Frau Gollmann, Ihr Sohn ist tot.
„Woran denkst du?“, fragte die Mutter. „Du wirst müde sein. Setz dich ins Zimmer. Ich bin gleich fertig.“ Er verließ die Küche, weil er nicht sehen wollte, wie liebevoll sie das Abendbrot zubereitete. Er setzte sich in einen Sessel. Aber er hatte keine Ruhe zu sitzen. Er musste sich bewegen. Er ging im Zimmer auf und ab, betrachtete das Aquarell, eine Herbstlandschaft. Ellinor hatte es ausgesucht. Es passte nicht nur gut ins Zimmer, es passte vor allem gut zu Mutter, diese herbe, einfache Schönheit.
Er blätterte in einem Buch. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“. Fand Mutter überhaupt noch Zeit zum Lesen? Auf dem Tisch lag aufgeschlagen die Inventurliste. Sie hatte sich Arbeit mit nach Hause genommen wie meistens. Erst zu Hause habe ich Ruhe, sagte sie immer. Im Büro klingelt das Telefon, Kunden kommen, Kollegen haben Fragen, dienstliche oder private. Seit sie diese Außenstelle leitete, hatte sie noch mehr zu tun. Aber sie beklagte sich nicht. Je mehr sie arbeitete, desto weniger blieb ihr Zeit, über die leere Wohnung nachzudenken und über ihr Leben.
„Staatsaktion. Ein Werdegang in Episoden“ von Robert Tschöp erschien erstmals 2004 bei der Edition D.B. in Erfurt. Robert Tschöp ist es gelungen, in 15 Skizzen Wesentliches zu seinem Werdegang literarisch zu gestalten. Episoden einer Nachkriegskindheit, Studentenulk mit lächerlich-bedrohlichem Nachspiel, erschütternde wie anrührende Schicksale und Porträts - all das rundet sich zu einem eindrucksvollen Bild ostdeutscher Befindlichkeit zwischen Mauerbau und Wendezeit.
Schauen Sie doch mal rein:
Bei Brecht steht geschrieben: Nach den Mühen der Gebirge folgen die Mühen der Ebene.
Auf mich übertragen hieß das: Der Häme des Ostens folgten die Demütigungen des Westens. Meine 18 Jahre als Ost-Lehrer zählten nichts. Nicht im Schwabenland, nicht in Niedersachsen.
Immerhin durfte ich froh sein - und in der Tat war ich glücklich -, dass mein ostdeutsches Staatsexamen vom Niedersächsischen Kultusministerium wenigstens als Erstes Staatsexamen anerkannt worden war.
Blieb nur noch das Zweite Staatsexamen nachzumachen - und mir, der ich zu anderem kaum tauge, nichts anderes übrig als ebendies.
Mit dreiundvierzig - Referendarzeit.
Dank eines mitfühlenden Seminarleiters und einer gerecht denkenden Klassenleiterin hielt ich durch - und bestand alle Prüfungen der unbestreitbar schwierigsten Examenszeit meines Lebens.
Und dann - ein Sechser im Lotto hätte mich nicht glücklicher zu machen vermocht - eine Anstellung als Lehrer.
Ich konnte, ich durfte wieder arbeiten, arbeiten in meinem Beruf! Durfte den Kopf wieder heben, wieder Lehrer, wieder ich selber sein.
Bei allem Hochgefühl entgingen mir natürlich nicht die Blicke ringsum - forschende, tastende, suchende Blicke.
Unsicher - die Schüler; noch unsicherer womöglich meine Kollegen. Neben aufmunternden Sprüchen und Schulterklopfen: abwartende Haltung. Manch einer bemüht, meinem Morgengruß auszuweichen.
Erst wenige Tage an meiner neuen Schule, las ich unvermittelt auf dem Vertretungsplan meinen Namen. Daneben: 10. Realschulklasse, Deutsch.
Noch beeindruckt von der Referendarzeit, schwankte ich zwischen Partner- und Gruppenarbeit. Letztlich beschloss ich aber, auf Altvertrautes zurückzugreifen und die Vertretung in bewährter Weise anzugehn; 18 Jahre Erfahrung waren vielleicht doch nicht gänzlich umsonst gesammelt.
Dergleichen im Hinterkopf, betrat ich locker, wenngleich konzentriert den Klassenraum.
Vorn auf der dunkelgrünen Wandtafel in weißer Kreideschrift - unübersehbar ein Wort, ein einzelnes, einziges:
OSSI
Was tun?
Das Jugendbuch „Jagd in Kaupitz“ von Joachim Nowotny erschien erstmals 1964 beim Kinderbuchverlag Berlin. Heino, der lange Bartel, Brocken-Theo und der kleine Belo sind aufgeweckte zwölfjährige Jungen, die immer über alles Wichtige in ihrem kleinen Dorf informiert sind. Sie sind nun alt genug, um an der geplanten Treibjagd mitzuwirken. Aber die Jagdgemeinschaft können sie nur mit einer kleinen Notlüge von einem riesigen Keiler überzeugen. Als es spannend und tatsächlich ein Keiler geschossen wird, lässt man die Jungen links liegen. Doch diese lassen sich von ihrem Jagdeifer nicht abbringen. Sie haben neue Einfälle und großen Mut; denn im Wald gibt es ja noch einen kapitalen Rehbock!
Leseprobe:
"Es war mehr ein Zukunftsbock, wisst ihr. Sie wollten sich ihn partout zum Nachwuchs halten", erklärt Jonas unseren fragenden Gesichtern. "Aber ich will Freiheit. Was soll unsereins mit Vorschriften? Wenn so ein prachtvolles Stück vor der Flinte steht, da juckt es einem im Finger. Man muss einfach abdrücken. Versteht ihr das? Aber sie verstehen es nicht. Reden von Disziplin und Ordnung im Jagdgebiet. Und von Recht und Gesetz. Lächerlich!"
"Was soll denn nun werden?"
"Ich hau in die Pfanne!" In Jonas Gesicht kehrt das Blut zurück. "Ich tanz nicht nach deren Pfeife. Ein freier Mensch bin ich, jawoll! Und keiner hat mir was zu sagen. Denkt ihr vielleicht, ich bau ihnen die Raufen für die Winterfütterung? Zehn Stück haben sie mir aufgebrummt, diese Korinthenkacker. Als Wiedergutmachung, gewissermaßen. Aber da sind sie schlecht beraten. Keinen Finger mach ich krumm für die Bagage."
Langsam dämmert es in unseren Köpfen. Und je mehr wir dahinter kommen, was Jonas eigentlich meint, umso größer wird unsere Wut. Das ist vielleicht eine Kumpanei! Schließen an einem Tage gleich den besten Schützen und die besten Treiber von der Jagd aus. Man könnte auf die Bäume klettern vor Wut. Mag es kommen, wie es will: Für uns ist die ganze Gesellschaft erledigt. Laut krakeelend wandern wir die Dorfstraße hinunter.
"Wir pfeifen auf die Jägerei,
weil uns nicht passt die Kumpanei."
Ich habe den Vers erfunden und sage ihn vor mich hin. Schon greifen die anderen mit ihren Mündern zu. Sie schreien die Worte in die Welt hinein. Sollen es ruhig alle hören. An der Milchbankecke steht die Großmutter. Sie hat die Hände in die Hüften gestützt und schimpft.
"Schämst du dich nicht? Plärrst hier auf der Straße 'rum, und zu Hause wartet die Arbeit."
Wenn ich bloß an das Stöckespalten denke, wird mir schon heiß. Aber es hilft nichts. Unvorsichtig wie ich war, bin ich nun gefangen. Müde trotte ich neben der Großmutter her.
"Ein Jammerleben."
Vielleicht haben Sie sich inzwischen entschlossen, sich doch noch einmal (oder auch erstmals) den großen Roman von Erik Neutsch vorzunehmen und sich vielleicht auch noch die großartige Verfilmung dieses DDR-Klassikers von Frank Beyer anzusehen, die ebenfalls zu einem DEFA-Klassiker geworden ist – auch und möglicherweise gerade wegen seines kurz nach der erfolgreichen Premiere erfolgten Verbots. Wie schon weiter oben gesagt: Es lohnt sich.
Empfehlenswert sind aber auch zwei weitere Bücher, die sich mit persönlichen Auseinandersetzungen zu DDR-Zeiten befassen. Die Rede ist „Das Schiff läuft wieder aus“ von Ulrich Völkel und der in mehr als zwei Dutzend Skizzen präsentierte ostdeutsche Werdegang in „Staatsaktion“ von Robert Tschöp. Sie ergänzen auf ihre Weise die „Spur der Steine“ von Erik Neutsch.
Viel Vergnügen beim Lesen, kommen Sie weiter gut durch den Dezember, bleiben auch Sie am Ende dieses Jahres weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
In der nächsten Woche steht im dritten Dezember-Newsletter auch die Erzählung „Zeit der Störche“ von Herbert Otto im Sonderangebot, die mehrere Auflagen erlebte, in 14 Sprachen übersetzt und 1971 von der DEFA verfilmt wurde. Vor einer heiteren Sommerlandschaft erleben Susanne und Christian die Geschichte ihrer Liebe. Doch gerade diese Liebe bringt Susanne in einen tiefen Konflikt und stellt ihr bisheriges geregeltes und überschaubares Leben plötzlich in Frage.