So erzählt Helga Schubert in ihren ganz besonderen „Schöne Reise“-Geschichten von Frauen, die sich was trauen und sich nicht an Vorschriften halten. Ein uraltes Genre der Unterhaltung bedient Steffen Mohr mit seinen Rätselkrimis oder Krimirätsel unter dem Titel „Im Auftrag des Herrn“, in dem er seinen Kriminalkommissar Gustav Merks diesmal auf christliche Pfade schickt – und den Leser auf Lösungswege. Fantasy-Fans werden fündig bei dem Romandebüt „Nadja Kirchner und die Raben aus der geheimnisvollen Senke“ von Johan Nerholz, wo mehr zwischen Himmel und Erde passiert, als man auf den ersten Blick vermutet. Wer sich auf dieses nahezu perfekt formulierte Changieren zwischen Wirklichkeit und Über-Wirklichkeit einlassen kann, der wird an diesem Buch und seinem inzwischen ebenfalls erschienenen Nachfolger großen Spaß haben. Apropos Spaß. Keinen Spaß macht der Hauptfigur die Anfangsszene in dem Buch „Ein Schmetterling aus Surinam. Die Kindheit der Maria Sibylla Merian“ von Ingrid Möller. Schließlich ist das, was die kleine Maria Sibylla da tun soll, für sie ziemlich unangenehm, unbequem und langweilig. Mehr dazu weiter unten. Bleibt schließlich noch das fünfte und letzte der fünf Sonderangebote dieser Woche, in dem Klaus Möckel seinen Berufskollegen, den Schriftsteller Rubin, „Die geheimnisvolle Einladung“ bekommen lässt. Geheimnisvoll ist sie vor allem deshalb, weil … - aber Halt! Halt!, würde wohl Kriminalkommissar Merks, der philosophierende Ermittler, jetzt energisch dazwischenrufen, nicht vorsagen lassen, sondern selber lesen! Und da hat er natürlich vollkommen recht. Sonst bringt man sich doch recht eigentlich um das schönste Vergnügen.
Fehlt jetzt nur noch die Antwort auf die eingangs dieses Newsletters gestellte Frage: Gibt es möglicherweise etwas, das allen fünf Deals der Woche gemeinsam ist, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de eine Woche lang (Freitag, 09.03.18 – Freitag, 16.03.01.18) zu jeweils stark reduzierten Preisen zu haben sind? Aber natürlich gibt es etwas: Es ist die Verführungskraft, die in allen fünf Titeln steckt, die Verführungskraft zum Lesen. Oder etwa nicht? Schöne Reise …
„Schöne Reise“ – unter diesem Titel erschienen erstmals 1988, ein Jahr vor der friedlichen Revolution in Ostdeutschland, im Aufbau Verlag Berlin und Weimar 14 Geschichten von Helga Schubert. Es sind Geschichten von Fernweh und Sehnsucht, von Ausbrüchen und Übertretungen, von Leuten, die nicht im Geschirr liefen, und immer wieder von Frauen, die sich was trauen. Und die schöne Reise wird erst dadurch schön, dass sich die beiden vertrauten Liebenden an keine unnötigen Vorschriften halten. Und so fängt diese Reise an – pardon, die erste der insgesamt 14 Geschichten, die dem gesamten Buch seinen Namen gab:
„Schöne Reise
Dieses Vorhaben verschwiegen wir lieber. An das südliche Meer zu fahren und nicht an das nördliche. An das südliche, und dann noch im Sommer, wenn alle bloß dorthin fahren, weil sie braun werden wollen und sagen können, im Urlaub, ach, da waren wir im Süden. An das südliche Meer, und dann nicht mit dem Auto und auf einen Campingplatz, nicht einmal zu Freunden, die einem die Wohnung zur Verfügung stellen. Sondern mit dem Reisebüro.
Aber wir sollten in einem Bungalow wohnen, nicht in einem Hotel. Und wir fuhren schon im Juni, sogar noch am letzten Maitag. Da war Vorsaison. Wir nahmen ein Wörterbuch mit. Das zu unserer Entschuldigung.
Der Abflug war ein paar Minuten vor Mitternacht. Treffpunkt schon ein paar Stunden vorher. So konnten sich alle Teilnehmer der Reisegruppe gegenseitig besichtigen. Vier Frauen reisten allein. Sie saßen an den vier äußersten Ecken im Wartesaal und beäugten sich. Mit welcher der drei anderen will ich den Bungalow teilen, fragte sich jede. Denn je zwei sollten zusammen wohnen. Die meisten waren Vorsaisonurlaubsehepaare. Ohne schulpflichtige Kinder. Oder Freundinnen mit ihrer Freundin. Nur zwei junge Männer reisten allein. Sie hatten keine andere Wahl als sich selbst. Und saßen schon zusammen, gottergeben. In der Hochsaison bekamen sie bestimmt vom Betrieb keinen Urlaub. Warum also nicht in der Vorsaison fahren und hundert Mark einsparen.
Noch zwei Männer warteten zusammen auf das Flugzeug. Sie hatten Tonbandgeräte und Kameras umgehängt, saßen als einzige an der Flughafenbar, tranken Whisky und waren gut gelaunt. Mit ihnen musste was nicht stimmen. Und das zeigte sich schon bei der Passkontrolle. Sie waren Einzelreisende, beruflich unterwegs, auf keine Urlaubsbekanntschaft angewiesen. Sie kamen nicht in Betracht, und die vier einzelnen Damen sahen nicht mehr hin.
Dann wurde unser Flugzeug aufgerufen. Eigentlich saßen wir schon an der Tür, vor der wir uns anstellen sollten. Doch plötzlich standen viele vor uns. Und als die Tür geöffnet wurde, stürzten sie zum Flugzeugbus. Wir waren klug und stiegen als letzte ein, um als erste aussteigen zu können. Das gelang auch, aber die anderen überholten uns wieder im Laufschritt. Mit ungehaltenem Blick ließen sie nur die Mütter mit ihren kleinen Kindern vor.
Und das auch nur, weil die Stewardess darauf bestand. Die Einzelreisenden wollten mit uns nichts zu tun haben und blieben etwas abseitsstehen. Sie tauschten mit der Stewardess einen spöttischen Blick. Aber das hatten sie davon: Sie mussten im Flugzeug nach zwei leeren Plätzen suchen. Und saßen weit auseinander. Die guten Drängler saßen links in Zweierreihen und die schlechten rechts in Dreierreihen. Wir fanden noch hintereinander zwei Plätze im Gang. Zum Trost war es ein wolkiger Nachtflug, und wir versäumten nichts.
Angst vorm Abstürzen schien außer uns keiner zu haben. Als später die Stewardess den Namen des Flugkapitäns nannte, verschwanden auch unsere Bedenken. Mit einem Kapitän, der einen solchen Namen hat, stürzt man nicht ab. Wie klingt das in der Zeitung. Die Stewardess sagte auch, wie sie und ihre Kollegin heißen und wohin wir flogen. Nachdem wir uns abschnallen durften, wurden alle unruhig. Wo bleibt das Essen. Wofür haben wir diesen teuren Preis bezahlt. Die Stewardessen blieben freundlich und sagten durch den Bordlautsprecher: Wir haben für Sie einen kleinen Imbiss vorbereitet.
Dann soll sie das doch nicht über Lautsprecher ankündigen. Langweilige Gesellschaft. Endlich kommt Bier. Bier oder Saft, fragte die Stewardess. Dann folgte der zellophanverpackte Imbiss. Die vorn saßen, erhielten ihn zuerst. An uns ging die Stewardess viele Male mit vollem Tablett vorbei und kehrte mit leerem wieder. Ich wollte mich vorn hinsetzen, aber es musste ja nach dir gehen, sagte ein Ehemann. Doch auch er bekam sein Tablett und sein Bier, aß schnell und schob das Tablett von sich. Wo bleibt sie denn, so was muss doch abgeräumt werden. Es gab auch Kaffee. Mir goss die Stewardess den heißen Kaffee über die Hose. Aber die war schwarz, und die Stewardess brachte gleich eine andere Tasse.
Durch das Mikrofon wurde bekannt gegeben, dass der Himmel jetzt wolkenlos sei. Wir standen auf und wollten durch die Bullaugen die klare Nacht sehen. Doch die Bullaugen gehörten denen, die daran saßen. Das sah man an ihrem Blick. Erst als wir uns wieder setzten, schliefen sie ein.
Dann sollten wir unsere Uhren vorstellen, wir waren angekommen. Die Polizei und der Zoll waren müde und schliefen gleich weiter. Draußen standen zwei Busse. Wir nahmen den Kampf auf und waren die ersten im Bus. Die wenigen Vornehmen blieben in der Kälte und warteten auf den dritten Bus. Der kommt noch, sagte die Dolmetscherin.“
EDITION digital veröffentlichte 2013 das E-Book „Im Auftrag des Herrn. Spannende Rätselkrimis für aufgeweckte Christenmenschen“ von Steffen Mohr: Wer hat die wertvolle historische Bibel gestohlen? Wer steckt hinter dem Einbruch im Pfarrhaus? Und wie kann die Explosion auf dem Weihnachtsmarkt in letzter Minute verhindert werden? 45 knifflige Kirchenkrimis gilt es aufzuklären. Der sympathische Kriminalkommissar Gustav Merks findet dank seiner guten Spürnase jeden Täter. Doch die Lösung wird nicht sofort verraten. Rätseln und kombinieren Sie mit! Der entscheidende Hinweis zur Lösung ist in jedem Fall versteckt. Bei genauem Lesen und mit etwas Logik finden Sie die Antwort. Falls es doch einmal zu schwierig wird, schauen Sie einfach im Lösungsteil nach. Dort wird jeder Täter enttarnt und der Lösungsweg kurz beschrieben. Ein herrlicher Rätselspaß für kleine und große Detektive. Also machen wir uns auf den Weg, den ersten Lösungsweg:
„1. LEICHE IM ABRISSHAUS
Das Zimmer, in dem der Ermordete zur Miete und später schwarz gewohnt hatte, befand sich in einem dem Abriss preisgegebenen Haus. Die Straße entlang und rundum in der Gegend waren die Häuser bereits renoviert. Nur diese Ruine stand noch da wie ein Mahnmal für die vergangene Zeit, in der die Leute anspruchsloser lebten. Übrigens war Edmund Holz, ein Penner, der letzte Bewohner des Hauses gewesen. Mit Edmunds Tod schien auch das Schicksal des Hauses endgültig beschlossen.
Februar war es, die Luft schneidend kalt. Trotzdem geriet der rundliche Kommissar mit der Knollennase beim Aufstieg zu Edmunds Dachbude ins Schwitzen. Sport müsste ich treiben, um abzunehmen, dachte er. Aber bitteschön - wann?
Der Mann war erstochen im Bett am Fenster aufgefunden worden, eben schafften die Träger die Leiche hinaus. Als die geläufigen Rituale der Spurensicherung absolviert waren, schickte Kommissar Merks die Techniker und den Fotografen weg. Der Leichenschauarzt war schon früher zum Mittagessen gegangen. Nun stand Merks allein in dem nach abgestandenem Zigarrenrauch und Bier riechenden Raum. Nachdenklich zupfte er sich an seiner prächtigen Knollennase.
Schwaches Sonnenlicht fiel durch die eine Ewigkeit lang ungeputzten Scheiben. Die Tatwaffe - der Stichwunde nach zu urteilen offenbar ein langes Küchenmesser - war nicht gefunden worden. Wahrscheinlich hatte der Täter sie mitgenommen und danach verschwinden lassen. Auch das Motiv der Tat musste zunächst im Dunkel bleiben, da beim Opfer weder Geld zu vermuten war, noch irgendwelche Details über seine Freunde oder Feinde bekannt waren.
Eine Affekthandlung im Suff vielleicht?, fragte sich Merks. Oder ein Verwandtschaftskonflikt, bei dem ein Erbe beseitigt wurde? Doch über Edmunds Verwandte wusste er bis jetzt so wenig wie über alle anderen Dinge. Sicher war der Täter einer der Stadtstreicher gewesen, mit denen der Tote zu Lebzeiten ständig am Kiosk zu sehen war. Die waren es auch, die sein Verschwinden der Polizei gemeldet hatten. Merks hatte sie alle vernommen. Ohne Ergebnis. Der Kommissar sah sich im Zimmer um. Es handelte sich um eine Art Wohn- und Schlafküche. Außer dem ramponierten Küchenbuffet, Marke Eschenbach, der Spüle, dem dann und wann wild ratternden Kühlschrank, einem wackligen Tisch, zwei Stühlen und der Matratzengruft bot die Einrichtung keine Auffälligkeiten.
Doch! Im rosa Plastikrahmen stand ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Foto auf dem Büffet. Unpassend klein wirkte das auf dem rosa Karton. Es zeigte einen kniestrümpfigen Knaben mit der Erstkommunionkerze in der Hand. Auf eine Kartonecke hatte jemand – offenbar Edmund selbst - gekrakelt: „O seelik, o seelik, ein Kind noch zu sein ...“
Lieber Gott, dachte Merks, jetzt hast du dein Kommunionkind ja wieder. Aber gleich schüttelte er den dicken Schädel mit der Halbglatze. Nicht zum Nachdenken über die Ewigkeit war er hier. Auf der Fensterbank standen zwei Töpfe mit Alpenveilchen aus Plastik.
Merks fuhr herum. Hinter ihm war plötzlich eine Person in die offen stehende Wohnung getreten. Ältere, robuste Frau, Trinkerin, wie man roch. Mit dumpfem Gesichtsausdruck blieb sie im Türrahmen stehen.
„Wer sind Sie und was suchen Sie hier?“
„Genau dasselbe könnte ich Sie fragen“, krächzte die Matrone.
„Wo ist Eddie?“
„Sie wollten Edmund Holz besuchen?“
„Wen sonst? Ich bin seine einzige Schwester und komme jeden Monat hier vorbei, die Bude sauber zu machen.“ Sie brannte sich eine Zigarette an, verschluckte sich gleich und hustete eine ungewöhnlich lange Zeit so kräftig, dass das Kommunionkind vom Büffet zu fallen drohte.
Vier Minuten später. Merks sagte: „Ihr Bruder ist tot. Ermordet.“
Sie war nicht sonderlich beeindruckt. „Das habe ich Eddie immer prophezeit. Einer deiner sauberen Kumpels bringt dich mal um.“
Auf einmal gab sich die Frau einen Ruck. Sie zog unter der Spüle Eimer und Lappen hervor. „Und jetzt will ich mal hier wieder Ordnung schaffen!“, entschied sie. „Sie verschwinden aus der Bude!“, befahl sie Merks, den sie offenbar für eine besser gekleidete Ausgabe der Kioskkumpels hielt. Bevor sie jedoch zum Scheuerhader griff, entnahm sie dem Küchenbuffet eine kleine Gießkanne, füllte diese an der Spüle mit Leitungswasser und schritt auf die Blumen am Fenster zu.
„Halt!“, rief Merks mit fester Stimme. „Ich verhafte Sie wegen Mordverdachts!“ Warum verdächtigte der Kommissar die Frau?“
Auf Anhieb ein Beststeller des Verlages wurde der erstmals 2016 von der EDITION digital sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book veröffentlichte erste Band der neuen Nadja-Kirchner-Fantasy-Reihe „Nadja Kirchner und die Raben aus der geheimnisvollen Senke“ von Johan Nerholz: Ein zwölfjähriges Mädchen, das keine Eltern mehr hat, wächst in einem Dorf bei ihren Großeltern auf. Auch wegen ihrer guten Leistungen in der Schule wird die kleine und stille Nadja von anderen Jungen aus dem Dorf angefeindet und sogar angegriffen. Doch niemand scheint ihr zu helfen. Da findet sie eines Tages einen jungen Raben, den sie mit nach Hause bringt. Gemeinsam mit ihren Großeltern pflegt sie ihn gesund. Und dann wird das Tier offensichtlich von seinen Raben-Eltern abgeholt. Einer der beiden Raben ist riesig. Als Nadja kurze Zeit später wieder von einigen Jungen angegriffen wird, kommen ihr die Raben zu Hilfe und vertreiben die Angreifer. Kurz darauf wird Nadja in die Senke gelockt, die früher mal ein kleiner See war und die schon lange kein Mensch mehr betreten konnte. Dort gibt sich ihr der riesige Rabe Rontur zu erkennen. Er ist der Anführer der Raben und kann sprechen. Ab sofort steht das Mädchen unter dem Schutz dieser Vögel. Und Nadja lernt sich zu wehren - auch mit übernatürlichen Mitteln. Die braucht sie aber auch, da das Mädchen von übernatürlichen Gestalten angegriffen wird. Zu ihrem Schutz wird der riesige ehemalige Dämonenhund Takesch abgestellt. In diesem Zusammenhang lernt Nadja auch eine ihr bisher unbekannte Seite ihrer bei einem mysteriösen Autounfall getöteten Mutter Manuela kennen. Sie war einst Bannherrin des Sees gewesen und hatte damit auch für den Schutz der Raben gesorgt. Und der Dämonenhund Takesch war damals Beschützer ihrer Mutter. Im weiteren Verlauf der Handlung, die mehr und mehr zwischen der Wirklichkeit und dem Reich der Fantasy changiert, muss sich Nadja auch noch ganz anderer Feinde erwehren, und sie lernt Dinge kennen und beherrschen, die kein Mensch leisten kann. Schließlich kommt es zu einem alles entscheidenden Kampf. Und Nadja trifft eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen. Das spannend und geheimnisvoll erzählte literarische Debüt wurde für Kinder ab 10 Jahre geschrieben. Gleich am Anfang wird es allerdings ziemlich traurig:
„Der Tod der Bannherrin
An einem einsamen Feldweg stand ein alter Baum, dessen Stamm vollständig mit Moos überwuchert war. Er war schon lange ohne Leben und konnte jeden Augenblick umfallen, die Fäulnis war unübersehbar. In dieser einsamen Gegend gab es erst einige Kilometer entfernt Dörfer. In der feuchtkalten und nebeligen Dunkelheit konnte niemand sehen, was gerade am toten Baum geschah. So waren sich die Vögel, die auf dem Baum saßen, sicher, dass sie ungestört blieben. Ein riesiger Rabe und ein weiterer, viel kleinerer Vogel saßen dort und rührten sich nicht. Sie schienen auf etwas zu warten und dann kam tatsächlich noch ein Rabe angeflogen. Er ließ sich bei den oben sitzenden Vögeln nieder und schüttelte ausgiebig sein Gefieder.
„Es ist wahr. Sie sind beide tot“, sagte der angekommene Rabe.
„Ist das alles?“ Der große Rabe sah den Neuankömmling erwartungsvoll an.
Dieser fuhr fort: „In wenigen Augenblicken wird die Polizei der Menschen angekommen sein. Die Feuerwehr ist schon da. Sie sprechen von einem Unfall. Man sagt, dass die Kriminalpolizei unterwegs ist.“ Der Vogel japste und begann zu zittern.
„Man wird nichts finden.“ Der dritte Rabe, ein weibliches Tier, hatte sich zu Wort gemeldet.
„Bist du dir so sicher, Antarpha?“, fragte der Neue.
„In solchen Fällen findet man nie etwas“, antwortete ihm die Rabenfrau.
„Die anderen haben nichts gemerkt?“ Der große Rabe hatte sich wieder an den Neuankömmling gewandt. Der plusterte sich auf. Ihm schien das Wetter nicht zu gefallen. „Nein! Die Sache mit der Kleinen hat unser Ausbilder Taukius schnell und gründlich erledigt“, erläuterte er.
„Wer war alles dabei?“ Der große Rabe war neugierig.
„Schwer zu sagen, Rontur. Jedenfalls viele und nicht nur von uns! Alle haben das als letzten Dienst an ihr betrachtet. Es war noch keiner von den Menschen da, als Taukius handelte.“
„Was ist mit dem Kind?“, fragte Antarpha.
„Das dürfte jetzt zu Hause sein. Niemand außer uns weiß, dass es dabei war.“
„Gut so!“, war die Rabenfrau wieder zu hören.
„Die armen Großeltern der Kleinen! Werden sie es schaffen?“ In der Stimme des zuletzt angekommenen Raben klang großes Bedauern mit.
„Das werden sie!“ Das Weibchen klang zuversichtlich.
„Kennt jeder seine Aufgabe?“ Der große Rabe war hellwach. Er schien die letzten Worte seiner Gesprächspartnerin zu ignorieren.
„Es ist lange her, dass wir so eine gefährliche Situation hatten. Aber ich denke, jeder weiß, was zu tun ist. Die Jungen funktionieren erstaunlich gut. Auch der Riesengeier Reikosch ist gekommen, als er von der Sache erfuhr und hilft uns.“
„Was tut er?“ Rontur schien überrascht zu sein.
„Er überwacht den Luftraum! Sollten die Jungen einen Fehler machen, gleicht er diesen ganz sicher aus. In der Senke ist auch alles gut. Dort kümmern sich Griseldis und die Wasserhexe Iri um die Sicherheitsvorkehrungen. Da geht nichts schief.“
„Schön. Aber was hat Reikosch mit der Sache zu tun?“ Der große Rabe wunderte sich immer noch.
„Nichts. Aber er dachte sich, ein bisschen Hilfe könne nicht schaden. Auch er kannte schließlich die Frau.“
Rontur blickte in die Dunkelheit und nickte versonnen. „Stimmt, und mit seiner Hilfe liegt er sogar richtig.“
„Schön, dass Reikosch dabei ist. Er ist ein alter Haudegen. Mit dem wird so schnell keiner fertig“, sagte die Rabenfrau.
„Ich bedauere alles zutiefst. Aber nun können wir es wohl nicht mehr ändern.“ Der Neuankömmling warf einen hoffnungsvollen Blick auf den großen Raben.
Dieser schüttelte den Kopf. „Das können und dürfen wir nicht. Es wird wohl in Zukunft für uns nicht einfacher werden.“
„Wann war es schon jemals einfach gewesen“, warf der Neuankömmling ein.
„Richtig!“ Der weibliche Rabe sagte das ohne Emotionen.
„Jetzt müssen wieder alle ran. Das hatten wir alles schon, Antarpha!“ Der große Rabe hatte sich mit diesen Worten an die Rabenfrau gewandt.
„Auch die Jungen?“, fragte der zuletzt Gekommene.
Rontur brummte zustimmend. „Auch die! Sie sind ja schon dabei! Ich habe immer gehofft, dass ihnen die Zeiten, die wir einst durchmachten, erspart blieben. Aber nun können es die Alten allein nicht mehr schaffen. Der Schutz muss verstärkt werden. Wir brauchen sie.“ Die beiden anderen Raben senkten zustimmend die Köpfe.
Dann drehte sich der Große noch einmal zu dem zuletzt angekommenen Vogel um. „Und es hat niemand etwas gesehen?“
„Nein! Wir haben alles geprüft.“ Der Rabe trat jetzt selbstbewusst auf.
„Ihr habt alles richtig gemacht!“, beruhigte der Große die beiden.
„Wir hätten gern mehr für sie getan. Jara war sofort zur Stelle. Sie hat alles versucht, um ihr Leben zu retten. Leider vergeblich!“
„So kenne ich meine Schwester“, sagte die Rabenfrau stolz.
„Sie ist von uns allen die Unglücklichste.“ Der Rabe war jetzt sehr traurig.
„Sie soll sich keine Sorgen machen. Wenn sie nicht mehr helfen konnte, konnte es keiner. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir müssen nun nach vorn schauen.“ Der Riesenrabe sprach es resolut.
„Sie sind also endgültig tot. Alle beide!“ Ein wenig Resignation schwang in der Stimme des Ankömmlings mit.
„So ist es und damit haben wir jetzt ein neues und viel größeres Problem. Unsere Bannherrin ist tot. Wir waren darauf nicht vorbereitet. Das Problem müssen wir umgehend lösen“, ergänzte der weibliche Rabe.“
Erstmals 1995 veröffentlichte Beltz & Gelberg Weinheim das Buch „Ein Schmetterling aus Surinam. Die Kindheit der Maria Sibylla Merian“ von Ingrid Möller: Frankfurt am Main 1651. Der dreißigjährige Krieg ist vorbei, die Menschen streben nach Zerstreuung und Wissen. So auch die kleine Maria Sibylla, Tochter des berühmten Kupferstechers Matthäus Merian. Ständig schaut sie dem Stiefvater beim Malen über die Schulter. Später richtet sie sich auf dem Dachboden eine heimliche Malerwerkstatt ein und beginnt, Raupen und Schmetterlinge zu sammeln, sie zu beobachten und abzuzeichnen. Von dem abfälligen Geraune der Leute über das Teufelsgeziefer lässt sich das Mädchen nicht abschrecken. Maria Sibylla Merian wird die erste deutsche Insektenforscherin und eine bedeutende Künstlerin. Für dieses Buch wurde die Autorin 1994 mit dem Peter-Härtling-Preis für Kinderliteratur der Stadt Weinheim ausgezeichnet. Aber schauen wir jetzt gleich mal, weshalb sich die kleine Maria Sibylle Merian zu Beginn der Handlung alles andere als wohlfühlt:
„Das Familienbild
Februar 1651
„So halt doch endlich den Kopf still!“ Ungehalten klingt es, fast frostig. Maria Sibylla zuckt zusammen und starrt wieder hoch zur mittleren Kerze auf dem Messingleuchter, wie ihr großer Bruder Matthäus es ihr befohlen hat. Nicht mucksen darf sie sich, kein Wort sagen, sich nicht rühren. Denn Matthäus malt sie. Schon eine Woche geht das so. Tag für Tag.
Matthäus hat gute Gründe, ungehalten zu sein, denn eigentlich war dieses Familienbild der Merians längst fertig. Vor acht oder neun Jahren schon. Aber dann merkte der Vater, wie seine Kräfte nachließen, und äußerte den Wunsch, dass seine zweite Frau und vor allem sein Nesthäkchen Maria Sibylla einen Platz im Bild haben sollten. Matthäus hat es dem sterbenden Vater versprechen müssen. Und dieses Versprechen löst er jetzt ein, wenn auch widerwillig, denn es bedeutet, dass er den fertigen Bildaufbau zerstören muss. Wegen eines Kindes! Dabei findet er seine kleine Schwester noch nicht einmal hübsch.
Matthäus stöhnt. Heute will ihm die Arbeit überhaupt nicht von der Hand gehen. Seine Gedanken sind nicht bei der Sache. Und Kinder mag er überhaupt am wenigsten malen. Er ist ganz andere Modelle gewöhnt. Hohe Herrschaften. Grafen, Fürsten, sogar Könige. Sie schicken ihm ihre Staatskarossen - aus allen Teilen Europas. Von ihm, Matthäus Merian dem Jüngeren, wollen sie gemalt werden. So wie er sie darstellt, wollen sie der Nachwelt überliefert werden. Ja, er hat einen Namen in der vornehmen Welt, schon jetzt, mit knapp dreißig.
Und seitdem der Vater nicht mehr lebt, ist er als ältester Sohn auch verantwortlich für das berühmte Verlagshaus, von dem Einzeldrucke und Bücher in alle Welt gehen. Besonders die vielen, vielen Stadtansichten haben den Namen Merian berühmt gemacht. Und nun diese Pflichtarbeit!
Er tritt einen Schritt zurück von der Staffelei und überblickt noch einmal die Figurenanordnung. Dabei kneift er die Augen zusammen, um das Bild nur im Groben zu sehen. Doch, so müsste es gehen: In der Mitte sitzt der Vater, gewichtig, mit weit ausholender Handbewegung. Er wendet sich ihm zu, seinem Ältesten. Neben ihm die Mutter, auch gewichtig, und dann Caspar, sein jüngerer Bruder. Er reicht einen Druckbogen herüber, womit gesagt wird, dass er vor allem als Kupferstecher wirkt. Dass die Schwestern Susanna Barbara und Margarethe im Hintergrund bleiben, ist in jeder Hinsicht richtig. Vaters zweite Frau wird er an den Bildrand setzen wie eine Magd, das entspricht ganz ihrer Rolle in der Familie.
Rechts unten im Bild hat nun Maria Sibylla ihren Platz, aber sie verschwindet fast hinter dem großen Gipskopf des Laokoon. Matthäus amüsiert sich im Stillen. Das mit dem Gipskopf war eine glänzende Idee. Der allbekannte Kopf aus der Antike zieht die Aufmerksamkeit auf sich und flößt dem Betrachter Respekt ein vor einer Familie, die so auf klassische Bildung hält. Andererseits ist links der Totenschädel nicht zu übersehen, so dass man ihm keinen Hochmut nachsagen kann. Denn jeder weiß, dass der Schädel an die Sterblichkeit aller gemahnen soll.
Maria Sibylla wird der Nacken steif. Wenn sie doch wenigstens das Kinn ein bisschen aufstützen dürfte auf eine Locke dieses kalten Riesenkopfes, den sie so gar nicht leiden mag. Sie kann nicht verstehen, warum sie ihre Arme darum legen muss wie um eine Lieblingspuppe.
„Billa, dein Ohr sitzt schon wieder einen Fingerbreit zu tief!“ Matthäus legt den spitzen Pinsel ab, geht zu ihr und dreht ihren Kopf unsanft zurecht. „So. Aber auch so lassen!“
Ob das noch lange dauert? Maria Sibylla wagt nicht zu fragen. Wie still es ist! Fast unheimlich. Und wie schwierig es doch ist, sich überhaupt nicht zu rühren. Caspar, der andere große Bruder, würde ihr das bestimmt nicht antun. Der würde ihr Pausen gönnen und etwas erzählen, damit die Zeit nicht so lang wird.“
Schon 1976 brachte der Verlag Neues Leben Berlin damals noch unter dem um ein Wort kürzeren Titel „Die Einladung“ von Klaus Möckel heraus. Als E-Book firmiert es etwas spannender als „Die geheimnisvolle Einladung“: Der Schriftsteller Rubin, angesehen und von sich überzeugt, erhält unter mysteriösen Umständen eine Einladung. Er soll in einem ihm unbekannten Klub aus Werken lesen, zu denen er nicht mehr steht oder die er noch gar nicht geschrieben, die er bestenfalls angedacht hat. Er sieht sich gefoppt und herausgefordert. Mit gemischten Gefühlen besteigt er den Wagen, der ihn zu einem fremden Ziel entführt. Die Reise ins Jahr 2079 bringt dem Dichter ungewöhnliche Begegnungen und bizarre Überraschungen. Er wird mit einer Zeit konfrontiert, die er sich so nicht vorgestellt hat, vor allem aber mit sich selbst und einem Urteil der Nachwelt zu seinen Werken, das ihm überhaupt nicht gefällt. Diese Konstellation „bietet dem Autor so viel Gelegenheit zu Verwicklungen und Verwirrungen“, schrieb nach dem Erscheinen des Buches ein Rezensent aus Bern, „dass man aus dem Schmunzeln nicht mehr herauskommt und voller Spannung auf den Fortgang der halb realen, halb surrealen Geschehnisse wartet... Dem Ostberliner Übersetzer, Lyriker und Erzähler ist mit diesem vom Umfang her kleinen Roman ein Volltreffer gelungen...“ Diesem Urteil ist nur noch hinzuzufügen, dass die amüsante Geschichte in der Zwischenzeit nicht das Geringste von ihrer Frische eingebüßt hat.
Im Übrigen versichert der Autor, der diesen amüsanten Lesespaß seiner Frau und Schriftstellerkollegin Aljonna Möckel gewidmet hat, „alle Namen frei erfunden und Ähnlichkeit mit lebenden Personen nicht beabsichtigt zu haben. Sollte sich dennoch jemand getroffen fühlen, so ist er gemeint.“ Nun aber schnell zum 1. Kapitel, wo sie schon auf Rubin und auf uns wartet – die Einladung:
„1. Kapitel
Sie lag vor mir auf dem Schreibtisch - ein einfach gefaltetes Stück festen weißen Kartons, von dem ein schwacher silbriger Glanz ausging. Ein Schimmer, wie ihn bestimmte mit Perlmutt eingelegte Gegenstände besitzen. Sie lag da, eine bescheidene Klappkarte, und fiel unter den anderen Papieren auf. Sieh an, so etwas Schlichtes und zugleich Elegantes bringen wir also fertig, wenn wir nur wollen, dachte ich. Ich nahm die Karte zur Hand, las das schwarz gedruckte Wort EINLADUNG vorn auf der ersten Seite und betrachtete flüchtig die Skizze, die sich unterhalb dieses Wortes befand. Es war eine Federzeichnung, ein Plan vielleicht, von dem ich nicht wusste, was er darstellte, der mir aber irgendwie bekannt vorkam. Linien, Punkte, Kreise, schraffierte Flächen mit einer eigenartig leuchtenden Tusche ausgeführt - wäre ich mit meinen Gedanken mehr bei der Sache gewesen, mir hätte schon damals etwas auffallen müssen.
Aber ich war nicht bei der Sache; ich hatte die Karte eher unbewusst in die Hand genommen; innerlich beschäftigte ich mich schon mit den Tagesarbeiten, und so bemerkte ich nichts. Ich kam auch nicht dazu, die Klappkarte aufzuschlagen und den Text zu lesen - irgendwas musste ja drinstehen -, denn ich wurde durch Maren, meine Frau, abgelenkt, die nach mir rief, weil sie zur Kosmetikerin wollte und wieder einmal ihre Wagenschlüssel nicht fand. Wenn Maren etwas suchte, war es vorbei mit der Konzentration. Ihre nichtigen, aber stets vorrangigen Probleme! Früher hatte ich das nicht gesehen, früher war ich in vielerlei Hinsicht blind gewesen, doch jetzt...
Leicht verärgert legte ich die EINLADUNG auf den Tisch zurück, verschob die Angelegenheit auf später. Dachte auch nicht mehr an sie, als das mit den Wagenschlüsseln geklärt war. Es war ein frischer, sonniger Herbstmorgen, und ich hatte es mir seit langem zur Gewohnheit gemacht, an solchen Tagen keine Zeit auf Nebensächlichkeiten zu verwenden. Auf Nebensächlichkeiten, zu denen ich vier Fünftel meiner Post zählte: Zuschriften irgendwelcher Nörgler, Zeitungskritiken, die mir der Verlag oder wohlmeinende Freunde zusandten, Invitationen. Nein, alles das konnte warten; meine Zeit war zu kostbar, um mit Kram vertan zu werden. Ich wollte gleich nach dem Frühstück ans Diktieren gehen, und wenn am Nachmittag Irene, die Schreibhilfe, kam, würde sie das zweite Band besprochen vorfinden. Denn ich war gerade in den letzten Tagen gut in Schwung gekommen und musste das Eisen hämmern, solange es glühte. Einen großen Anlauf hatte ich für dieses Bändchen, meine „II. Poetische Reise“, gebraucht - Dichtung war eben nichts, was man auf Bestellung schuf -, doch nun flossen mir die Gedanken und Bilder in die Feder. Zum Glück, denn durch Presse, Funk und Fernsehen war schon einiges über das Projekt an die Öffentlichkeit gedrungen. Noblesse oblige. Mein Publikum, eine, wie ich mit einigem Stolz vermerken darf, für einen Poeten relativ große und treue Leserschar, sah dem Buch mit Ungeduld entgegen. Ihnen, meinen Anhängern, wusste ich mich verpflichtet, und es wäre ungerecht gewesen, sie wegen zweitrangiger Dinge warten zu lassen.
Aus diesen verständlichen Gründen also vergaß ich die EINLADUNG, nachdem ich sie auf den Schreibtisch zurückgelegt hatte, sofort. Mitunter verhält man sich wie ein Briefmarkensammler, der über seinen mehr oder weniger wertvollen Stücken die für das Leben oft wichtigeren Dinge außer Acht lässt. Wenigstens so lange, bis er mit der Nase darauf gestoßen wird. Soll ich es Glück nennen, dass mir in der Folge mit dieser Klappkarte nicht widerfuhr, was mir mit so mancher Einladung des Schriftstellerverbandes, des PENKlubs, der Akademie der Künste passierte: dass sie sich von selbst erledigte? Dass sie wegen Terminüberschneidung in den Papierkorb wanderte, oder weil ich erst wieder an sie dachte, als der angegebene Zeitpunkt längst vorüber war? Glück, schicksalhafte Fügung - ich halte nicht viel von solchen Worten. Aber vielleicht muss man in dieser ersten Phase, da ich den Text noch nicht gelesen, den Stachel, der in ihm verborgen war, noch nicht gespürt hatte, darüber sprechen. Trotz der Stöße, des Schlägehagels, der später auf mich niederprasselte und den ich bis jetzt noch nicht völlig verwunden habe. Hätte ich jedenfalls gewusst, was sich hinter dieser EINLADUNG verbarg, ich wäre keineswegs so ruhig frühstücken gegangen, als Maren endlich verschwunden war. Und ich hätte in den nächsten Tagen kaum soviel Zeit auf die „II. Poetische Reise“ verwandt, ein Werk, das ich heute, nach dieser Erfahrung, trotz allen Lobs in der Presse nicht mehr für gar so wertvoll halten kann.“
Und weil es sich so spannend liest, wollen wir auch gleich noch das nächste Kapitel anhängen, Schließlich ist Rubin gerade heftig im Schwung:
„2. Kapitel
Aber ich will an dieser Stelle meines Berichts noch nicht von meinen früheren Büchern sprechen, sondern von der Klappkarte mit dem unaufdringlichen Silberglanz, denn sie brachte sich mir einige Tage später wieder in Erinnerung. Mein Kater Chagall war's, der über den Schreibtisch strich - erzürnt wegen irgendeines Insekts, das sich nicht erwischen ließ - und mit einem heftigen Schlag seines Schwanzes den Stapel unerledigter Korrespondenz umwarf. Die Briefe verteilten sich über die Tischplatte - ein paar wichtige Schreiben waren darunter: die Anfrage eines südamerikanischen Verlegers wegen einer Lizenz, der Vorschlag des Fernsehfunks, an einem Film über Hölderlin mitzuarbeiten -, doch mein Blick blieb ungewollt an jener EINLADUNG hängen. Sie war aus der Menge der Papiere herausgerutscht, glitt langsam über die Schreibtischkante und segelte, während Chagall mit einem eleganten Satz aufs Fensterbrett sprang, quer durchs Zimmer. An der Tür blieb sie aufgeschlagen liegen. Weshalb ich die übrigen Briefe sein ließ und erst einmal sie aufhob. Diesmal aber fand sich niemand, der mich abgelenkt hätte.
Chagall hatte sich, vielleicht wegen des Wirrwarrs, der durch ihn entstanden war, beruhigt: Er leckte sich, auf dem Fensterbrett sitzend, hingebungsvoll die Pfote. Was mich anging, so stand ich an der Tür, las erstmals den Text der Klappkarte und war im Gegensatz zu dem Kater merkwürdig erregt. Es handelte sich um einen sonderbaren Text, der mich sowohl vom äußeren Schriftbild als auch vom Inhalt her verblüffte. Eine ähnliche EINLADUNG hatte ich noch nie bekommen. Ich drehte die Karte in den Händen hin und her, ich schaute mir den Text ein zweites Mal an, ich versuchte, die Zeilen für einen Scherz zu nehmen. Für einen Scherz in mehrfacher Hinsicht. Aber obwohl ich mich bemühte, die Sache leichthin abzutun, war ein Gefühl der Unruhe in mir, das ich nicht einfach beiseite schieben konnte. Ich war erregt und gereizt. Schon bei diesem ersten indirekten Kontakt mit den Leuten, die mir das da geschickt hatten, fühlte ich mich irgendwie herausgefordert.
„Wir bitten sie sehr herzlich, geehrter herr behrend“, las ich also rechts innen, schwarz auf weißlich glänzendem Untergrund, „uns am 4. Oktober des laufenden jahres aus ihren bekannten werken 'beginn' und 'spätes memorial' zu lesen. Die Veranstaltung soll 20.00 uhr im klub äonid stattfinden. Wir legen besonderen wert auch auf das gespräch mit ihnen, einem Schriftsteller, der sich nach jahren des suchens und irrens so kompromißlos zur Wahrheit bekannt hat. Wir erlauben uns, ihnen einen wagen zu schicken und sie gegen 18.00 uhr von ihrem haus abzuholen.“ Gezeichnet war der Text mit „ev-klub äonid“ und einem Schnörkel, den ich nicht entziffern konnte.
Das Schreiben war ohne Zweifel an mich gerichtet, wenn ich auch nirgendwo einen Umschlag mit einer Adresse entdecken konnte, in dem es gesteckt hatte, und wenn mir der Inhalt auch höchst konfus erschien. Der Beweis dafür, dass ich gemeint war: Ich hatte vor vielen Jahren mit einem Gedichtband „Beginn“ debütiert, mein Geburtsname war Behrend, und als Titel für einen Band Erinnerungen, den ich plante, waren mir tatsächlich die Worte „Spätes Memorial“ durch den Kopf gegangen. Eine Verwechslung war ausgeschlossen: Es gab keinen zweiten Autor, auf den diese Fakten zutrafen. Bei der Erwähnung des letzten Werkes freilich wurde die Sache bereits kurios. Es würde - wenn überhaupt - erst in ein paar Jahren vorliegen, und ich war mir sicher, mit niemandem bisher, nicht einmal mit meinen engsten Freunden, über diese Idee gesprochen zu haben. Oder gar über den eventuellen Titel. Konnten die Leute, die sich an mich wandten, Gedanken lesen? Und wenn, warum redeten sie mich nicht mit meinem Schriftstellernamen Rubin an, den jedermann kannte? Vielleicht deshalb nicht, weil ich jenen ersten Band noch unter dem Namen Behrend veröffentlicht hatte? Aber der „Beginn“, dieses schmale Büchlein, lag mehr als zwanzig Jahre zurück, und schon mein zweites Werk war unter meinem Pseudonym erschienen, das mir übrigens auch Erfolg gebracht hatte. Jedermann oder wenigstens jedermann, der sich mit meinen Büchern und meinem Leben beschäftigte, wusste, dass ich von den Gedichten aus „Beginn“ nicht mehr allzu viel hielt, dass ich schon in meinem nächsten Band, der „Windharfe“, andere Töne angeschlagen, eine Wende vollzogen hatte.
Dass eigentlich die „Windharfe“ trotz gewisser plakativer Passagen, über die ich jetzt nur noch lächeln konnte, meinen eigentlichen Anfang bedeutete. Spielten die Absender der Klappkarte auf diesen Wandel an, wenn sie mich so nachdrücklich als einen Suchenden und Irrenden bezeichneten? Warum aber wollten sie dann, dass ich ausgerechnet aus dem „Beginn“ las, was ich übrigens seit einer Ewigkeit nicht getan hatte? Die Stücke dieses Puzzlespiels passten nicht zusammen, und die Angelegenheit wurde noch unklarer, wenn ich an meine letzten Bücher dachte, die doch viel wichtiger als die ersten Werke waren, hier aber gar nicht erwähnt wurden. Nein, es war kein Scherz, es war, wenn ich es mir recht überlegte, eher eine Provokation. Vielleicht war das mit der Wahrheit, die ich gefunden haben sollte, ironisch gemeint. Kein Lob, sondern geschickt verkleideter, unverschämter Tadel.
Doch wenn mich jemand an der Nase herumführen oder gar angreifen wollte, dann war noch immer unerklärlich, wie er auf das „Späte Memorial“ gekommen war. Die Kleinschreibung in der EINLADUNG, das elegante Äußere der Klappkarte, der sonderbare Text, die Geschichte mit dem EV-KLUB ÄONID, von dem ich noch nie etwas gehört hatte (und die Stadt, in der ich seit vielen Jahren lebte, war wahrlich nicht groß), erstaunten, ja beunruhigten mich, aber geradezu ein Rätsel gab mir die Anspielung auf den noch nicht vorhandenen Erinnerungsband auf. Sollte ich etwa doch mit Maren gesprochen haben oder vielleicht mit Franziska kürzlich im Studio? Ich begann an Telepathie zu glauben, an Gedankenübertragung, und versuchte, mich wie ein Gefangener, der vor den Untersuchungsrichter treten muss, an jedes Gespräch der zurückliegenden Wochen zu erinnern. Aber ich brachte kein Licht in die Finsternis. Es blieb mir völlig schleierhaft, wer die Verfasser der EINLADUNG von meiner noch unausgesprochenen Absicht unterrichtet haben konnte, mich an meine Lebensaufzeichnungen zu setzen.“
Diese geheimnisvolle Einladung macht doch auf jeden Fall Lust, mehr darüber zu erfahren, wie es unserem Rubin in der Zukunft ergehen wird und vielleicht auch Lust darauf, einmal ein ganz klein wenig darüber nachzudenken, was denn die Nachwelt über uns denken und von uns halten wird. Und wie wäre es, wenn auch wir Post aus der Zukunft bekämen … - gewissermaßen eine Flaschenpost aus dem Übermorgen. Aber Halt! Halt!, würde jetzt Kriminalkommissar Merks wieder energisch dazwischenrufen, das wäre doch ein wunderbarer Titel für einen Roman, der erst noch geschrieben werden muss. Aber vielleicht gibt es den auch schon? Zumindest in der Zukunft. EINLADUNG ZUR LESUNG am 4. Oktober des laufenden jahres. Die Veranstaltung soll 20.00 uhr im klub äonid stattfinden …
Viel Spaß beim Lesen, schöne Reise durch das Reich der literarischen Erfindungen und Entdeckungen und bis demnächst.