„Suche nach Einstein oder im Prüfstand des Gewissens“ von Christa Johannsen wurde erst 2016 als Eigenproduktion von EDITION digital von Albrecht Franke herausgegeben. Im April 1981, als Christa Johannsen ihrem Leben ein Ende setzte, lagen 330 Schreibmaschinenseiten vor. Franke hat dieses Manuskript 2015 lektoriert und für die Herausgabe vorbereitet, aber nicht vollendet. Eine Einstein-Biografie allerdings erwarte der Leser nicht. Vielmehr ist Einstein, gewissermaßen die Spiegelfläche für eine Epochenabrechnung, eine biografische Abrechnung, eine Abrechnung mit der erlebten Gegenwart Christa Johannsens. Sie könne dabei von Einstein nicht lassen, meinte sie, weil er die Dinge dieser Welt, nebst integrierendem Erkenntnischarakter, vollkommen umgestülpt habe, derweil die Menschheit im alten Saft weiterschmorte. Und wenn auch seit dem Tode der Autorin mehr als vierzig Jahre vergangen sind, die Welt, in der sie schrieb, nicht mehr existiert: Das Buch spricht zu uns. „Wenn ich überhaupt noch an den EINSTEIN denke, dann nur noch im Zusammenhang mit mir selbst. Durch Erfahrung klug geworden, will ich das Opus nicht an einen Verlag binden, sondern einfach zu schreiben versuchen. Man kann es ja dann aus meinem Nachlaß herauspuhlen“. Nun, „herausgepuhlt“ ist der Text jetzt von Albrecht Franke, auch an einen Verlag gebunden. Und, wie die Dinge nun einmal liegen: Es wäre ihr wohl recht gewesen.
Am Ende der Einführung in das Buch heißt es: „Gott spielt nicht Würfel – wie stolz das klingt. War Einstein gottgleich? Er war ein armer Teufel – und sonst nichts. Wir kommen darauf zurück.“ Das ist eine provokatorische Einladung zum Lesen …
Erstmals 1987 veröffentlichte Uwe Berger seine Autobiografie „Weg in den Herbst“. Darin schreibt er: „Weil ich so ganz Künstler bin, liebe ich das Leben über alles.“ Dieses Leben beginnt in Emden mit dem Duft von Meer und Weite. Augsburg schenkt ihm Mittelalter, Reformation und Renaissance. Berlin konfrontiert ihn mit vielfältiger Kunst. Sein Vater holt ihn im Krieg aus einem Kinderlager in Polen. Mit 15 Jahren steht er am Messgerät einer Flakbatterie. Von einem Flakhelfer hört er die Stimme des Widerstands. In der Hungerzeit nach dem Krieg fährt Uwe Berger aufs Land, um gegen Schnaps Kartoffeln einzutauschen. Ein russischer Soldat hilft ihm, die Kontrollen zu umgehen.
Auch eine Autobiografie legte erstmals 1996 Alexander Kröger mit „Das Sudelfass. Eine gewöhnliche Stasiakte“ vor. Es ist jedoch eine besondere Autobiografie und ein beklemmendes Zeitzeugnis zugleich. Helmut Routschek (1934 bis 2016) hatte sich das Autorenpseudonym Alexander Kröger zugelegt und zwischen 1969 bis 1994 dreizehn wissenschaftlich-fantastische Romane mit einer Gesamtauflage von über 1,6 Millionen Exemplaren veröffentlicht. Aber darum geht es hier nicht. Sondern darum, wie er zu DDR-Zeiten unter den Verdacht geriet, ein Agent des Westens zu sein und nach allen Regeln der „geheimdienstlichen Kunst“ observiert und ausgeforscht worden war. Und das war damals gefährlich.
Erstmals 1960 erschien der Zukunftsroman „Die große Grenze“ von Günther Krupkat: In kühner Voraussicht schildert der Autor bereits vor dem ersten Weltraumflug des sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin, wie ein solches bedeutsames Ereignis vor sich gehen kann. An zwei Stellen der Erde wird intensiv an der Verwirklichung des Raumfluges gearbeitet. Während in der sowjetischen Stadt Utro die Sicherheit des Astronauten und die exakte Durchführung des Versuchs im Vordergrund aller Überlegungen stehen, herrscht auf Cap Caroline fieberhafte Nervosität. Wer wird den Wettlauf um den ersten Raumflug gewinnen?
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Ein Rückblick in ein inzwischen längst verschwundenes Land und auf einstige große gesellschaftliche Veränderungen.
Erstmals 1976 veröffentlichte Gisela Heller „Märkischer Bilderbogen. Als Reporterin zwischen Spreewald und Stechlin“: Durch diese Gegenden ist einst Fontane gewandert, um Land und Leute zwischen Oder und Elbe, Spreewald und Stechlin zu beschreiben, und es hat schon seinen besonderen Reiz, heute, hundert Jahre später, seinen Spuren nachzugehen. Gisela Heller hat sich in den märkischen Städten und Dörfern umgesehen und vieles entdeckt, was dem Auge des zufälligen Besuchers meist verborgen bleibt. In dreißig Reportagen berichtet sie von den Stätten, wo Bettina von Arnim, Fontane, Einstein, Brecht gelebt haben, von Begegnungen mit interessanten Menschen aus unseren Tagen, Wissenschaftlern und Künstlern, Arbeitern, Handwerkern und LPG-Mitgliedern, von den Käuzen, auf die man überall trifft. Wir hören Historien aus oft sagenumwobener Vergangenheit und lesen erschüttert die nüchternen Tatsachen aus der jüngeren Geschichte, vom Kampf um die Seelower Höhen, von der Kesselschlacht bei Halbe. Vor dem Hintergrund geschichtlicher Traditionen entsteht so ein lebendiger Eindruck von den großen gesellschaftlichen Veränderungen, die sich vor allem in den letzten dreißig Jahren in diesen wirtschaftlich früher meist vernachlässigten Gebieten der späteren Bezirke Potsdam, Cottbus und Frankfurt (Oder) vollzogen haben.
Und noch ein wichtiger Hinweis: bis zum 26. Juli kann das E-Book „Von 2023 nach 1650: Eine unglaubliche Reise der Schweriner Brüder“ von Gisela Pekrul kostenlos heruntergeladen werden: In den lebendigen Straßen von Schwerin, zwischen modernen Bussen, Straßenbahnen und historischen Fassaden, stoßen Noah und Joshua auf ein rätselhaftes Buch, das sie auf eine Reise schickt, die ihr Leben für immer verändern wird. Ein geheimnisvoller Zauberspruch wirbelt sie aus dem Jahr 2023 in das Jahr 1650 - in eine Epoche, in der ihre dunkle Hautfarbe Argwohn erregt und ihre Kleidung Fragen aufwirft.
Christa Johannsen beleuchtet in ihrem Werk „Suche nach Einstein oder im Prüfstand des Gewissens“ die Konflikte und moralischen Herausforderungen in einer politisch angespannten Zeit. Der folgende Auszug zeigt eine hitzige Diskussion unter Studenten und einem Schulungsleiter über die Bedeutung und das Erbe großer Persönlichkeiten wie Chopin und Marie Curie. Inmitten dieser Debatte steht Sophie Schley, deren Fragen und Haltung Misstrauen und heftige Reaktionen hervorrufen. Die Szene veranschaulicht die Spannungen und die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit in einer von Ideologien geprägten Welt:
Moment, unterbrach der Instrukteur.
Nein, bitte, lassen Sie mich ausreden. Ich studiere Naturwissenschaften, genauer: ich interessiere mich für Physik. Würden Sie mir bitte antworten? Sie wissen ja viel mehr als ich, und ich möchte sehr gern wissen, wie wir Chopin einzuordnen haben. Die Revolutionsetüde – etwa.
Chopin, stotterte der Schulungsleiter, war Arier, er lehnte sich gegen die Willkürherrschaft des russischen Zarentums auf.
Und Marie Sklodowska, fragte Sophie.
Sie stellen vielleicht Fragen, erwiderte der Schulungsleiter. Aber lassen wir das. Chopin – na und? Machte Musik. Ihre Madame Curie war ja doch bloß ein Instrument – bestenfalls.
Danke, sagte Sophie, übrigens war auch sie Arierin.
Und nun folgte etwas, das nicht mehr lange zum studentischen Brauchtum gehören sollte: die pflichtgemäß Versammelten trampelten Beifall.
Sophie, sagte Annette, was hast du bloß angerichtet.
Brigitte Boysen packte ihr Strickzeug ein.
Der Student Gustav Holsten sah Sophie hinterher. Er hatte aufgehört zu lachen. Die weiß genau, was sie will, sagte er nur seinen Nachbarn, wenn ihr mich fragt, die ist ein abgefeimtes Miststück.
Der Augenschein gab ihm Recht. Vorn redete Sophie Schley mit dem Instrukteur.
Und da – zu einem frühen Zeitpunkt – mochte das Misstrauen begonnen haben.
Die sollte uns doch bloß provozieren, tönte Holsten. Müssen wir uns merken, Kommilitonen, das Gesicht –
Fieses Geschau, ergänzte ein kleiner Bayer.
Es kam zu einem jener Tumulte, die sich dazumal gar nicht leicht stoppen ließen, obgleich Studenten in SA- Uniform an den Wänden lümmelten.
Und wir dürfen sagen, wir sind dabei gewesen.
Wir waren dabei, als Claire in den Kreis der jungen Männer trat. Brigitte starrte ihr nach.
Wir hörten Claire beschwichtigend sagen: Der Aufwand lohnt doch nicht, Herr –
Holsten, sagte Holsten und machte eine ungeschickte Vorbeugung. Danke, sagte Claire. Warum erregen wir uns eigentlich, fragte sie die Runde. Wir brauchen uns doch nicht für Marie Curie einzusetzen, die Geschichte wird ihr ohnehin Recht geben.
Holsten schluckte.
Hat ihr längst Recht gegeben, oder?
In seinem Werk „Weg in den Herbst“ zeichnet Uwe Berger eindringlich das Bild einer schwierigen und von Entbehrungen geprägten Jugend während des Zweiten Weltkriegs. Der folgende Auszug beschreibt eine mutige Flucht zweier Jungen aus einem Lager und die heimliche Unterstützung, die sie von ihren Mitschülern erhalten. Die Erzählung verdeutlicht die Angst, die Unsicherheit, aber auch die Hoffnung und den Zusammenhalt in dieser düsteren Zeit. Durch die Augen des Erzählers erleben wir die Spannung und die Erleichterung, die mit dem gelungenen Ausbruch verbunden sind:
Einige Tage später fragte mich der abgemagerte und noch ernster gewordene Wiesner, ob ich dichthalten könne. Selbstverständlich konnte ich das. Und ich erfuhr, dass zwei Jungen, Schlüter und Wanaus, heimlich das Lager verlassen wollten. Ich kannte die beiden nur flüchtig. Sie waren älter als wir und eine Klasse weiter. Im Wesen unterschieden sie sich sehr. Erschien der eine der beiden in sich gekehrt, steif und verschlossen, war der andere lebhaft, beweglich und aktiv. Jedem war die Initiative zuzutrauen.
Wiesner setzte mich nicht ohne Grund von dem Vorhaben in Kenntnis.
Der entscheidende Schritt musste nach dem abendlichen Appell, im Schutze der Dunkelheit, geschehen. Es war erlaubt, um diese Zeit noch unter den Bäumen vor der Schule ein wenig auf und ab zu gehen. Ich ahnte, weshalb mir Wiesner angekündigt hatte, dass er und ich dort am Abend eine Kabbelei vortäuschen sollten. Während wir uns anschrien, einander Püffe gegen die Schultern versetzten und uns schließlich, im Ringkampf keuchend, zu Boden fallen ließen, während sich immer mehr Neugierige um uns versammelten - verschwanden die Ausbrecher in der Nacht.
Bei dem Kriegsspiel am Vortag hatten sie ihre mit Schmalzstullen gefüllten Brotbeutel und Feldflaschen mit Malzkaffee im Graben an der Landstraße versteckt. Die letzte Kleinbahn war längst fort. Die Jungen legten die dreißig Kilometer bis Konin zu Fuß zurück, das heißt, sie marschierten die Nacht hindurch, um am frühen Morgen den D-Zug zu erreichen, der nach Berlin fuhr ...
Wiesner und ich rappelten uns auf, lachten, als sei alles nur halb so schlimm gewesen, klopften uns den Staub von den Hosen und schlenderten ins Haus. Im Schlafraum hatten inzwischen Mitverschworene die bereitliegenden Hemden, Pullover und Handtücher der Flüchtigen so unter ihre Decken gestopft, dass man meinen konnte, sie lägen bis über den Kopf zugedeckt darunter. Wir zogen uns aus und legten uns hin. Andere folgten. Allmählich füllte sich der Raum.
Hoffentlich kam niemand auf die Idee, die „Puppen“ anzustoßen. Glücklicherweise brannte die Glühbirne an der Decke nur schwach. Das Licht wurde schließlich ausgemacht.
- leuchtete bei seinem Rundgang die Reihen der Liegenden mit der Taschenlampe ab und ging, ohne etwas zu bemerken.
Bald danach erschien der Arzt. Flüchtig untersuchte er alle. Bei mir gefielen ihm die Herztöne nicht. Er machte sich Notizen und teilte mir mit, dass ich für nicht lagertauglich erklärt werden würde. Bei der nächsten Gelegenheit wies K. in einer Ansprache auf die „Unzulässigkeit feiger Flucht“, auf die „vorbildliche medizinische Fürsorge“ und auf die „Stärke und Härte der meisten“ hin. Er war ein gelehriger Schüler seiner Vorbilder und verstand es, die Akzente zu setzen.
Mit einem Gefühl der Befreiung bestieg ich geraume Zeit später in Konin den Zug in die Richtung, in die mir jene beiden vorausgefahren waren. Herbstlicher Nebel lag auf den Feldern. Das Gesicht Wiesners schien darin zu schweben. In mir war Sonne. Die Bomben, die auf Berlin fielen, schreckten mich nicht.
In seinem Werk „Das Sudelfass“ beleuchtet Alexander Kröger die komplexe Beziehung zwischen Individuum und Staat in der DDR. Der folgende Auszug stammt aus einer Stasiakte und bietet einen tiefen Einblick in die Überwachung und ideologische Bewertung von Literatur. Der Bericht vom 26. April 1978 enthält kritische Anmerkungen zu den Schriften von R., insbesondere seinem Buch „Die Kristallwelt der Robina Crux“. Diese Einschätzungen offenbaren die strengen ideologischen Maßstäbe und die politische Kontrolle, denen Autoren und ihre Werke in dieser Zeit unterworfen waren:
Bericht vom 26. April 1978
„Einleitende Bemerkungen zu den R-Aufzeichnungen und zu seinem Buch ‚Die Kristallwelt der Robina Crux‘“
- Bemerkungen zu den R-Aufzeichnungen:
Würde sich das Eine als nicht existent erweisen, würde er für mich durchaus interessant werden, weil‘s sich dann lohnen würde, von marxistisch-leninistische Position auf ihn einzuwirken.
[*]zur Robina Crux:
Das ist hier keine Literaturkritik, die ich abgebe, auch kein Versuch dazu, denn das würde meine Möglichkeiten stark übersteigen. Ich widme mich dem Buch aus der Sicht des ideologischen Gehalts und in Reflexion meiner Kenntnisse über R.
- Insgesamt halte ich das Buch für reifer als das mir nur vergleichbar zur Verfügung stehende „Expedition Mikros“, weil er sich bemüht, mehr Probleme lebensphilosophischer Art anzusprechen, unabhängig davon, ob er das meistert oder nicht. Ich sage mehr nicht, und hier sind auch die Ansatzpunkte zur Diskussion.
- Positiv wird meine erste Aussage durch solche Passagen belegt wie Haltung zur Frage der Religion (S. 76, 152, 212), das Wissen um das bevorstehende Ende des Menschen und seine Folgen (S. 56/57) und das was er über die Sinnlosigkeit des Selbstmordes sagt (S. 22/23 u. a.)
- Des weiteren muss man bitte unbedingt eingestehen, dass das Buch insgesamt eine menschenbejahende, optimistische Grundhaltung zeigt, die Kraft des Menschen in der Auseinandersetzung mit der Natur, Menschen die erfolgreich den Kapitalismus überwunden haben und die dabei sind, den Kommunismus weiter zu errichten, obgleich er das so nicht deutlich werden lässt und an dieser Stelle offen sichtlich seine Kenntnis-, Erkenntnis-und Glaubensprobleme hat.
Man erfährt wieder mal etwas über R. seine UNO-Welt von morgen, wobei der Leser im Unklaren gelassen wird, wie weit und wodurch es gelang, den Imperialismus zu überwinden und die kapitalistischen Kriege zu beseitigen. Hier zeigt sich, dass in dem Buch R. eine allgemein humanistische Grundposition einnimmt, die aber nicht gleichbedeutend sein kann mit einem klaren-ideologischen Bekenntnis, natürlich auch in der entsprechenden künstlerischen Form. Deshalb ließe sich dieses Buch möglicherweise auch in der BRD verlegen. Die inneren Kraftquellen, aus denen die Robina schöpfen muss, um zu überleben und sinnvoll zu handeln, müssten gerade Kraftquellen einer deutlichen kommunistischen Moral sein, die als solche Art erkennbar werden. Bei R. dominiert wieder mal der ausgesprochene Individualist.
- Andere Dinge, über die man diskutieren könnte, ohne dass ich das als vordergründig notwendig ansehe wären seine Eheauffassungen (monogam eingeschrieben!), sein geliebter Spritzanzug, der so schön die Formen betont, die zugeschissenen Städte, pardon, zugeschütteten, ohne ein Wort der Anerkennung und des Dankes, die Differenzen im Lebensstandard, erotische Gefühle bei Heldin Robina durch Automat Birne u. a.
- Noch zu zwei Dingen:
. Auf Seite 26/27 darf R. durch Robina sagen lassen, was R. unter Glück versteht (Hohe Tatra, Bergsee, Sprung ins kalte Wasser). Dabei betont R. eben nur eine Seite eines glücklichen Lebens, nicht mal die wesentlichste. Ich weiß nicht, sieht er nicht weiter oder passt besseres Arbeiten nicht zu seinem Arbeitsstil Bücher Markt fertig zu machen?
. Auf Seite 14 kommt eine Anspielung auf sein eigenes Lebensproblem, dass er sich als Mitglied unserer Gesellschaft nicht genügend als Persönlichkeit gefördert und gefordert sieht. Wem er mit diesen Passagen einen Dienst erwiesen hat, weiß ich nicht, und nicht, weshalb dieses Problem in seinem UNO-Kommunismus noch eine Rolle spielen soll.
Das, was da auf Seite 14 steht, ist R.-sche Zeitkritik an unserer Gesellschaft.
Zusammenfassung: Da R. offensichtlich nicht mit den komplizierten Problemen unserer Zeit, in unserer Gesellschaft aus der Sicht des subjektiven Faktors und der objektiv notwendigen Bedingungen in seiner Formung fertig werden kann, muss er zu so verschwommenen Zukunftsvisionen greifen. R. hat keine klare marxistisch-leninistische Weltanschauung.
In „Die große Grenze“ von Günther Krupkat wird die dramatische Geschichte einer Rettungsmission im Weltraum erzählt. Die Besatzung des Raumschiffs „Ikarus“ kämpft ums Überleben, während die Rettungsmannschaft der „AR-2“ unter der Führung von Chefpilot Gorowin alles daran setzt, sie rechtzeitig zu erreichen. Der folgende Auszug beschreibt die bedrückende Situation an Bord der „Ikarus“ sowie die entschlossene und hoffnungsvolle Suche nach dem verschollenen Raumschiff durch die „AR-2“:
Es ging zu Ende.
Die Beleuchtung in der Kabine des „Ikarus“ war erloschen. Nur noch die Skalen am Instrumentenbord glimmten und die Lämpchen der Funkanlage. Man hätte die Ersatzbatterien anschließen können, doch den Männern fehlte Kraft und Willen dazu.
Auch die Gravitationsmaschine hatte ausgesetzt. Die künstliche Schwere war geschwunden. Durch den kleinen Raum trieben allerlei Gegenstände wie in sanft strömendem Wasser: Carrys Schreibstift, ein paar Zettel, ein schwerer Schraubenschlüssel. Alles hatte sein Gewicht verloren. Auch die Männer. Sie verharrten in sonderbaren Stellungen auf ihren Plätzen, als hätte sie ein plötzlicher Tod überrascht und erstarren lassen. Aber noch lebten sie. Bewusstlos rangen sie um den letzten Rest atembarer Luft, und unter den kurzen Stößen der Lungen pendelten ihre Körper wie Leichen am Grunde des Meeres.
Harriman hob den Kopf. Das Weiß der aufgerissenen Augen leuchtete im Halbdunkel. Entsetzt schaute er auf Roberts, der halb auf dem Ruhebett lag, halb in der Luft hing. War der schon tot? Und Bosworth? Harriman streckte die Hand nach ihm aus. „Bosworth!“
Ein unverständliches Murmeln war die Antwort. Harriman beugte sich vor, versuchte Carry ins Gesicht zu sehen. Es war kalkig, mumienhaft. Die Lippen hatten einen violetten Farbton angenommen, „Bosworth!“, hauchte Harriman. „Die Sprengkapsel! Es hat … keinen Zweck mehr …“
Carry öffnete die Augen. Sein Blick glitt zum Bildschirm. „Bald … werden sie . .. hier sein, bald …“ Sein Kopf neigte sich, aber er blieb über den auf den Tisch gestützten Armen schweben. „Wir müssen ausharren, Harriman! In spätestens …“ Die Worte gingen in grässlichem Röcheln unter.
Zittern überlief Harriman. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Das Herz pochte schwer und drohend. Er stierte auf das Fernsehbild. Die Erde! Sie kam näher und näher. Der graue Fleck dort war der Ozean, die heilen Partien Kontinente, darauf grünliche Schatten … Wälder, weite, herrliche Wälder unter strahlendem Himmel. Und über allem der blaue Schleier. Luft, köstliche, reine Luft! Wie am Strande von Maystone …
Zur gleichen Minute gab die amtliche Nachrichtenagentur aus Utro bekannt: Das sowjetische Raumschiff AR-2 ist unter Führung des Chefpiloten Gorowin zur Rettung der „Ikarus“- Besatzung gestartet. Die AR-2 ist eine mit Ionenstrahltriebwerken ausgestattete Großrakete für interplanetare Flüge. An Bord befindet sich eine siebenköpfige Mannschaft, darunter die Raumfahrtmedizinerin Nina Saltkowa.
Als die Meldung in allen Ländern Stürme der Begeisterung auslöste, hatte sich die AR-2 schon weit von der Erde entfernt und zog mit abgestellten Motoren in einer großen Spirale um den Planeten.
Gorowin schritt den Mittelgang entlang. Er war zufrieden. Bis jetzt hatte alles tadellos funktioniert. Er musste an seinen ersten Raumflug denken. Damals, in der engen Behausung, die nicht viel mehr als eine geräumige Tonne war, hatte er davon geträumt, einmal in einem Raumschiff zu stehen. Nun war der Traum Wirklichkeit. Er ging durch sein Raumschiff und die Gedanken flogen voraus in die nächste Zukunft. Ja, jetzt würde die Weltraumfahrt beginnen, jetzt würde die große Grenze endgültig überwunden sein!
Er kam zum Steuerraum. „Alles in Ordnung?“, fragte er Murian, der als Zweiter Navigator die Programmsteuerung überwachte.
„In bester Ordnung!“, meldete Murian.
„Suchen Sie den ,Ikarus'?“, wandte sich Gorowin nun an Nina, die vor einem der Bildschirme stand. Sie gab sich vergeblich Mühe, ihre Aufregung zu verbergen.
„Ich sehe ihn noch nicht“, sagte sie ungeduldig.
Er lächelte. „Das können Sie auch nicht, denn er ist hinter uns.“
„Hinter uns?“
„Ja. Wir laufen vor ihm her.“
Nina krauste die Stirn. „Lassen Sie diese Scherze.“
„Keine Scherze, weise Medizinfrau. Die AR-2 liegt bald auf einer Kreisbahn, die erst im Perigäum dem Kurs des ,Ikarus' entsprechen wird. Dort werden wir ihn erwischen. Im Weltraum muss man eben oft seltsame Wege wählen, um zum Ziel zu kommen.“
„Diesen Punkt werden wir haargenau treffen?“, fragte Nina zweifelnd.
„Haargenau!“ Er schaute auf den Hauptchronometer. „In einer Stunde, vierzig Minuten und achtzehn Sekunden. Dafür sorgen schon unsere elektronischen Rechenmaschinen.“
Und stolz fügte Murian hinzu: „Die AR-2 ist ja ein Raumschiff, das heißt eine Rakete mit eigener vollautomatischer Navigation.“
Sinnend blickte Nina auf den Bildschirm. Über ihnen rollte ein Stück Erde mit dem australischen Kontinent hinweg. Unten im dunklen Firmament stand grellleuchtend die Mondsichel vor Wolken bunter Sterne. Nicht weit davon zog der orangefarbene Mars seine Bahn. Klar und fast greifbar nahe erschienen die Himmelskörper. Nina versuchte sich das Wiedersehen mit Carry vorzustellen. Würde er überhaupt noch leben? Oder kamen sie zu spät? Der „Ikarus“ antwortete nicht mehr! Sie schrak aus ihrem Grübeln auf, als Gorowin sagte:
In ihrem Werk „Märkischer Bilderbogen“ entführt Gisela Heller die Leser in die faszinierende Geschichte der Stadt Beelitz. Mit einem besonderen Fokus auf die bemerkenswerten Ereignisse und Persönlichkeiten, die diese Stadt geprägt haben, fängt sie den Charme und das Erbe eines Ortes ein, der weit mehr zu bieten hat als auf den ersten Blick sichtbar. Der folgende Auszug beleuchtet die besondere Verbindung von Beelitz zur Weltraumforschung und schildert ein lebendiges Volksfest, das die reiche Geschichte und das kulturelle Bewusstsein der Stadt feiert:
Beelitz hat das Ohr am Weltall. Es empfing aus dem Kosmos das erste Piepiep, mit dem Hühnchen Sputnik die Eierschale der Weltraumforschung aufpickte. Das Funkamt in Beelitz war damals in aller Munde. Manch einer mag sich deshalb eine Stadt der Wissenschaft und Technik vorgestellt haben und enttäuscht gewesen sein, einen Flecken vorzufinden, dem die bäuerliche Vergangenheit noch aus den Knopflöchern guckt. Aber man darf Beelitz nicht nach dem Durchfahreindruck beurteilen.
Beelitz ist ein Ackerbürgerstädtchen, aber eins mit Geschichtsbewusstsein und eins, das zu feiern versteht. Alle zwei Jahre arrangiert es ein großes Volksfest. Die Hauptattraktion war die Siebenhundertfünfzigjahrfeier, an der sich jeder Beelitzer, der Kopf und Beine hatte, auf irgendeine Weise beteiligte. Der Maler und Grafiker Kurt Verch hatte an den Quellen der Heraldik gegraben und das ursprüngliche Wappen, das vorhohenzollernsche, zutage gefördert. Roter Schlüssel auf weißem Grund, flankiert von zwei Halbmonden, das bedeutet, „die Stadt soll dauern vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen“. Eine seidene Fahne, auf die eine alte Beelitzer Bürgerin das Wappen gestickt hatte, wurde von Herolden dem historischen Umzug vorausgetragen. Ihnen folgten die Bauern aus Zauchwitz mit der „750“ in der Standarte und – in prächtig mittelalterlichen DEFA-Kostümen – die Dorfschulzen aus Markendorf, Niendorf und Dorf im Ritterfeld. Diese drei Ansiedlungen gehörten nämlich dem „amtierenden“ Ritter Beliz, nach dem das Städtchen später seinen Namen bekam. Es war so armselig, dass ihm der Kurfürst zeitweilig die Abgaben erließ, nur der Erzbischof von Magdeburg, der nie genug kriegen konnte, schickte seine Leute aus, um den Zehnten einzutreiben. (Es hatte einige Überredungskünste gekostet, bis der Handwerksmeister Fritz Lamster bereit war, die Rolle des Zehnteneintreibers zu spielen.)
Die Bauern aus Stücken kamen mit Beutewagen daher, als Landsknechte verkleidet, Männer, Frauen und Kinder als Geiseln mit sich führend. Die hatten Mühe, bei all dem ausgelassenen Treiben ein angemessen trauriges Gesicht aufzusetzen, stellten sie doch die letzten Seelen des schrecklichen Überfalls dar, bei dem 1478 Beelitz in einen Trümmerhaufen verwandelt wurde.
Mittelalterlich erschien auch der Spielmannszug aus Seddin, die Gilde der Stadtpfeifer markierend. Die Handwerksmeister und Gesellen der Stadt Beelitz ließen es sich nicht nehmen, in die unbequemen Trachten ihrer Zunft zu steigen. Die Bäcker schleppten ein Achtpfundbrot, die Lehrlinge schrien hurra! und warfen mit Brezeln um sich, und Fleischermeister Rösler trug heroisch sein Dreizentnerlebendgewicht über die drei Kilometer lange Umzugsstrecke. So weit war er wohl schon lange nicht mehr gelaufen, aber was tut man nicht alles für seine Stadt …
Der zweite Bürgermeister, Manfred Polenz, war mit seinen ein Meter neunzig prädestiniert, einen langen Kerl zu spielen. (Wie viele der armen langen Kerls wurden hier, kurz vor der rettenden sächsischen Grenze, noch erwischt und nach Potsdam zum Spießrutenlaufen gebracht.) Barockgekleidete Damen und Herren, eingepfercht in die aufgemöbelte Niemegker Postchaise, kündeten davon, dass allhier im Jahre 1724 auf der Route Berlin–Beelitz–Halle–Leipzig eine Posthalterei eröffnet wurde. Die Posthalterei ist neu hergerichtet, da steht deutlich lesbar: Expedition und Passagierstube, und über dem Torbogen schwebt frisch lackiert der toppschwarze Postadler. Weiter im Zuge konnte man den Beelitzer Landsturm bewundern, in stilgerechten Monturen aus den Befreiungskriegen. Es fehlte auch nicht jener legendäre Feldhüter Koppe, der damals den Tettenbornschen Reitern entgegenging, um zu berichten, wo die sechzehntausend Napoleoner ihr Lager aufgeschlagen hatten. Auf Pfaden, die nur den Einheimischen bekannt waren, führte er sie durch die sumpfigen Niederungen der Nieplitz in die Flanke des völlig überraschten Feindes. So blieb die Stadt für dieses Mal verschont.
Ein Eisenbahnmodell dokumentierte, dass Beelitz im Jahre 1868 Bahnanschluss bekam. Damen und Herren Reisende wurden gebeten, pleureusengeschmückte Hüte und Zylinder während der Fahrt festzuhalten und zur anschließenden Reinigung ein Fläschchen Eau de Cologne mit sich zu führen.
Nicht vergessen sei aus jenem historischen Zug die lebendige Erinnerung an Karl Friedrich Wilhelm Herrmann, der zum ersten Male Spargel anbaute und den Grund legte für den guten Ruf der Stadt bei allen Feinschmeckern des In- und Auslandes. Aber ach, der Spargel ist heute bei den Beelitzern als zu arbeitsintensiv verschrien, und solange kein automatischer Spargelstecher erfunden ist, wird er wohl hierzulande eine Rarität bleiben …
Kehren wir mit dem Lehrer Günther Hesse, der diesen lehrreichen und vergnüglichen historischen Umzug einfädelte, zurück in die Gegenwart. Hesse ist echter Beelitzer, mit Nieplitzwasser getauft. Als er geboren wurde, 1930, gab es im Städtchen eine einzige ansehnliche Fabrik, sie gehörte Fabian und Meyer, und es wurden darin Rucksäcke und Gamaschen hergestellt. Bis 1936. Dann kam Dr. Hugo Drenker, der besaß neben einer arischen Großmutter – die Fabian und Meyer nicht vorweisen konnten – auch genügend Ehrgeiz, um sich rasch bei allen Beelitzern gefürchtet zu machen. Er stellte den Betrieb auf Obst und Gemüse um, und in dem Maße, wie sich Butter in Kanonen verwandelte, stieg seine Marmelade in Wert und Ansehen.
Mit Holzschemel und Küchenmesser als Produktionsmittel schufen Hunderte fleißiger Frauen dem sauberen Herrn ein Vermögen. Die billigsten Arbeiterinnen waren die polnischen Mädchen, die in plombierten Viehwaggons kamen. Sie kosteten fast gar nichts, und wehe, sie bewegten sich nicht flink genug … Niemand wagte, Drenker zu widersprechen, seit er zum Hauptgoldfasan der Stadt aufgestiegen war. Die Macht machte ihn blind und taub. Noch am 22. April 1945 ernannte er den damals vierzehnjährigen Günther Hesse zu seinem „Adjutanten“, drückte ihm eine Panzerfaust in die Hand, beschlagnahmte dem nächstbesten Passanten das Fahrrad und befahl dem Knaben, unverzüglich nach Dobbrikow zu fahren, dort den ersten der herannahenden sowjetischen Panzer abzuschießen und auf schnellstem Wege zurückzukehren mit der Meldung, sofort auch in Beelitz die Panzersperren zu schließen. Zum Glück sagte Günther vorher seiner Mutter Bescheid. Die nahm ihn am Schlafittchen, schloss Fahrrad und das Dingsda weg und sperrte den Jungen ein, denn sie wollte ihn nicht in letzter Minute auf so widersinnige Weise verlieren.
In derselben Nacht aber requirierte der Goldfasan ein anderes Fahrrad, streifte seine verräterischen goldenen Federn ab und strampelte unerkannt in die Richtung, wo er die US-Army vermutete. Zwölf Jahre später, 1957, schrieb Frau Drenker, sie beabsichtige, die Fabrik zu verkaufen, und man solle ihr zu diesem Zwecke die Einreiseerlaubnis schicken. Der Brief wurde der Stadtverordnetenversammlung vorgelegt und erregte allgemeine Heiterkeit. Am herzhaftesten aber lachte der Stadtrat für Kultur und Lehrer für Geschichte, Günther Hesse.
Was war denn nach dem überstürzten Abgang des Dr. D. geschehen? Am 24. April hatte die Rote Armee Beelitz eingenommen, ohne dass ein Schuss gefallen war. Die Bäcker buken schon wieder Brot, das Wasser sprudelte schon wieder aus der Leitung, alle Fensterscheiben waren noch heil. Das große Aufatmen hatte begonnen. Über die Schwelle des Hauses, in dem Frau Hesse mit ihren Kindern gut über alle Schrecken hinweggekommen war, trat ein junger Fliegeroffizier, brach das Brot mit ihnen und sagte strahlend: „Nu, morgen Tag schjon! Krieg bald zu Ende!“
Stattdessen begann die zusammengewürfelte Armee des Generals Wenck den Sturm auf Beelitz. Die sowjetischen Soldaten, die mit einem solchen Akt des Irrsinns wohl nicht gerechnet hatten, griffen mit Erbitterung zu den Waffen, Flugzeuge kamen zu Hilfe, ein Sturm aus Feuer und Eisen brach los. Als es wieder still wurde, fand man in den Wäldern zwischen Borkheide und Beelitz zweihundertfünfzig tote deutsche Soldaten, die meisten davon nicht viel älter als Günther.
Man kann sich heute kaum noch vorstellen, welches Chaos hinterlassen wurde, aber ein Mann wie Wilhelm Masthoff, Mitglied der KP seit 1929, weiß es anschaulich zu schildern. Angeklagt wegen Vorbereitung zum Hochverrat, kam er dann ins Zuchthaus Luckau, später nach Sachsenhausen. Fünfundvierzig kehrte er als freier Mann nach Beelitz zurück, nahm sich jedoch nicht die Zeit, sein geschundenes Herz auszukurieren und sich ein paar Gramm Fett auf den ausgezehrten Körper zu futtern. Als Bezirksbürgermeister war er verantwortlich für die Stadt und vierunddreißig Dörfer. Viele Nächte verbrachte er auf unbequemen Sitzsofas in irgendwelchen Dorfgasthöfen, an den Schreibtischen in fremden Bürgermeisterstuben. Oft lag seine Frau zu Hause schlaflos, weil sich in den Wäldern nach Borkheide lichtscheues Gesindel herumtrieb, das es vor allem auf Leute abgesehen hatte, die versuchten, Ordnung in das Chaos zu bringen. Übers Wochenende fuhr er mit ein paar Helfern ins Braunkohlenrevier nach Senftenberg, um mit eigenen Schaufeln Kohlen aufzuladen, damit die Bäcker am Montag wieder backen konnten.
Eines Morgens stand er früh um vier im Kuhstall einer Großbäuerin in Rieben. „Du sagst, deine Kuh gibt so wenig Milch?“ – „Ei ja, hat doch nichts Rechtes zu fressen. Zweieinhalb Liter, mehr gibt sie nicht her, ich kann’s Ihnen ja vorführen!“ Sie setzte sich auf den Schemel, und tatsächlich, nach zweieinhalb Litern versiegte der weiße Strahl. Triumphierend hielt sie ihm den Eimer hin. „Na, dann werde ich ihr mal gut zureden“, sagte Wilhelm Masthoff, hockte sich auf den Schemel und molk noch ganze acht Liter heraus. „Nehmen Sie mich jetzt mit?“, jammerte die Frau. „Nee“, sagte er, „was soll ich mit dir im Kittchen, melk du man lieber besser. Acht Liter will ich jetzt jeden Tag von der Kuh. Himmeldonnerwetter, habt ihr kein Herz, es ist doch nicht für mich, sondern für die Beelitzer Kinder!“
Im Nu sprach sich in allen Dörfern herum: „Der neue Bürgermeister kann melken!“ Und die Kurve in der Milchablieferung stieg zusehends.
Bei einem Müller vermutete er hinter einem verschlossenen Lattenverschlag etliche Zentner Brotgetreide. Der Müller tat beleidigt, als wüsste er von nichts. Bis der Schlosser kommt, um das Schloss aufzumachen, hab ich die Säcke längst in Sicherheit, dachte er. Doch der Bürgermeister war gelernter Schlosser, er öffnete das Schloss mit Leichtigkeit und klopfte dem Müller fröhlich auf die Schulter. „Sieh her, Alterchen, sechzig Säcke mit kostbarem Brotgetreide! Du weißt gar nicht, was du für Schätze in deinem Schuppen hast, aber die Staatsmacht weiß es!“
Gisela Pekrul entführt uns in ihrem Kinderbuch „Von 2023 nach 1650: Eine unglaubliche Reise der Schweriner Brüder“ auf eine packende Zeitreise, in der zwei Brüder aus dem 21. Jahrhundert sich plötzlich in der Vergangenheit wiederfinden. In einer Welt voller Gefahren und fremder Bräuche müssen sie sich behaupten und überleben. Der folgende Auszug beschreibt einen dramatischen Zwischenfall, der die Spannung und die Herausforderungen, denen sich die Brüder stellen müssen, eindrucksvoll verdeutlicht:
Ein unerwarteter Zwischenfall
Endlich verlassen der Stadtwächter und der Büttel die Hütte. Alle atmen auf, wagen aber noch nicht zu sprechen, weil sie nicht wissen, ob die beiden Männer vor der Tür lauschen. Nach einer gefühlten Ewigkeit traut sich der Vater aus der Tür und sieht sich misstrauisch um. Die gefährlichen Männer betreten gerade die Brücke über den Stadtgraben. Die umstehenden Hütten sind alle geschlossen. Offensichtlich steckt ihren Bewohnern auch noch der Schreck über die unerwarteten Besucher in den Gliedern.
„Eilt, aber passt auf, dass Euch keiner aus den anderen Hütten sieht, vor allem keiner von den Habersacks. Schleicht Euch zur Brücke und mischt Euch unter das Volk, das aus den Stadttoren strömt. Gebt vor, als wärt Ihr Teil einer der Familien, die zum Richtplatz drängen. Redet nicht übermäßig, Eure Zunge klingt zu fein für uns schlichte Leute. Wir werden Euch in einigem Abstand folgen. Es darf nicht bekannt werden, dass wir uns gesehen haben. Gott mit Euch!“
Die Jungen eilen hinaus, sehen sich neugierig um und entdecken mehrere solche kleinen Holzhäuser mit einem Dach aus Stroh. Die Hütten haben nur kleine Öffnungen statt Fenstern und werden durch roh aus Brettern gezimmerten Türen verschlossen. Schornsteine gibt es nicht, aber sie haben ja schon gesehen, dass der Rauch durch ein Loch im Dach entweicht. „Meine Sachen riechen nach Rauch. Erst jetzt merke ich, wie es in der Hütte gestunken hat“, sagt Joshua leise zu seinem Bruder.
Noah lacht: „Mama hätte schnell alle Fenster aufgerissen, damit frische Luft reinkommt. Doch es gibt ja nur ganz kleine Öffnungen als Fenster.“ Ernsthaft fügt er hinzu: „Wir haben gesehen, wie arm die Menschen sind. Alle leben in einem einzigen kleinen dunklen Raum, sitzen und schlafen auf Stroh und kochen auf offenem Feuer. Und trotzdem haben sie uns geholfen.“
Beinahe vergessen die Jungen über alldem, wovor der Mann sie gewarnt hat. Sie sehen vor sich die Brücke über den Stadtgraben, links und rechts die hohe Stadtmauer und am Ende der Brücke den hohen Wehrturm. Was sie von der Stadt im Hintergrund erblicken, ist ihnen völlig fremd.
Die beiden kommen unerkannt bis zur Brücke. Joshua denkt daran, wie sie zähneklappernd aus dem Fluss gestiegen sind. „Das waren gute Menschen. Wir konnten uns so schön aufwärmen. Die wollene Decke schützt uns vor der Kälte und meine Sachen sind fast trocken“, frohlockt Joshua.
„Sei leise“, flüstert Noah.
Ein nicht enden wollender Strom von Menschen, Karren und Reitern bewegt sich von der Brücke entlang der Felder Richtung Nordwesten. Sie drängen sich dazwischen, und fühlen sich in der großen Menschenmenge ziemlich sicher. Sie fallen mit der Decke, die ihre schwarzen Locken, die Kleidung aus dem 21. Jahrhundert und die bunten Schulranzen bedecken, nicht auf. Viele sind ähnlich wie die Familie, die sie in ihrer Hütte versteckt hatte, gekleidet. Oft sind die Sachen schmutzig, mit großen Flicken versehen oder gar zerrissen. Die Gesichter sind hinter großen Hüten verborgen. Andere wiederum schützen sich vor der Kälte ebenfalls mit einer umgehängten Decke. Einige sehr vornehm gekleidete Herren oder Damen reiten auf Pferden.
Die beiden Jungen sehen sich erstaunt um und sprechen leise miteinander: „Das müsste doch die Wismarsche oder Lübecker Straße sein. Wir waren hier oft mit Mama unterwegs oder sind mit der Straßenbahn vom Marienplatz aus gefahren.“ „Jetzt ist es noch ein ungepflasterter Weg voller Pferdeäpfel und Kuhfladen, zwischen Feldern und vereinzelten kleinen Hütten.“ „Das Kino, die Bibliothek und der Bahnhof sind auch weg.“ „Nirgends ein Geschäft oder eine Gaststätte!“ Abwechselnd flüstern sie sich verwundert ihre Eindrücke zu.
Noah dreht sich kurz um, da trifft sein Blick den des Jungen, der ihnen beim ersten Versuch, ins Warme zu kommen, die Tür sofort wieder zugeschlagen hat. Er versucht, sich weiter vorn in der Menge zu verstecken, doch da schreit der Junge schon: „Da sind die beiden schwarzen Teufel. Sie werden uns alle holen.“
Sofort entsteht unter den Menschen, die sich bisher munter plaudernd hinter- und nebeneinander auf dem schmutzigen Weg vorwärtsbewegt haben, große Unruhe. Ängstlich weichen die Leute vor den beiden zurück, denn keiner will vom Teufel berührt werden. Viele murmeln leise Gebete oder bekreuzigen sich. Noah zieht seinen kleinen Bruder in schnellem Lauf an den aufgeschreckten Menschen vorbei weiter nach vorn. Zurück können sie nicht und die abgeernteten Felder seitlich bieten erst recht keinen Sichtschutz. „Vielleicht gibt es bald einige Bäume und Sträucher, hinter denen wir uns verstecken können“, denkt Noah. Diese kleine Unaufmerksamkeit reicht aus, dass er vor sich einen großen Mann übersieht und mit ihm zusammenstößt. Der Große schimpft schrecklich und versucht, Noah zu packen. Der Junge erschrickt, wendet instinktiv einen Karategriff an und streckt den kräftigen Mann nieder.
Nun ist erst recht alles in Aufruhr. „Das ist des Teufels Werk, Hexenkunst! Ergreift ihn!“, schreien alle durcheinander. Während einige sich um den wie tot auf dem Weg liegenden Mann kümmern und andere ihn nur erstaunt anstarren, ist Joshua heimlich auf einen Ochsenkarren geklettert, hat sich hinter einem großen Fass versteckt. Noah tut es ihm gleich.
Die Menge tobt nun erst recht, weil die Jungen verschwunden sind. „Ich hab's mit eigenen Augen gesehen, wie sie durch die Lüfte sausten“, ruft einer. „Der Teufel hat sie sicherlich wieder zu sich geholt“, meint ein anderer.
Niemand entdeckt die beiden auf dem Karren, nicht einmal der Bauer, der neben dem Karren einhergeht, und so nähern sie sich unbehelligt dem Richtplatz. „Ich hab furchtbare Angst, dass man uns entdeckt“, jammert Joshua leise. „Ich glaube nicht, dass sie Kinder wirklich auf dem Scheiterhaufen verbrennen“, versucht ihn sein Bruder zu beruhigen.
Hinter ihnen sehen sie einen vornehm gekleideten Reiter, der in heftigem Galopp auf den Wagen zureitet, ohne sich um die vielen Leute und Karren zu kümmern. Die Menschen springen schnell zur Seite, Zugtiere werden unruhig, und der Bauer weicht rasch mit seinem Ochsenkarren auf das Feld aus. Dabei übersieht er einen großen Stein, beinahe schon ein Felsen. Ein heftiger Ruck lässt das Fahrzeug erzittern, die Deichsel mit dem Ochsen löst sich und das Gefährt saust ungebremst den Hang zum Richtplatz hinunter, in die dort dichtgedrängte Menge hinein. Der Bauer läuft wild gestikulierend seinem Wagen nach, erreicht ihn aber nicht mehr. Ein Mann versucht, den Wagen aufzuhalten, wird jedoch von dem immer schneller rollenden Gefährt zur Seite gedrückt und setzt sich mitten in einen Kuhfladen. Lautes Gelächter der Umstehenden ist der Lohn für sein Pech.
Die Jungen haben keine Freude an dieser Komik. Schon als der Karren in Bewegung geriet, spürten sie, wie die Fässer hinter ihnen ins Rutschen kamen. Das Geräusch von knirschendem Holz und das Klappern der Fässer wird immer lauter. Joshua, der weiter hinten sitzt, spürt, wie ein Fass gegen seine Beine stößt. Er versucht, es mit den Füßen wegzudrücken, aber es ist zu schwer.
„Noah, hilf mir!“, ruft er voller Panik.
Kommen wir noch einmal auf die letzten Sätze der Einführung von Christa Johannsen für ihr Buch über Einstein zurück, für das sie vielleicht gar keinen Verlag mehr finden wollte: „Gott spielt nicht Würfel – wie stolz das klingt. War Einstein gottgleich? Er war ein armer Teufel – und sonst nichts. Wir kommen darauf zurück.“ Das klingt tatsächlich sehr merkwürdig, unverständlich und wie eine Provokation.
Jahrelang hat sie sich mir Einstein beschäftigt, regelrecht gequält und dennoch keinen Abschluss ihrer letzten literarischen Arbeit gefunden. Dennoch lohnt es sich, sich Zeit für diesen Einstein zu nehmen.
In diesem Zusammenhang soll noch daraus verwiesen werden, dass auch das Leben von Christa Johannsen viele widersprüchlich Geheimnisse hatte, die erst viel später zum Teil ans Licht gekommen sind. Mehr dazu findet sich in „Christa Johannsen – ein erfundenes Leben. Ein Schriftstellerinnenleben im 20. Jahrhundert“, das der Herausgeber ihres Einstein-Manuskriptes, Albrecht Franke, erstmals 2019 veröffentlich hat. Vom Verlag hieß es dazu:
Die Schriftstellerin Christa Johannsen (1914–1981) war in der DDR etabliert: mit zahlreichen Veröffentlichungen, diversen Auszeichnungen, der Mitarbeit im Schriftstellerverband und in der CDU. Sie engagierte sich für eine Literatur ohne Bevormundung und den literarischen Nachwuchs, leitete „Zirkel schreibender Arbeiter“ und in den frühen 1970er Jahren die Gruppe „Junge Prosaisten“.
Einer ihrer damaligen Schüler, Albrecht Franke, hat ihrem Leben nachgespürt und dabei festgestellt, dass er seine einstige Lehrerin überhaupt nicht kannte. Er stößt unter anderem auf Texte aus der NS-Zeit, einen höchst zweifelhaften Doktortitel, politische Lobhudeleien in der DDR und unter Pseudonym veröffentlichte Gegenreden im Westen.
Franke entwickelt eine ebenso ungewöhnliche wie typische Biografie des 20. Jahrhunderts. Einen tragikomischen Lebenslauf zwischen Verbergen und Anpassen, aber ebenso zwischen Aufmucken und unkonventionellem Lebensstil. So entsteht nicht nur die Erzählung eines Lebens, sondern eine Geschichte der Literatur des früheren Bezirkes Magdeburg, der DDR und Deutschlands.“
Bleiben Sie ansonsten weiter vor allem schön gesund und munter und der Welt der Bücher gewogen. Die neue Ladung an Sonderangeboten ist schon versandfertig.
In der nächsten Woche wartet auch „Das Haus an der Milchstraße“ von Siegfried Maaß auf Leserinnen und Leser, das erstmals 2008 veröffentlicht worden war: Wenige Jahre nach dem Ende des letzten großen Krieges in einer ostdeutschen Kleinstadt. Steffens Vater befindet sich noch immer in sowjetischer Gefangenschaft, und der Zwölfjährige hofft täglich auf die Nachricht von dessen Heimkehr. Inzwischen hat sich ein Fremder bei ihnen breit gemacht und zwingt ihm ein ungewohntes Leben auf. Seine Mutter ist schwanger. Zunächst freut er sich. Das Neugeborene empfängt er feierlich mit einer Girlande. Aber bald spürt er, dass die „halbe Schwester“ seiner Mutter scheinbar mehr bedeutet als er …