Ein spannendes Leben hat auch die Autorin Sigrid Grabner selbst geführt, die im Herbst dieses Jahres ihren 80. Geburtstag feiern kann. Wie ihr Leben bis zur und nach der Wende verlief, darüber geben die beiden Teile ihrer Autobiografie Auskunft – „Jahrgang 42. Mein Leben zwischen den Zeiten“ und „Im Zwielicht der Freiheit. Potsdam ist mehr als Sanssouci“. Beide Bücher sind sehr zu empfehlen.
Schließlich sei noch auf ein lesenswertes Angebot von Volker Ebersbach hingewiesen, der sich in seiner unter dem Titel „Kuriose Liebhaber“ erschienenen Essay-Sammlungen dem Privat- und Liebesleben von Staatsmännern, Kaisern und Königen sowie Dichtern und sogar von Päpsten widmet, darunter ein Stier im Vatikan und Zar Peter der Große, der offenbar vom unwiderstehlichen Geruch der Mägde angetan war. Und auch ein beliebtes Promotionsthema „feministischer Theologie“ wird gestreift – ist Gott nun eigentlich männlich oder weiblich, ein Mann oder eine Frau oder was eigentlich?
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Diesmal stehen Schätze zur Besichtigung, Naturschätze. Und viel mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen. Vielleicht nur, dass sie in Wort und Bild vorgestellt werden und zwar von einem der besten Leute, die wir in diesen beiden Feldern hatten, von einem, der sowohl hervorragend schreiben als auch hervorragend fotografieren konnte. Und einer, der nicht zuletzt gern und viel unterwegs war.
Erstmals 1986 veröffentlichte Wolf Spillner im Kinderbuchverlag Berlin „Schätze der Heimat. In Naturschutzgebieten entdeckt und fotografiert“: Große und kleine Naturschutzgebiete - von der Kreideküste der Insel Rügen bis zu den Höhen des Thüringer Waldes, von den Wiesensteppen im Odertal bis zum Lindenwald in der Altmark - sind die Schatzkammern unserer Heimat. Sie bewahren den Reichtum der Natur. Aus der Fülle von über siebenhundert Reservaten stellt Wolf Spillner jeweils ein Naturschutzgebiet aus jedem Bezirk der damaligen DDR in anschaulichen Texten und beeindruckenden Farbfotos vor. Hier ein im wahrsten Sinne des Wortes naheliegendes Beispiel aus dem hohen Norden der Republik, das heute im nordöstlichen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern liegt. Damals war Schwerin allerdings noch eine – Großstadt. Schön ist aber natürlich immer noch, sogar sehr schön:
„Eine Insel der Großstadt
Bezirk Schwerin: Das Naturschutzgebiet „Kaninchenwerder“
Größe: 53 Hektar
Manche Städte werden beneidet, weil sie sehr schön sind. Über Schönheit darf man verschiedene Ansichten haben und auch darüber, was eine Stadt eigentlich schön macht. Die Bauten, ihre Plätze und Straßen, auch Bäume und Parks gehören dazu, alte und neue Häuser, von klugen und fleißigen Menschen erdacht und errichtet. Die meisten schönen Städte sind alt. Sie haben gute und schlechte Zeiten erlebt, Frieden und Kriege, Feuersbrunst und Hungersnöte, und immer wieder haben Menschen weiter an ihnen gebaut, Neues dem Alten hinzugefügt. Doch die Schönheit einer Stadt wird nicht nur nach der gestaltenden Kraft ihrer Bewohner bemessen. Auch die Landschaft, in die Städte hineingewachsen sind, spielt für unser Empfinden eine sehr große Rolle.
Die Bezirksstadt Schwerin ist alt und jung zugleich, die jüngste Großstadt der DDR. Voll Stolz nennt sie sich „Stadt der sieben Seen“. Sie wird oft freundschaftlich beneidet, denn der Schweriner See, das zweitgrößte Binnengewässer unseres Landes, reicht bis ins Stadtinnere. Sechs andere, sehr unterschiedliche Seen umkränzen die Stadt, die sich mit ihrem Neubaugebiet Großer Dreesch bereits dem Südufer des Schweriner Innensees genähert hat. So ist Schwerin nicht nur die jüngste Großstadt, sondern auch eine Wasserstadt. Die Schiffe der Weißen Flotte gleiten an Segel- und Motorbooten vorüber, an Wassertretern und Kajaks, an vielen behäbigen Angelkähnen und den bunten Segeln der Surfbretter. Sie bringen Urlauber an den Strand von Zippendorf oder weit hinaus auf den Schweriner Außensee. Sie kreuzen den Ziegelsee mit seinen waldreichen Buchten und fahren über den Innensee zum Störkanal und durch die weite Wiesenlandschaft der Lewitz, in der Tausende schwarzbunter Rinder weiden, bis zum Fluss Elde.
Die Schiffe der Weißen Flotte laufen auch eine Insel an. Sie ist schon vom Schweriner Schloss aus zu sehen. Die Insel gehörte früher zum Schloss, genauer gesagt zum herzoglichen Hofe. Vom Herzog und seinem Hofe ist nur das Schloss in Schwerin geblieben, ein mächtiger Zuckerbäckerbau, in dem alle nur möglichen Baustile vereint sind. Rings von Wasser umgeben, entspricht es dem Bild eines Märchenschlosses. Die Schweriner lieben ihr Schloss. Es gehört ihnen, und die Insel im See, sie gehört ihnen auch und zur Stadt wie die Neubauten von Lankow oder vom Dreesch, wie der Fernsehturm und das Theater. Die Insel ist Teil der Stadt und eines der beliebtesten Ausflugsziele. Sie heißt Kaninchenwerder und ist ein Naturschutzgebiet. Kaninchen aber gibt es auf der Insel nicht!
Wenn ein Werder, also eine Insel, den Namen von Kaninchen trägt, sollten die hasenartigen Tiere dort wohl leben! Orts- und Flurnamen sind alt und geben meist sehr genaue Aussagen. Allerdings erwarten wir schon längst nicht mehr, dass in einer Wolfsschlucht tatsächlich noch Wölfe hausen oder in einem Bärengrund der Meister Petz nach Beeren sucht. Kaninchen hingegen können wir uns auf einer Insel vorstellen, und das Eiland Hiddensee an der Westküste von Rügen liefert den besten Beweis.
Nun sind Kaninchen weder auf der Insel Hiddensee noch auf diesem Werder wirklich heimisch. Vielmehr sind sie von Menschen eingebürgert worden. Auf dem trockenen, sandigen Hochland der Ostseeinsel fühlen sie sich bis heute wohl, auf der Insel im Schweriner See aber wird es ihnen niemals gefallen haben. Sie ist zu schwergründig und zu feucht. Wildkaninchen mögen es warm und trocken, denn sie stammen aus dem Mittelmeergebiet. Von dort sind sie im Mittelalter über Spanien auch nach Deutschland gebracht worden. Sie sollten dem Adel als Jagdwild dienen, und sie waren damals noch selten. Deshalb setzte man die teuren Tiere auf einer Insel aus. Da waren sie vor Feinden gut geschützt und konnten kaum entweichen.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.
Erstmals 2003 veröffentlichte Sigrid Grabner bei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig den ersten Teil ihrer Autobiografie „Jahrgang 42. Mein Leben zwischen den Zeiten“: Sigrid Grabner erblickt im Kriegsjahr 1942 in Böhmen das Licht der Welt - weder eine Zeit, noch ein Ort, der eine hoffnungsfrohe Zukunft verheißen ließ. Einfühlsam, facettenreich, leise und doch kraftvoll beschreibt sie ihr Leben zwischen den Zeiten. Ein Leben auf der Suche nach Heimat für Seele und Gedanken; ein Leben, faszinierend in seiner Einmaligkeit und doch typisch für unzählige Menschen im Nachkriegsdeutschland. Eine bewegende Autobiografie voller Hoffnung und Zweifel, voller Ehrlichkeit und Intensität. Hier der Beginn dieser eindrucksvollen Aufzeichnungen:
„Den Freunden und Weggefährten
- Teil
zum Weinen,
unendlich geöffneten tiefen
Augen auf uns herab.
Franz Werfel
1
Mein Leben war unerwünscht. Die Welt, in der ich ankommen wollte, bot alles auf, mich zu vernichten: Feuer, Wasser, Stürme, Erdbeben. Ich klammerte mich am Mutterboden fest, stillte meinen Durst mit Essig, nährte mich von Abfall, duckte mich vor Angriffen – ein unaufhörliches Ringen um Leben und Wachsen gegen den Unwillen des mütterlichen Körpers. Warum gab ich nicht auf, ließ einfach los? Niemals würde dieser Kampf ums Dasein enden, nicht im Dunkel dieser Höhle, nicht im Licht, das mir verheißen. Wer oder was zwang mich zu dieser Qual? Trotz allen Gefährdungen wuchs ich, bis ich an die Grenzen des mütterlichen Leibes stieß. Doch nun wollte er, der sich geweigert hatte, mich aufzunehmen, mich nicht freigeben. An mir selber sollte ich ersticken. Ein mutiger Arzt befreite mich in letzter Minute mittels eines geglückten Schnittes. Stolz auf seine Kunst, die Mutter und Kind das Leben erhalten hatte, präsentierte er das Neugeborene: ein Mädchen!
Meine Mutter, soeben aus der Narkose erwacht, wandte sich enttäuscht ab. Wenn denn schon ein Kind, sollte es wenigstens ein Junge sein.
Außer sich vor Zorn – es war Ende Oktober 1942 und sein erster Sohn war vor einem Monat an der Ostfront gefallen, sein zweiter Sohn würde in der Eiswüste von Stalingrad sterben – fuhr der Arzt sie an. Undankbar sei sie, so ein gesundes, schönes Kind. Meine Mutter rettete sich wieder in die Bewusstlosigkeit.
Ihre Brüste gaben keine Milch, sie konnte mich nicht ernähren. Der Arzt, in diesem Jahr des großen Sterbens geradezu davon besessen, Leben zu erhalten, hielt im Krankenhaus eine Zigeunerin versteckt, die er von Zwillingen entbunden hatte. Eines der Kinder war gestorben, und die Frau besaß Milch für zwei. Der Arzt bat meine Mutter, mich der Zigeunerin an die Brust legen zu dürfen. Für mein Leben riskierte er das seine. Er schützte nicht nur eine Zigeunerin, er verstieß auch gegen das Gesetz zur Reinhaltung der arischen Rasse. Zigeuner seien lebensunwert, zur Vernichtung bestimmt wie Ungeziefer, eiferte der Pöbel, der sich zum Herrscher und Herrenmenschen ernannt hatte. Was konnte schon aus einem arischen Kind werden, das mit Zigeunermilch aufgezogen wurde! Den Arzt, meine Mutter und die Zigeunerin beschwerten solche Gedanken nicht, und so reckte und streckte ich mich an der vollen braunen Brust zum lustvollen Wachsen.
Ich weiß weder, was aus der Zigeunerin und ihrem Kind, noch was aus dem Chefarzt geworden ist. Ich war mit Überleben beschäftigt: ein uneheliches Kind mit einem tschechischen Vater, der ab und zu heimlich auf Besuch kam, und mit einer Mutter, die schwer arbeiten musste, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Es gab keine Großeltern, nur immer neue Gesichter, andere Hände: freundliche, gleichgültige, nachlässige. Beim Wickeln fiel ich vom Tisch; ich kämpfte gegen Masern, Mundfäule und Windpocken, überstand alles unbeschadet, war fröhlich und lächelte auch jene an, die finster dreinblickten. Mein Appetit war maßlos, als ahnte ich, dass mir Hungerzeiten bevorstünden. Im Kindergarten setzte man mich zu den Mäkligen, die im Essen herumstocherten. In Windeseile leerte ich meinen Teller, um mich dann über die meiner Nachbarn herzumachen. Die schätzten plötzlich, was ich begehrte, und wussten ihr Eigentum nicht anders zu verteidigen, als es in sich hineinzuschlingen.
Sprache faszinierte mich. Mit Worten konnte man andere zum Lachen und Weinen bringen, Ereignisse in Gang setzen, Schrecken hervorrufen, sich verweigern, Leichtigkeit gewinnen. Vom Laufen hielt ich nichts. Lange vermied ich es, auch nur den Versuch zu unternehmen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich ließ mich zu Boden fallen und brüllte, bis man mich wieder auf den Arm nahm. So trieb ich es bis zu meinem zweiten Geburtstag. Meine besorgte Mutter suchte Rat bei einem Arzt, der mich gründlich untersuchte und dann lachend meinte: Dem Kind fehlt nichts, es ist nur faul.
Ich fühlte mich durchschaut und zugleich missverstanden. Was hieß hier faul! Fliegen wollte ich, schweben, in Licht und Ewigkeit, wie ich es gewohnt war. Mutter blieb nichts übrig, als mich weiterhin zu tragen und zu fahren. Auch in das Haus ihrer Kindheit in den Hügeln nördlich von Leitmeritz, wo die Schwägerin mit ihren Kindern wohnte, der Jüngste ein halbes Jahr älter als ich. Walter konnte kaum sprechen, aber er lief wie ein Wiesel, er neckte mich und suchte vor meiner Wut das Weite. Lachte mich aus. Worte, mit denen ich sonst die Erwachsenen betörte, vermochten nichts gegen die schnellen Beine meines Vetters. Mein Urvertrauen in die Wirkung von Sprache und damit in die Leichtigkeit des Seins wurde erschüttert. Heulend hangelte ich mich Schritt für Schritt an der langen Küchenbank entlang und lernte laufen.
Es wurde auch höchste Zeit. Der Krieg, ein feuerspeiender Drache, der junges Fleisch besonders liebt, näherte sich der Stadt, dem Haus, der Wohnung, die mir als Zuflucht dienten. Mit Essen, Lächeln und Reden war ihm nicht beizukommen. Man musste weglaufen und sich verstecken können. Zwar schien der Krieg zu verenden, doch ein sterbendes Ungeheuer kann noch gefährlicher sein als ein lebendiges.
Immer trachtete mir etwas nach dem Leben, das war so gewiss wie ich atmete. Und ebenso gewiss zwang mich von Anbeginn etwas, um mein Leben zu kämpfen. Ich aß, redete, lächelte und lief um meine Existenz. Aber noch nicht wie ein gejagtes Wild, vorerst spielte ich mit dem unsichtbaren Jäger. Aus kindlichem Übermut und um mir zu bestätigen, dass ich nicht nur bedroht, sondern auch beschützt wurde.
Ich riss mich von Mutters Hand los und lief vor ein fahrendes Auto. Wenige Zentimeter vor mir kam es zum Stehen, der Fahrer schrie meine Mutter an, sie schrie mich an, aber ich freute mich: Ich hatte das Monstrum gestoppt.“
Erstmals 2019 veröffentlichte Sigrid Grabner bei fe-medienverlags GmbH Kißlegg „Im Zwielicht der Freiheit. Potsdam ist mehr als Sanssouci“ – den zweiten Teil ihrer Autobiografie: Nach dem großartig komponierten „Jahrgang '42“ hat Sigrid Grabner die Fortsetzung ihrer Autobiografie vorgelegt. Und wieder gilt: Eine starke Persönlichkeit, außergewöhnliche Lebensumstände, spannende Begegnungen mit berühmten oder ganz besonderen Menschen, eine feine Beobachtungsgabe, kluge Einordnungen - das ist der Stoff, aus dem entstehen kann, was es aufzuschreiben, festzuhalten gilt. Sigrid Grabner kann aus einem beachtlichen Fundus schöpfen. Sie ist Schriftstellerin, die bis zum Mauerfall als DDR-Bürgerin in Potsdam lebte, sie ist promovierte Indonesienkundlerin, sie ist praktizierende Katholikin, sie war mit 33 Jahren Witwe mit zwei Kindern. Die innere Freiheit hat sie sich auch in der Diktatur nicht nehmen lassen, den Umgang mit der äußeren Freiheit nach 1989 musste sie erst lernen. Grabner hat einen der Wahrheit verpflichteten, unbestechlichen und in diesem Sinne schonungslosen Rückblick auf die Mühseligkeiten des deutsch-deutschen Zusammenwachsens nach 1989 verfasst. Sie schreibt in schöner, klarer Sprache, sehr reflektiert, anregend, bisweilen tröstlich, bisweilen traurig machend, immer spannend. Ihre Widerständigkeit gegen zeitgeistige Albernheiten, gegen Fehlentwicklungen und Arroganz speist sie aus einem unerschütterlich wirkenden Gottvertrauen. Es hilft ihr auch über persönliche Enttäuschungen hinweg. Dies ist wieder ein großartiges Buch geworden. Und so beginnt es:
„Jedoch, nimm dich in Acht, achte gut auf dich!
Vergiss nicht die Ereignisse, die du mit eigenen
Augen gesehen, und die Worte, die du gehört hast.
Lass sie dein ganzes Leben lang nicht aus dem Sinn!
Präge sie deinen Kindern und Kindeskindern ein!“
Deuteronomium 4,9
Vorwort
Nach dem Erscheinen der Autobiografie „Jahrgang 42“, die mit den Ereignissen des Herbstes 1989 in der DDR endet, fragten mich Leser aus Ost und West, wie es denn nach dem Fall der Mauer weitergegangen sei. Schließlich seien die ersten Jahre des vereinigten Deutschlands widersprüchlich, reich an Ereignissen und oft bis zum Zerreißen angespannt gewesen. Beim Mauerfall siebenundvierzig Jahre, hätte doch noch eine Reihe aktiver Jahre vor mir gelegen.
Inzwischen sind fast dreißig Jahre seit den turbulenten Monaten und Wochen des Herbstes 1989 vergangen. Viel Wasser ist seither ins Meer geflossen und auch mein Lebensfluss nähert sich der Mündung ins Meer der Ewigkeit. So habe ich mich entschlossen, Zeugnis über mein Leben im wiedervereinigten Deutschland abzulegen und sie gleichsam als Flaschenpost dem Strom der Zeit anzuvertrauen. Wer sie findet, dem erzählt sie etwas über Glück, Enttäuschungen, Versagen und Hoffnung, vor allem aber viel über sich selbst. Die Zeiten ändern sich, die Menschen nicht.
Ein Angebot aus Wuppertal
Ein unscheinbares, beiläufig hingeworfenes Wort löste die Explosion aus. Es hieß „sofort“ und war die Antwort auf die Frage eines Journalisten, ab wann die neue freizügige Reiseregelung gelten sollte. Der das Wort aussprach, wusste nicht, was er sagte. Er war nur das Medium. Sechs Buchstaben rasten an diesem späten Novemberabend 1989 durch den Äther – in Wohnzimmer, Redaktionen, Betriebe. Sie luden sich auf zu einem rotierenden riesigen Feuerball, der kurz vor Mitternacht barst und das ganze Land in gleißendes Licht tauchte.
Von diesem Augenblick an war nichts mehr, wie es gewesen war. Von einer ungeheuren Wucht ergriffen, wirbelten die Menschen durch unbekannte Räume, geblendet und benommen, mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen und Mündern, schreiend, weinend, stammelnd.
Auch wer in dieser Nacht schlief, spürte das Beben in seinen Träumen, das Kind wie der Greis, und wurde beim Erwachen in den Sog des Lichtsturms hineingerissen. Es gab kein Vorher und kein Nachher, nur das sich ins Ewige weitende Jetzt. Nicht der klügste, kühlste Kopf hätte Worte für das gefunden, was jedem Einzelnen widerfuhr, und gleich ihm Millionen. Alle herkömmlichen Begriffe versagten, Argumente verstummten. Die Welt von gestern versank in einem Schwarzen Loch.
Wie lange dieser zeitlose Zustand nach irdischer Zeit andauerte, erlebte wohl jeder anders. Die einen schlugen bald auf dem harten Boden der Gegenwart auf, andere schwebten noch eine Weile, ehe sie abstürzten oder sanft landeten. Aber alle irrten durch ihnen unbekanntes Terrain. Dichter Nebel lag über Wasser und Land. Keiner wusste, was die Zukunft bringen würde, und viele wussten nicht einmal recht, was sie wollen sollten.
Das Land löste sich auf. Institutionen verschwanden, neue rätselhafte Firmenschilder klammerten sich an den bröckelnden Putz der Häuser. Menschen kamen, Menschen gingen auf Nimmerwiedersehen. Potsdam schien Stunde um Stunde mehr zu zerfallen. Einstige Luxusgüter wurden für Spottpreise verschleudert, mit ihnen konkurrierten Billigwaren, vor allem Autos, aus dem Westen. Die Leute kauften, was das Zeug hielt. Ihre Ersparnisse drohten sich durch die angekündigte Einführung der Deutschen Mark im Juli ohnehin auf die Hälfte zu verringern. Ost-Mark, West-Mark, ein Gewirr wie auf einem orientalischen Basar. Die Stadt war ein einziger Ramschladen. Gerüchte, Zukunftsängste, Enthüllungsgeschichten jagten durch die Straßen, sprangen die Menschen an, verunsicherten sie.
Mein Tagebuch vermeldet unter dem 7. Juli 1990: „Die psychische Anspannung und zugleich Verlorenheit in diesem Land ist schwer zu beschreiben. Die Erwartungshaltung ist seit dem Mauerfall ins Ungeheure gewachsen, sie produziert Unzufriedenheit, die nichts und niemanden ausspart: nicht die im Westen und die bei uns. Man möchte genießen und fürchtet die Arbeitslosigkeit, sieht ein endloses steiniges Feld von Verzicht und Mühen vor sich (die Preise verdoppeln sich, die Löhne bleiben gleich, die Ersparnisse sind halbiert), während gleich nebenan, in Westberlin, es den Leuten besser geht (sie leben in einer ihnen vertrauten Welt, sozial gesichert, in intakten Gemeinwesen). Man möchte alles auf einmal nachholen, was man in den vergangenen vierzig Jahren versäumt zu haben glaubt, und sieht sich dazu nicht imstande. Das Schlimmste aber ist die Entwurzelung. Hinausgeschleudert aus den alten Verhältnissen, bietet sich kein neuer Wurzelgrund. Eine gefährliche Situation für die seelische Gesundheit eines Volkes, die leicht zu persönlichen und gesellschaftlichen Katastrophen führen kann …“
Mich entsetzte der Literaturstreit in den Feuilletons der großen westdeutschen Zeitungen, die man jetzt überall kaufen konnte. Am 29. Juli 1990 notierte ich: „Nun wogt der Kampf zwischen ,hüben und drüben. Es ist viel Selbstgerechtigkeit auf beiden Seiten, auch Heuchelei, vor allem aber Unverständnis für die Lage des jeweils anderen. Auch mit bestem Willen kann sich ein westdeutscher Autor nicht vorstellen, mit welchem Einsatz von Leben ein ernsthafter Autor (kein staatlich hofierter) für die Wahrheit gestanden hat. Heute gelten die schlaflosen Nächte, die Herzattacken, die ständigen Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht nichts mehr, sie sind unverständlich geworden. Aus einer Selbstbefreiung ist eine Niederlage geworden, aus dem Rausch der Freiheit der Katzenjammer der Besiegten. Ich kann jene Autoren, die Jahrzehnt um Jahrzehnt ihre seelischen Kräfte gegen die Diktatur aufrieben, nicht so rechthaberisch verurteilen wie einige angesehene westliche Schreiber. Nur ein Vorwurf trifft zu: dass die DDR-Intellektuellen nicht schnell und vorbehaltlos das Aufbegehren des Volkes und die neu gewonnene Freiheit bejaht haben; dass sie, skeptisch und müde geworden, der neuen Freiheit nicht trauten. Und es fällt ihnen schwer, ihre Schuld zu bekennen – vor einem Volk, dessen neue Ideologie das Auto ist, und gegenüber westdeutschen Kollegen, die vor 45 Jahren die Freiheit geschenkt bekamen und nun so tun, als sei die Unfreiheit in der DDR auf das Versagen der Intellektuellen hierzulande zurückzuführen … Keiner, der in einem westlichen Land gelebt hat, wird verstehen, was hier abgelaufen ist, und keiner der Nachgeborenen. Schlimmer noch: Wir verstehen es schon selber fast nicht mehr. Niemand kennt besser als die Ernsthaften unter uns, welche Schuld wir auf uns geladen haben. Aber es wird geradezu unerträglich, wenn Leute, die seit vierzig Jahren eine Fahrkarte, wohin auch immer, lösen konnten, ostdeutschen Autoren das ,Privileg' des Reisens vorwerfen; Leute, die ohne Gefahr für Leib und Leben überall ihre Meinungen publizieren konnten, uns für die in unseren Büchern geäußerten Halbwahrheiten, für die wir vom Volk als Propheten gefeiert wurden, verspotten oder anklagen …
Es ist der alte Hochmut der Intellektuellen – sie produzieren sich in Zeitungen und vor Fernsehkameras, statt miteinander zu reden. Sie verletzen einander wie Gladiatoren. Sie leben von den Honoraren ihrer selbstgefälligen Artikel und Interviews statt vom harten Brot der Wahrheit.
Ich ging durch eine Stadt, in der ich seit vierundzwanzig Jahren lebte, und sah sie mit anderen Augen. Sie schien noch grauer und zerstörter als vor dem Mauerfall. Die Spuren der Einschüsse in den Mauerwänden aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, der fünfundvierzig Jahre zurücklag, die schadhaften Straßen, die desolaten Dächer … Im Vorübergehen hörte ich westliche Besucher, die endlich ungehindert die noch bestehende Grenze passieren durften, laut Erstaunen oder Missfallen über die allgemeine Verwahrlosung äußern.
Die Leute hatten ja recht, aber ihre Worte schmerzten mich, als sei ich schuld am Aussehen dieser geschundenen Stadt. Die Kritiker konnten nicht wissen, wie viel Kraft und Nerven es gekostet hatte, einen Sack Zement oder ein paar Ziegel zu beschaffen; wie idealistische Hobby-Handwerker in ihrer Freizeit versucht hatten, den Verfall zu stoppen. Aus, vorbei, das Gestern zählte nicht mehr. Das Licht der Explosion erhellte ein wüstes Land.“
Erstmals 2009 erschien im Sankt Ulrich Verlag Augsburg „Im Auge des Sturms. Gregor, der Große – Eine Biografie“: Gregor Anicius (540-604), Spross eines uralten römischen Adelsgeschlechts, war mit 30 Jahren als Stadtpräfekt von Rom auf dem Gipfel seiner Karriere, als er sein abenteuerliches Leben mit einer einfachen Klosterzelle vertauschte. Von dort zerrte ihn die von Pest und Langobardeneinfällen verängstigte Stadtbevölkerung fort und wählte ihn zum Papst. Sigrid Grabner hat sich in dieser präzise recherchierten Biografie dem herausragenden Papst und Heiligen, der den Beinamen „der Große“ erhielt, auf unkonventionelle Weise genähert: Sie erzählt sein spannendes Leben „im Auge des Sturms“ wie einen historischen Roman und lässt den Leser so ganz hautnah am Schicksal Gregors Anteil nehmen, der zu den faszinierendsten Gestalten der Geschichte gehört und wegen seiner theologischen Werke zu den vier lateinischen Kirchenvätern zählt. Sein Pontifikat hat Auswirkungen bis zum heutigen Tag. Und hier die ersten Seiten dieser lesenswerten Biografie:
„Für Johann und Paul
Begegnung
Jeder Tag ist ein Aufbruch ins Unbekannte. Auch wenn wir zu wissen meinen, was uns erwartet. An jenem Maientag vor mehr als zwanzig Jahren hatte ich mir vorgenommen, endlich den Monte Celio zu erkunden, einen der sieben Hügel des antiken Rom. Zwar kannte ich schon einzelne seiner frühchristlichen Bauten wie die Kirchen San Clemente, Santi Quattro Coronati bis hin zu San Giovanni e Paolo mit den unterirdischen altrömischen Mietshäusern, aber nun wollte ich sie in ihrer Gesamtheit begreifen. Zwischen Bauwerken entsteht wie zwischen Menschen, die einige Zeit miteinander verbringen, ein Klima von wechselseitigen Zuneigungen oder Aversionen. Die burgähnliche Kirche Santi Quattro Coronati schien mir überheblich auf San Clemente herunterzublicken, während San Clemente, bescheiden und sich doch seiner Schätze bewusst, nicht viel von der ewig in restauro befindlichen Kirche Santo Stefano mit den blutrünstigen Märtyrerbildern des Pomerancio hielt. San Giovanni e Paolo, in die Ruinen des Claudius-Tempels und über altrömischen Häusern gebaut, fühlte sich San Clemente verwandt. Santa Maria in Domnica scherte sich weder um die benachbarte Kirche Santo Stefano noch um die Eifersüchteleien ihrer Schwestern, sondern genoss einfach den Ausblick von der Kuppe des Hügels auf die Stadt. Alle aber wollten mit den nahe gelegenen, seit der Antike bestehenden Kasernen nichts zu tun haben, und alle beugten sich dem Anspruch von San Giovanni in Laterano als der Mutterkirche der Christenheit.
Als ich gegen Abend die bogenüberspannte, mittelalterlich anmutende Gasse, die seit der Antike Clivus Scauri heißt, den Monte Celio hinabging, fiel mein Blick auf die Kirche San Gregorio Magno. Über steiler Treppe ragt eine barocke Fassade hoch in den Himmel. Eigentlich hatte ich keine Lust auf eine Kirche aus dem siebzehnten Jahrhundert, im Vergleich zu dem, was ich bisher gesehen hatte, erst gestern erbaut. Außerdem stand Gregorio Magno nicht auf meinem Programm.
Aber dann reizte mich doch die Aussicht von oben auf die von der Abendsonne angestrahlten Ruinen der Kaiserpaläste des benachbarten Palatin. Mit schweren Beinen erstieg ich die Treppe. Die Aussicht hielt, was ich mir von ihr versprochen hatte. Mein Blick wanderte vom Zirkus Maximus zu dem von Pinien gesäumten Palatin, streifte im Tal zwischen Palatin und Monte Celio die verkehrsreiche Straße, auf der einst die siegreichen Heere von der Via Appia her zum Forum Romanum gezogen waren, erfasste die steinernen Reste des Aquädukts Claudia und ahnte neben der Kirche San Paolo e Giovanni die mächtigen Quadern des einstigen Claudius-Tempels – ein Panorama, das sich seit der Antike kaum verändert hat. Für die einstige marmorne Pracht entschädigte reichlich das belebende Grün der Bäume und Sträucher.
Da die Mühe des Treppensteigens belohnt worden war, entschloss ich mich zu weiterer Erkundung. Die verblichenen Fresken im Atrium der Kirche erzählten von Werken und Wundern Papst Gregors des Großen, dem Patron des Gotteshauses: Dämonenaustreibung, Visionen, Heilungen. Gregor zu Pferde, vor dem Altar, an der Spitze einer Prozession. Das Übliche eben, was wir uns schon lange angewöhnt haben, als fromme Legenden zu belächeln. Auf dem Areal der heutigen Kirche, lese ich im Reiseführer, habe vor fast anderthalbtausend Jahren sein Elternhaus gestanden, das der von Geburt römische Adlige in ein Kloster umgewandelt hatte. Ein Jahrtausend später baute man auf die Ruinen des Klosters eine Kirche ihm zu Ehren.
Während des Rundgangs durch den barocken Innenraum, wie es deren viele in Rom gibt, und später beim Ausruhen auf der Treppe gestand ich mir ein, dass mich an diesem Ort etwas unerwartet tief berührte, aber ich konnte es nicht benennen. Lag es an dem Ausblick, dem kleinen benediktinischen Friedhof mit den drei unzugänglichen Kapellen nebenan oder an den indischen Missionarinnen der Nächstenliebe vom Orden der Mutter Teresa und den weiß gekleideten Kamaldulenser-Mönchen, die auf dem Weg zu ihren der Kirche benachbarten Klöstern lautlos vorbeieilten? Lag es an der unwirklichen Stille, so nahe dem tosenden Stadtzentrum? An der leuchtenden Abendstimmung über der Stadt?
Noch einmal betrachtete ich die Fresken im Atrium, mit denen mehr als tausend Jahre nach Gregors Tod ein unbekannter Maler Szenen aus dessen Leben erzählte. Als Nacken und Augen vom Hinaufschauen schmerzten, gab ich den Versuch auf, sie zu verstehen. Was ging mich dieser Heilige aus der Zeit der Völkerwanderung an, einer Zeit, von der ich keinerlei Vorstellung besaß? Ich war müde von einem langen Tag mit mehr Eindrücken als ich verkraften konnte. Eine eindrucksvolle Person muss dieser Gregor aber schon gewesen sein, dachte ich, als ich die Treppe hinunterstieg. Wie sonst hätte sich die Erinnerung an ihn so lange halten können?
Bei folgenden Rom-Aufenthalten zog es mich immer wieder zum Clivus Scauri, und wenn ich auf den Stufen vor der Kirche ausruhte, überfiel mich jedes Mal eine seltsame Unruhe. Neugier und Trägheit stritten in mir bei dem Gedanken, ob es nicht an der Zeit sei, nähere Bekanntschaft mit diesem Gregor zu schließen. Doch jedes Mal siegte die Trägheit, indem ich vorgab, anderes zu tun zu haben.
Bei einem dieser Besuche mit einer Freundin entdeckten wir neben der rechten Seitenkapelle in der Kirche eine Art Rumpelkammer. Unter den dort abgestellten Baumaterialien fiel uns ein antiker marmorner Sessel auf. Wir wunderten uns, wie man ein so kostbares Möbel so pietätlos behandeln konnte. Verstohlen probierten wir den Sessel aus; der blanke Stein, so empfanden wir, schmeichelte sich geradezu dem Körper an.
Wieder ein paar Jahre später hatte man das mattgelb schimmernde Sitzmöbel mit den beiden tierköpfigen Armlehnen in der rechten Seitenkapelle platziert. Die „Rumpelkammer“, inzwischen aufgeräumt und renoviert, erwies sich nach einer alten lateinischen Inschrift an der Wand als die Zelle, in der Gregor als Mönch in seinem Kloster gelebt hatte: „Nocte dieque vigil longo hic defessa labore Gregorius modica membra quiete levat.“ (Wachend bei Tag und bei Nacht erholt nach mühsamer Arbeit Gregor in kurzer Ruh hier den ermüdeten Leib.)
Mich erstaunte, dass die Verfasser der Inschrift die grammatikalische Form des Präsens gewählt hatten. Da Gregor im Atrium der alten Peterskirche begraben worden war und seine sterblichen Überreste heute im Petersdom beigesetzt sind, konnte sich die Aussage nicht auf die ewige Ruhe beziehen. Sie bezeugt vielmehr eine immerwährende Gegenwart. Ein kranker Mann, erschöpft von seiner Arbeit, ruht sich hier aus. Jetzt!
Ein wenig irritiert kehrte ich durch den niedrigen Türbogen zur Seitenkapelle zurück. Mein Blick fiel auf den Marmorsessel. Er mag zum Mobiliar des väterlichen Hauses gehört und Gregor später vielleicht als Bischofsstuhl gedient haben. Die Löwen- oder Greifenköpfe am Ende der Armlehnen waren als solche kaum noch zu erkennen. Wie viele Hände mochten auf ihnen geruht, über sie gestrichen, sich um sie gekrampft haben, seit ein Handwerker sie vor zweitausend Jahren aus dem Marmor gemeißelt hatte. Prachtvolle Kissen zum Schutz der Benutzer vor der Kühle und Härte des Steins, schon lange zu Staub zerfallen, mochten den Sessel geziert haben. Glatt waren die Sitzfläche und die Armlehnen, so glatt wie ein Kiesel, den die ständig bewegten Fluten des Meeres über Jahrtausende bearbeitet haben.
Ich weiß nicht, wie lange ich mich in die Betrachtung des Stuhls vertiefte, aber ich könnte beschwören, dass ich dort plötzlich eine schmale Gestalt, bekleidet mit einer Mönchskutte, sitzen sah. Aus dem Halbdunkel, in das ein früher Herbstabend die Kirche getaucht hatte, schaute sie mich an – prüfend und ein bisschen erstaunt. Mir verschlug es den Atem, ich erstarrte wie das Kaninchen vor der Schlange. Irgendwann griff ich doch beherzt in Richtung Stuhl, aber da war nichts. Dieses Erlebnis erschreckte mich mehr, als dass es meine Neugier angestachelt hätte. Aber mir wurde bewusst: Es war der Geist des Ortes, der mich immer wieder hierherzog, der Geist Gregors. Er warb um mein Verständnis, mein Vertrauen, wie wir um einen Menschen werben, mit dem wir gern befreundet sein möchten. Doch zu schwierig, zu fremd und fern schien mir die Person Gregors, ich wollte mich nicht auf sie einlassen.“
„Kuriose Liebhaber“ – diesen Titel trägt eine Reihe von Essays von Volker Ebersbach, die 2022 als Eigenproduktion von EDITION digital veröffentlicht wurden: Staatsmänner, Kaiser und Könige und Dichter, aber auch Päpste hatten ihr jeweils besonderes Privatleben, und viele von ihnen waren leidenschaftliche Liebhaber. Die jeweiligen Eigenheiten ihrer Stellung in der zeitgenössischen Gesellschaft wirkten sich auf ihre Leidenschaften aus und sorgten für beispielhafte Kuriositäten in ihren heimlichen oder offenen Liebesverhältnissen. Greifen wir einen von ihnen heraus:
„4. EIN HEILIGER VATER MIT FAMILIE: Papst Alexander VI.
Die christlichen Kirchen sehen in der freien geschlechtlichen Liebe eine der gefährlichsten Sünden und den Einstieg zu anderen. Nur in der Ehe ist die Liebeslust erlaubt und sogar geboten, weil ohne sie Gottes höchste Geschöpfe, die Menschen, aussterben würden. Doch wie leicht und oft wird gegen das sechste Gebot verstoßen! Im Evangelium des Matthäus warnt Jesus: „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon die Ehe gebrochen in seinem Herzen“ (5,28). Stellt Jesus nicht mit dieser Überspitzung der Treue die Ehe selbst in Frage, zumal er wenig später von allem Schwören, als auch von Treueschwüren, abrät (5,33 ff.)? Dann belehrt er seine Jünger: „Denn einige sind von Geburt an zur Ehe unfähig; und andere sind von Menschen zur Ehe unfähig gemacht; und wieder andere haben sich selbst zur Ehe unfähig gemacht um des Himmelreichs willen. Wer es fassen kann, der fasse es!“ (19,12) Der Apostel Paulus leitet in seinem ersten Brief an die Korinther, Kapitel 7, daraus ab, die völlige Keuschheit sei allem vorzuziehen: „Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren.“ Die Ehe sei eben kein „Gebot“, sondern nur eine „Erlaubnis“, damit nicht der Satan durch die „Unzucht“ Gewalt über die Leiber gewinne. „Ich wollte zwar lieber“, fährt er fort, „alle Menschen wären, wie ich bin, aber jeder hat seine eigene Gabe vor Gott, der eine so, der andere so.“
Auf solche Bibelstellen stützt die römisch-katholische Kirche seit der Synode von Elvira am Beginn des 4. Jahrhunderts den Zölibat, die Forderung an alle ihre Bischöfe, Priester und Diakone, ein Leben lang ehelos – lateinisch „caelebs“ – zu bleiben und sich eine Art maskuliner Jungfräulichkeit zu bewahren. Alle Orden von Mönchen und Nonnen übernahmen sie bei ihrer Gründung. Jeder Versuch, sie in Frage zu stellen, führte, zumal wenn er aus der Priesterschaft selbst kam, nur zu Verschärfungen. Papst Leo I. dehnte im 5. Jahrhundert den Zölibat auf Subdiakone aus. Ablehnende Stimmen waren aber schon 325 auf dem Konzil von Nicäa laut geworden. Nach dem Schisma von 1054, in dem der Papst in Rom und der Patriarch von Konstantinopel einander exkommunizierten, blieb die Priesterehe in den orthodoxen Kirchen des Ostens mit Einschränkungen erlaubt. Als 1074 Papst Gregor VII. alle noch geduldeten Priesterehen in der römisch-katholischen Kirche für ungültig erklärte, weigerte sich zunächst die gesamte Synode von Paris, ihm zu folgen. 1139 erklärte Innozenz II. auf dem Lateranskonzil noch einmal, dass priesterliche Weihen eine vorher geschlossene Ehe nicht nur auflösen, sondern auch für von vornherein nichtig erklären. Bald half auch die weltliche Macht bei der Durchsetzung des Zölibats: Auf dem Konzil zu Konstanz, einem „Reformkonzil“, das 1415 den Reformator Jan Hus zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilte, erklärte Kaiser Sigismund es als ein strafwürdiges Verbrechen, wenn ein Priester, und wäre es heimlich, mit einer Frau zusammenlebe. An den Grundsätzen der priesterlichen Ehelosigkeit rüttelten auch die Renaissance und der Humanismus zunächst nicht. Erasmus von Rotterdam verspottete, so aufgeklärt er sonst dachte, Luthers Ehe und die Heiraten von Mönchen und Nonnen in Wittenberg. Mochte die scharfsinnige Bibelauslegung des Reformators auch einwenden, weder Jesus Christus noch Paulus hätten an irgendeiner Stelle der Heiligen Schrift die Ehelosigkeit ausdrücklich gefordert, ja der Erste Brief des Paulus an Thimotheus (3, 2–4) verlange von einem Bischof lediglich Monogamie, womit er verheiratete Priester voraussetzte – die Gegenreformation bekräftigte 1563 auf dem Konzil von Trient alle Vorschriften über den Zölibat. Doch nun entliefen Mönche und Nonnen immer wieder dem Einflussbereich des strengen Gebotes. Während der Französischen Revolution heiratete der Klerus beinahe epidemisch. Seither blieben Lockerungen im Gespräch. Doch auch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) lässt eine Aufhebung des Zölibats nur unter der Bedingung zu, dass sich der Priester in den Laienstand zurückstufen lässt, und in der Enzyklika „Sacerdotalis caelibatus“ (1967) hat Papst Paul VI. eine Institution befestigt, mit der die römisch-katholische Kirche unter allen Religionsgemeinschaften einzigartig dasteht.
Hochgeachtet und als ein moralischer Wert geschätzt wird die Keuschheit in allen Religionen. Von ihr geht ein Charisma der Reinheit aus, das einzelne Menschen zu höher stehenden Ausnahmen macht und für einen Bestandteil religiöser Autorität gehalten wird. Priesterliche Ehelosigkeit kennt aber auch das Alte Testament nicht. Nur in den Zeiten des Tempeldienstes gilt eine rituelle Askese. Die Vestalinnen der Römer, die der Göttin Vesta, dienten, der Hüterin des häuslichen Herdfeuers, blieben nicht zeitlebens unverheiratet. In allen Kulturen steht der Wert einer jungfräulich unberührten Braut in einer Beziehung zu höchst profanem Besitzdenken. Aus dem Glauben einer urchristlichen Gemeinde an die Jungfräulichkeit Marias und die völlige Keuschheit des „Gottessohnes“, den sie nach einer „unbefleckten Empfängnis“ durch den „Heiligen Geist“ gebar, entwickelte sich noch vor dem Untergang Roms ein charismatisches Ethos der Enthaltsamkeit und aus einer inneren Logik der Askese das Dogma des Priesteramtes. Welche Gründe könnte es dafür geben? Gibt es einen Zusammenhang mit der Regel, dass Frauen keine Priester werden dürfen? Zögerlich wurde von den Kirchen eingestanden, wie verächtlich die Worte des Apostels Paulus alles Weibliche machen. Man muss „das Weib“ und alles Geschlechtliche ziemlich gering schätzen, um in Eva die erste Verführerin und in Maria die Anti-Eva zu erblicken. Aber wie schwierig es ist, den Zölibat einzuhalten, haben Zölibatäre aller Zeiten erfahren bis zum Trauma. Ein uraltes Mittel gegen die fleischliche Versuchung ist die Kastration. In der Antike und im Alten Orient war sie sowohl eine praktische Maßnahme für Sklaven, die als Eunuchen den Harem eine Herrschers zu behüten hatten, aber auch ein Ritus der religiösen Verzückung. Der römische Dichter Catull erzählt, um die rituelle Absurdität zu entlarven, den Mythos von Attis, der sich ekstatisch selbst verstümmelt, um ausgerechnet der altorientalischen Fruchtbarkeitsgöttin Kybele – in Rom eine Fremde, die aber beliebt wird – zu gefallen. Der Oheim der schönen Heloise verstümmelt ihren Lehrer Abélard, um einer unerlaubten Liebe und dem Bruch seines Zölibats ein Ende zu machen. der Zölibat lässt es aber nicht zu, dass man ihn unterläuft. Die Kastration ist ebenso eine Sünde wie die Masturbation, die in Sündenängsten vollzogen, zu psychischen Schäden führen kann. Selbst die Einhaltung, sollte sie denn in einer fortwährenden Anspannung des Willens zur Unterlassung gelingen, bleibt nicht ohne gewisse Verkrampfungen in der Seele. Welches Vertrauen kann der gläubige Laie zu einem Priester haben, den seine geheim gehaltenen psychischen Probleme belasten? Wäre der Beichtvater wirklich ein makelloser Zölibatär, was verstünde er noch von den Sünden, für die er die Absolution zu erteilen hätte?“
Und damit dürften eigentlich alle diesbezüglichen Fragen geklärt sein, oder? Dennoch scheint der nach wie vor andauernde Streit um den Sinn oder Unsinns des Zölibats noch lange nicht beendet zu sein. Und da gerade von Kirche die Rede war, soll auch noch einmal an den berühmten Papst und Heiligen Gregor den Großen erinnert werden, über den Sigrid Grabner in ihrer ebenso großen wir großartigen Biografie schreibt. Diesen Papst kann man guten Gewissens auch als einen Krisenmanager bezeichnen, auch wenn es diesen Begriff seinerzeit noch nicht gab. Aber inhaltlich trifft diese Bezeichnung auf Gregor den Großen uneingeschränkt zu. So findet sich unter im Internet unter katholisch.de folgender gleich zweifach interessanter Hinweis auf den ersten „Mönchspapst“ der Kirchengeschichte und seine Fähigkeiten, mit schwierigen Situationen fertig zu werden:
Nach Pelagius‘ Tod fiel die Papstwahl am 3. September 590 auf Gregor und machte ihn so zum ersten „Mönchspapst“ der Geschichte. Er fand eine Stadt am Abgrund vor: Gerade hatten Überschwemmungen Rom mitsamt den wichtigen Getreidespeichern verwüstet. Die Stadt war voller Kriegsflüchtlinge und unter der hungernden Bevölkerung wütete die Pest. Als ob das nicht schlimm genug wäre, drohten die feindlichen Langobarden damit, Rom zu belagern. Kein Wunder, dass Gregor seine Amtszeit mit einer stadtweiten Bußprozession eröffnete.
Gleich darauf ging der talentierte Krisenmanager ans Werk. Durch die Neuorganisation der päpstlichen Ländereien in Süditalien und Sizilien gelang es Gregor, Rom schnell mit neuen Lebensmitteln zu versorgen. Der Sinn einer Predigt erreiche Hungernde schließlich nur, wenn sie zuvor konkrete Hilfe erfahren hätten, war Gregor überzeugt. Sich selbst nannte er "Knecht der Knechte Gottes" ("Servus servorum Dei") – bis heute tragen alle Päpste diesen Titel.
Zwar hielt Gregor wirtschaftliche Anreize zur Konversion für legitim, doch Gewalt lehnte er ab. Damit stand er im Widerspruch zu vielen anderen Kirchenführern der Spätantike. Die Gesetze zum Schutz der jüdischen Bevölkerung seien unbedingt einzuhalten und ihre Synagogen zu bewahren. Überhaupt seien keineswegs allein die Juden schuld am Kreuzestod Jesu, sondern alle Menschen. Gregors Schutzmaßnahmen setzten dem Papsttum im weiteren Mittelalter ein forderndes Beispiel.“
Und die beiden Themen Überschwemmung, Getreidemangel und Kriegsflüchtlinge könnten wohl aktueller kaum sein. Gleiches gilt (leider) für das Thema Antisemitismus.
Mitunter scheint sich Geschichte eben doch zu wiederholen.
Ansonsten wie immer viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen Juni und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.