In „Herrensalon W. Kleinekorte“ lässt C.U. Wiesner wieder seinen legendären Berliner Herrenfrisör alter Schule zu Wort kommen – diesmal unter anderem zum Sprichwort.
Eine äußerst lebendige Roman-Biographie von Kindheit und Jugend des Friedrich Engels hat Walter Baumert mit „Schau auf die Erde“ und „Der Flug des Falken“ vorgelegt – so die unterschiedlichen Titel des damals einigermaßen sensationell sowohl in Ost(Deutschland) als auch in West(Deutschland), also DDR und Bundesrepublik, erschienenen Werks. Hier das dritte Buch, welches sich mit Engels´ Aufenthalt und seiner Militärdienstzeit in Berlin und seiner Ankunft in England beschäftigt.
Von der Flucht-Reise eines zehnjährigen Jungen erzählt Rudi Benzien in „Das bayerische Jahr. Fragment einer Kindheit“.
Auf Krimi-Etüden ganz eigener Art dürfen sich Leserinnen und Leser bei „Der Alte und das Biest“ und der hier vollständig abgedruckten Titelgeschichte aus diesem Band freuen. Und damit zurück oder vorwärts, je nachdem wie Sie es sehen, zu Erik Neutsch und seinem Auftakt zum „Friede im Osten“.
Erstmals 1974 erschien im Mitteldeutschen Verlag, Halle (Saale) das Erste Buch des auf insgesamt fünf Bände anwachsenden Zyklus „Der Friede im Osten“ von Erik Neutsch – „Am Fluß“: Ein Apriltag des Jahres 1945. An einer Panzersperre erleben Achim Steinhauer und Frank Lutter als Hitlerjungen das Ende des Krieges. Aber war wirklich zu Ende, was sie mit Blut beschworen hatten? Achim Steinhauer wird es nicht leicht haben, seinen Weg aus den Verstrickungen der geschlagenen Welt des Faschismus in eine neue Zeit zu finden. Er begegnet schwierigen Situationen, er erkennt seine künftigen Freunde nur schwer, etwa Matthias Münz, den Kommunisten, der aus dem KZ kommt. Auch Franks Weg, der sich bald den antifaschistischen Kräften anschließt, versteht er zunächst nicht. Und schwierig wird für ihn die Zeit im Gefängnis, wo ihm schließlich der sowjetische Oberst Koschkin zu sich selbst und zur Freiheit verhilft. Bewähren und bestehen muss er die Station der Schule, wo man ihn, den Arbeiterjungen, anfeindet und vor allem wird ihn seine Liebe zu Ulrike Jaro in konfliktreiche Situationen führen. Wie wird er das alles meistern, und wie werden es seine Freunde schaffen? Davon erzählt Erik Neutsch in außerordentlich bewegenden und packenden Menschenschicksalen im ersten Buch seines Romans „Der Friede im Osten“, das seit seinem ersten Erscheinen vor nunmehr 45 Jahren mehr als 10 Auflagen erlebte. Hier zunächst der Anfang des dritten Kapitels, der in einem sowjetischen Militärgefängnis spielt und wo auch gleich von Heinrich Heine die Rede sein wird – allerdings in einer etwas anderen Aussprache dieses Namens. Und die Königin von England spielt auch eine gewisse Rolle:
„DRITTES KAPITEL
Oberst Koschkin trat seinen Dienst an diesem Märzmorgen nach einer durchfeierten Nacht und daher in nicht gerade allerbester Stimmung an. Sein Schädel brummte, rächte sich für jede unsanfte Bewegung mit einem Schmerz, wie von einem Boxhandschuh erhalten. In der Garnison war der Jahrestag der Roten Armee so festlich wie möglich begangen worden, der erste wieder im Frieden, nach einem gewaltigen Sieg. An Trinksprüchen hatte es nicht gemangelt, folglich auch nicht an vollen Gläsern, doch leider fehlten bereits nach Mitternacht der Speck und die Zwiebeln, womit sich Koschkin stets trinkfest zu halten pflegte, und auch das klitschige deutsche Mischbrot hatte ihm nicht geholfen, im Gegenteil, es lag ihm noch jetzt schwer im Magen. Zweimal wöchentlich kam er hierher in das Gefängnis. Er war beauftragt, die Untersuchungen zu leiten und die Urteile vorzubereiten. Heute jedoch wäre er am liebsten umgekehrt, um seinen Rausch auszuschlafen. Aber es war ja sein eigenes Interesse, dem Faschismus in diesem Lande auf die Schliche zu kommen und alle in seinem Namen begangenen Verbrechen zu sühnen.
Kapitulieren, dachte er, gilt nicht. Und trotzdem quälte ihn der Katerdurst. Und so befahl er, kaum daß er das Zimmer betreten und den Mantel ausgezogen, seinem Burschen, einem Sergeanten, der ihn von der Wolga bis an die Elbe begleitet hatte: „Besorge mir etwas zu trinken, Aljoscha. Einen Eimer voll Wasser. Aber wehe, du bringst mir dieses Chlorzeug aus den Leitungen. Nein. Kühles, frisches Brunnenwasser aus der Erde von Mütterchen Rußland.“
Der Sergeant machte ein ziemlich hilfloses Gesicht. „Woher soll ich denn kühles, frisches Brunnenwasser aus der Erde von Mütterchen Rußland nehmen, Andrej Andrejewitsch?“
„Laß dir was einfallen. Die Königin von England, sagt man, läßt sich täglich das Wasser für ihren Tee mit einem Flugzeug vom Festland holen.“
„Sie sind aber nicht die Königin von England, Andrej Andrejewitsch.“
„Natürlich nicht. Doch ich war dabei, als Churchills Armee bei Noworossisk ins Meer geschmissen wurde, und habe zwei Offiziere Ihrer Majestät gefangen. Ist das nichts?“
„Doch, doch. Aber selbst, wenn ich wollte, Andrej Andrejewitsch ... Woher soll ich das Flugzeug nehmen?“
„Also dann ... Treib irgendwo hier einen Brunnen auf und unterstelle ihn der Sowjetmacht. Vielleicht schmeckt sein Wasser dann wie aus der Erde von Mütterchen Rußland.“
Der Sergeant grinste und verzog sich. Und Koschkin streckte sich in den Sessel, schlug seine krummen Reiterbeine übereinander und griff nach dem Aktenbündel, das seine Offiziere ihm vorsorglich auf den Schreibtisch gelegt hatten. Wie aber staunte er, als er obenauf, mit einer Büroklammer an eins der üblichen Meldeformulare geheftet, ein in Deutsch geschriebenes - Gedicht fand. Was hatte denn das mit seiner Arbeit zu tun? Ein Liebesgedicht! Soweit beherrschte er die fremde Sprache, daß er wenigstens ein paar Zeilen entziffern konnte. Druckbuchstaben. Er schaute aus dem Fenster, in die Märzsonne, die den Rost der Gitterstäbe rötlich färbte. Mein Gott, dachte er, das ist wirklich mal etwas anderes. Ich habe an dich gedacht, als der Mond in die Wolken stieg. ... Bisher hatte ihm aus den Akten immer nur der Dreck der letzten zehn Jahre entgegen gestunken. Mord und Totschlag, Massenerschießungen und SS-Verbrechen. Irgendwelches Geschmeiß berief sich ständig auf irgendwelche Befehle von „oben“. Nicht selten hatte er sich dann, die Protokolle kaum in die Hand genommen, hinweg gewünscht, in die klare und saubere Luft der Weiten an Donez und Don. Ein kräftiges Vollblut zwischen den Schenkeln und reiten, reiten. Wie damals gegen Denikin und Wrangel. Und der silberne Mond über der Steppe. Doch wie lange war das schon her, Budjonnys Reiterarmee?
Er las. Zunächst die Meldung des Wachhabenden, dann noch einmal das Gedicht. Ein Wörterbuch. Wo hatte er nur das Wörterbuch? Was heißt denn gleich: Sehnsucht ... Mir hat gegraust ... Er fand das Buch nicht, ließ sich die Akte heraussuchen, studierte die Protokolle und befahl einem Posten, ihm den Jungen mal vorzuführen. Auch daß er aus Graubrücken stammte, machte ihn neugierig. Gestern ... Oder heute erst? Jedenfalls, nachdem bereits der Speck und die Zwiebeln ausgegangen waren, hatte Major Saslonow ihn gebeten, sich des Graubrückener Falles vorrangig anzunehmen. Er habe so seine Bedenken wegen der Verhöre. Teufel, Ilja Wassiljewitsch, bist du es wirklich oder nur dein Geist? Sie hatten sich umarmt und geküßt und, natürlich, wieder angestoßen und getrunken. Auf ihr unverhofftes Wiedersehen. Was der Frieden doch alles möglich machte! Zweiundvierzig, damals, als die Fritzen sie noch das Fürchten gelehrt und bei Charkow eingeschnürt hatten, waren sie in derselben Einheit gewesen. Er schon als Sicherheitsoffizier, Saslonow als Leutnant. Und dann hatte es einen von ihnen erwischt. Beim Durchbruch unter der Führung Batjunas. Verwundet. Wer eigentlich zuerst? Und seitdem hatten sie sich aus den Augen verloren. Zu Ilja Wassiljewitsch konnte er jederzeit Vertrauen haben. Ein ausgezeichneter Soldat und Kommunist. Offensichtlich machte auch er sich Gedanken über so manche Entscheidung, die aus dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten kam. Nein, er, Koschkin, unterstand der Armeeführung. Außerdem gab Stalin ihm recht: Die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt. Und war es nicht besonders die deutsche Jugend, die man behutsam behandeln sollte?
Da stand er nun, Achim Steinhauer. Auf den ersten Blick glaubte Koschkin, ein Mädchen vor sich zu haben. Die langen Haare. Doch er wußte ja inzwischen, wie sich der Junge sie angeschafft hatte. Den Idioten markieren, die Wachmannschaften überlisten. Selbst schon eine verrückte Idee. Aber immerhin, eine Idee. Was hätte denn er nicht alles versucht, wenn er in gleicher Lage gewesen wäre? Und trotzdem würde er sich diesen Arzt vornehmen, diesen Quacksalber. Wenn Sie Ihr Handwerk nicht besser verstehen, mein Lieber, die Sowjetmacht täuschen, laß ich Sie ebenfalls einsperren ... Er sah, daß der Junge Angst hatte. Allein jetzt mit ihm. Obwohl er sich aufrecht hielt und hinter einem trotzigen, verschlossenen Gesicht versteckte. Aber so waren die meisten dieser Jugendlichen. Nach außenhin immer mutiger, standhafter als ihre ehemaligen Erzieher und Vorbilder. Die brachen fast stets zusammen, winselten um Gnade, noch bevor sie die Urteile hörten. Wenn man diesen verstockten, immer noch gläubigen Jungen doch nur einmal ein solches Verhalten vorführen könnte! Er überlegte, wie er das Verhör beginnen sollte.
Der Oberst irrte sich nicht. Achim nahm wirklich alle Kraft zusammen, um seine Erregung, seine Angst zu unterdrücken. Inzwischen in einer Zelle mit drei anderen Jungen aus Graubrücken, war er zu Tode erschrocken, als die Tür plötzlich aufgeschlossen und sein Name gerufen wurde. Das war ungewöhnlich. Bisher war noch keiner seiner Kameraden hier verhört worden. Auch der Name Koschkin hatte einen gefürchteten Klang. Wen der in der Mache hat, hieß es, kommt unter zwanzig Jahren oder gar lebenslänglich nicht davon. Er schaute ihn an. Der Offizier schaute ihn ebenfalls an.
Schließlich sagte Koschkin: „Kennst du Cheinrich Cheine?“
„Wie bitte?“
„Cheinrich Cheine.“
Wer war denn das? Sollte er wieder jemanden verraten? Wurde ihm wieder unterstellt, sich mit Jugendlichen, die er gar nicht kannte, getroffen zu haben?
Er schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Was? Du machen Gedichte und kennst Cheinrich Cheine nicht?“
„Nein! Ich habe kein Waffenlager angelegt. Ich habe keine Verschwörung gemacht. Weder auf dem Friedhof noch sonstwo. Auch mit diesem Heine nicht.“
„Aaach ...“ Koschkin stöhnte verzweifelt. „Cheine großer deutscher Dichter, Durak, du Dummkopf.“
Er schlug sich gegen die Stirn, verzog sofort das Gesicht. Sein Schädel rächte sich wieder mit einem dumpfen Schmerz, und sein Budjonnybart zitterte. Doch warum hatte er eigentlich gefragt? Woher sollte der Junge Heinrich Heine denn kennen? Bevor er das Lesen gelernt, hatten die Nazis bereits die Bücher von Heine verbrannt und seinen Namen und seine Verse aus allen Schulbüchern getilgt. Ihm fielen Zeilen aus dem Wintermärchen ein. Das Buch der Lieder. Denk ich an Deutschland in der Nacht ... Leise, leise zieht durch mein Gemüt ... Er sprach das Gedicht laut vor sich hin, doch auf russisch, besann sich, daß der Junge ihn nicht verstehen konnte, und sagte: „Gut. Ich untersuchen deinen Fall. Und wenn du bist unschuldig, du werden frei. Aber dann du müssen lesen Gedichte von Cheine. Verstehen?“
Achim nickte. Er verstand ihn natürlich nicht. Wieso wollte dieser russische Offizier, daß er Gedichte las? Dennoch nickte er noch einmal, heftiger. Etwas anderes schien ihm viel wichtiger. Die Aussicht auf Freiheit. Also doch keine zwanzig Jahre, kein Lebenslänglich in Sibirien. Und in dieser Stimmung hätte er alles versprochen. Aber durfte er denn den Russen vertrauen? Gaben sie nicht nur ihr Wort, um es bei nächster Gelegenheit wieder zu brechen? Die slawische Seele, wurde gesagt, ist unberechenbar. Im Graubrückener Keller hatte er das erlebt.
Der Offizier entließ ihn, rief wieder den Posten. Doch kaum war Koschkin allein, machte er eine ausführliche Notiz und legte die Graubrückener Akte an gut sichtbarer Stelle in den Schrank.“ Und gleich geht es noch etwas weiter, allerdings etwas weiter im Text, als Steinhauer wieder zurück ist bei den anderen Untersuchungshäftlingen:
„Wieder war es die Angst, mit der ihn seine Gefährten bereits entlassen hatten, die Angst, die Achim empfing, als er in die Zelle zurückkehrte, und auch er war noch benommen davon, von dem Zweifel, der Schwebe zwischen Angst und Hoffnung, so daß er aus dem Schwall von Fragen nur diese beiden, Tod und Leben betreffenden Wörter heraushörte. Was war wirklich bei Koschkin geschehen? Er blickte in die verstörten Gesichter. Miltitz, der älteste unter ihnen, lehnte an der Wand in Fensternähe, hatte wohl dort wieder mit einem Ritz in die Ölfarbe den neuen Tag markiert, grinste schief, beinahe verlegen, Wolfgang Landauer saß geduckt auf dem einzigen Stuhl im Raum - ein Wunder, daß sie ihm den gelassen hatten - und schwieg, hielt aber seine Zigeuneraugen weit geöffnet, was freilich auch daran liegen konnte, daß sie stets etwas vergrößert waren und vorstanden. Es mußte Benno Potters gewesen sein, der ihn, die Hände auf dem Rücken, die Beine gespreizt, wie ein Spieß vor der Front, nach dem Verhör gefragt hatte. „Da, dein Kaffee. Ist schon kalt. Das hat aber lange gedauert mit dir.“ Auf dem Tisch stand sein Becher, lag seine Scheibe Brot. „Gleich ist Rundgang.“
Achim spürte keinen Hunger. Er schüttelte den Kopf. Lebenslänglich? Todeskandidat? Weder das eine noch das andere. „Du siehst ja, ich war noch beim Friseur. Hat einer mal einen Spiegel?“
Gelächter. Na, wenn du noch Witze machen kannst ... Natürlich. Hier war nicht das Lazarett. Hier hatte man ihnen sogar die Schnürsenkel von den Schuhen genommen, erst recht die Sachen aus Metall oder Glas. Doch wenn einer darauf aus war, wie später Miltitz, er würde trotzdem eine Möglichkeit finden. Miltitz hatte die Handtücher in Streifen gerissen und sich einen Strick daraus geknüpft. Ein Spiegel war also ein Witz. Achim schüttete aus der Blechkanne Wasser in die Waschschüssel und besah darin seinen kahl geschorenen Schädel. Die Locken sind hin, dachte er, wie bei Simson in der Bibel. Die Kopfhaut schimmerte weiß. Sein mageres Gesicht wirkte noch magerer.
„Nun sag doch endlich, wie war es bei Koschkin? Schlimm? Was hat er dich gefragt? Oder warst du gar nicht bei Koschkin?“ Miltitz wollte es wissen. Ja, er schien wirklich unsicher. Wie konnte er nur soviel Angst haben? Oder hatten sie seine Abwesenheit genutzt, um schon wieder über Landauer herzufallen? Erst gestern, kaum daß er zu ihnen in die Zelle gelegt worden war, hatten sie den Jungen geschlagen. Potters, robust, Maurerlehrling im Baugeschäft seines Vaters, und Miltitz. Den Zellenkoller nannte man das. Die beiden regte schon auf, wenn Landauer einen Wind ließ. „Willst uns du jetzt vergasen?“ Aber sie hatten ihn auch schon gezwungen, sein Brot herzugeben, und er hatte es nicht gewagt, sich dagegen zu wehren. Er war Halbjude oder Vierteljude oder sonst was für ein Jude, und Miltitz hatte ihn provoziert: „Wieso eigentlich haben sie nicht dich oder wenigstens deine Mutter ins Himmelreich geschickt? Die SS leistete doch sonst ganze Arbeit, hat alles vertilgt, was arisch nicht niet- und nagelfest war. Vielleicht machst jetzt du, weil du ein Saujud bist, den Spitzel für die Russen.“
Landauer hatte geblutet. Und Achim ging dazwischen. „Nein, das dulde ich nicht. Für mich gibt es nur noch eins: Freund oder Feind, deutsch oder russisch. Schon damals, nach dem Spiel in Calbe, Miltitz ... Die Sache mit Höllsfahrt ... Du bist ein Schwein.“ Er traf ihn am Kinn. Miltitz prallte mit dem Hinterkopf gegen die Wand.
„Auch der ist ein Spitzel“, stöhnte er.
Ja, was Erich Höllsfahrt betraf, so mochte es stimmen. Auch über ihn dachte Achim nach. Käme er je hier heraus, er würde Rechenschaft von ihm fordern. Rache würde er an ihm nehmen, wenn sich herausstellte, daß er der Verräter war, blutige Rache. Doch Landauer, dieser schwächliche, eingeschüchterte Bursche? Hatte die SS ihn wirklich vergessen? Hatte sie wirklich solche wie ihn in Gaskammern geschickt, Menschen zu Tode gequält, Frauen und Kinder? Ihn schauderte. Nein. Er glaubte es nicht. Die Feinde logen. Auch Miltitz log. Achim würde Landauer beweisen, wie sich ein Deutscher, der auf Ehre hält, benimmt. Er schützt die Schwachen und tötet nur im Kampf. „Wolfgang teilt mit uns dieselbe Zelle“, sagte er. „Und wer ihn anrührt, kriegt es mit mir zu tun.“ Je länger er nachdachte, kam als Spitzel nur jemand in Frage, der nicht verhaftet war. Frank Lutter? Nein. Ihm traute er es nicht zu. Aber Höllsfahrt. Sein Vater erschossen, also hatte er einen Grund. Gnade dir Gott, wenn wir uns wiedersehen ...
Jetzt hob er den Kopf. „Na klar war ich bei Koschkin. Kennt einer von euch Heinrich Heine?“
„Was bei Koschkin war, will ich wissen.“
„Sage ich doch. Er hat mich nach diesem Heine gefragt. Soll ein Dichter sein.“
„So ...? Nur danach?“ Miltitz löste sich von der Wand und trat mißtrauisch vor ihn hin. „Auch so ein Itzig wie der da.“ Mit einem verächtlichen Kopfnicken deutete er auf Landauer. „Ein Vaterlandsverräter. Franzosenknecht ...“
Doch er kam nicht dazu, sich noch näher darüber auszulassen. Getrappel auf den Korridoren, Knacken von Schlössern, Kommandos in gebrochenem Deutsch. Der tägliche Rundgang begann. Auch ihre Tür wurde entriegelt. Sie stellten sich vor die Zelle und ließen sich, in langer Reihe mit anderen Häftlingen, über die eisernen Treppen nach unten in den Gefängnishof führen. Dort liefen sie im Kreise. Zwei Meter Abstand von Mann zu Mann. Und obwohl sie streng bewacht wurden, versuchten sie trotzdem, sich Nachrichten zuzuflüstern oder gar einen Kassiber zuzuschieben. Bald sprach sich herum, daß Achim bei Koschkin gewesen war. Was hatte das zu bedeuten? Außer ihm war aus Graubrücken noch keiner verhört worden. Und was für ein Verhör war das schon gewesen, im Gegensatz zu denen im Keller. Keine Prügel, kaum ein Fluch, nichts. Heinrich Heine also ein Jude. Und Koschkin? Einmal hatte er sich hinter dem Schreibtisch erhoben. Die Beine in den Stiefeln krumm wie Säbel. Einmal hatte er ihm das Protokoll zugeschoben. Auf dem Handrücken eine Tätowierung und darüber, halb verdeckt von der Manschette des Uniformhemds, eine tiefe Narbe, wie von einem Durchschuß. Etwas Abenteuerliches ging von ihm aus. Und wenn er gar noch einen Tschako getragen hätte ... Doch auch ohne ihn erinnerte er Achim an Major Schill. Das konnte doch aber, das durfte nicht sein. Koschkin war der Feind. Hatten aber nicht früher einmal Deutsche und Russen gemeinsam gekämpft? Gegen Napoleon, die Fremdherrschaft. Blücher und die Kosaken in der Völkerschlacht. Zwei Zeilen fielen ihm ein. So plötzlich, so unvermittelt auf diesem Hof. Ihr Kirchen, stürzt! Paläste, brecht zusammen. Der Phönix Rußland wirft sich in die Rammen ... Ob Koschkin auch Theodor Körner kannte? Es durchzuckte ihn. Er stockte mitten im Schritt. Sein Hintermann stieß ihm in den Rücken, und ein Posten trieb ihn sofort an: „Dawai, dawai.“
Da war sie wieder, die Enge, die Gefangenschaft. Nein, die Russen von heute sind nicht mehr die Russen der Völkerschlacht. Ein Tag verging wie der andere. Und keine Hoffnung, und kein Entkommen. Hoch ragten die Mauern des Gefängnisses. Endlos die Reihen der vergitterten Fenster. Hier und dort krallten sich Hände um die Eisenstäbe. Krankhaft gelb schon die Haut nach der langen Haft in den stickigen Zellen. Da sehnte man sich nach dem täglichen Rundgang. Da konnte man mal die Lungen voll Frischluft pumpen. Das Quadrat Himmel schickte einen winzigen Hauch von Freiheit hernieder. Wolken jagten im Märzwind. Metall klirrte und schepperte, es klang, als rüttele jemand an Ketten. Da stand unendliches Blau im Sonnenlicht. Die Zugvögel kamen und schwirrten drüber hin. Und manchmal fiel auch ein milder, warmer Regen. Achim legte seinen Kopf weit in den Nacken, atmete tief, ließ sein Gesicht vom Wasser überspülen. Was für ein Gefühl! Regen und Sonne, Regen und Sonne. Nie zuvor hatte er geglaubt, daß sie so froh und frei machen konnten. Einmal bemerkte er, ein wenig abseits von dem gepflasterten Rundweg, zwischen grünen Rasenspitzen, eine weiße Wucherblume. Die Versuchung war groß. Er trat einen Schritt aus der Reihe, bückte sich und brach sie. Sofort rannte ein Posten auf ihn zu. „Was du haben, du zeigen ...“ Achim zitterte, hielt ihm die Blüte hin. Der Soldat ließ sie ihm. Er nahm sie mit in die Zelle. Und eines Tages wurde ihm auch ein Kassiber zugesteckt. Er las den Zettel erst, nachdem er wieder eingeschlossen war. „Gib acht am Sonntag. Deine Mutter wird kommen.“
Von den Besuchen wußte er, seit er hierher verlegt worden war. Manchmal hatte auch er sich ans Fenster gestellt, hatte die Straße abgesucht, doch vergebens. Nie war die Mutter unter den Frauen. Warum kam sie nicht? Schon spiegelte ihm seine leichtfertige, allzu bereitwillige Phantasie Bilder vor, die ihn erschreckten. Die Wäscheleine vom Boden, der Pfosten des Treppengeländers, dicht über den Fotos von den preisgekrönten Orpingtonhühnern, die sein Vater einst gezüchtet hatte ... Aber er versuchte, sich Mut einzureden. Laß dich nicht gehen. Wenn du dich gehen läßt, wirst du bald sein wie Landauer, Potters, Miltitz. Doch es wollte ihm immer weniger gelingen. Und nun diese Nachricht. Die Mutter lebt. Die Mutter kommt. Wie jedesmal nach den Rundgängen erschien ihm die Zelle jetzt erst recht klein und eng, erdrückend. Er glaubte, kaum noch Platz zu haben zum Atmen. O wenn doch erst Sonntag wäre. Wenigstens einen Menschen sehen, der ihn liebte, immer noch liebte. Vielleicht würde dann die Gefangenschaft ein wenig erträglicher, die Zelle weiter. Tag für Tag derselbe Anblick, dieselben vier Wände. Ursprünglich nur für einen Insassen gebaut, lagen sie hier zu viert, stritten sich und prügelten sich, konnten die Stunden zählen, die sie friedlich verbrachten. Potters schlief auf der Pritsche, Achim mit den beiden anderen auf plattgedrückten und harten Matratzen, die sie zur Nacht auf dem Boden ausbreiteten. Ausgenommen die weißgetünchte Decke, war hier alles in einer düsteren, dunkelgrünen Farbe gehalten. Tisch und Stuhl, der Kübel für die Notdurft neben der Tür, der Schemel gegenüber mit der Kanne und dem Waschbecken, der Hängespind an der Wand für das dürftige Geschirr. Und es war heiß in der Zelle, wurde immer heißer und stickiger, je näher der Sommer kam, und machte sie reizbarer. Manchmal, drückte die Schwüle besonders stark, zogen sie sich aus, bewegten sich nackt, die Lenden nur mit einem Gefängnishandtuch umschürzt. Benno Potters jedoch warf auch das bald ab. Achim dachte nachts wieder an Ulrike. Aber er spürte, wie sie ihm fremder und fremder wurde. Ihr Gesicht verschwamm. Er sah es bei weitem nicht mehr so deutlich vor sich wie noch vor Wochen, im Lazarett mit Ludewik Majer, als er ihr das Gedicht geschrieben hatte. Die Erinnerung an sie verschleierte sich. Sie selbst, ihre Gestalt, ihre Augen, ihr Mund wurden unscharf wie auf einem vergilbten Foto. Er wollte die Schleier zerreißen, im Traum, bäumte sich auf, schrie im Schlaf. Es ging ihm mit ihr wie mit allen, die tagsüber seine Gedanken beschäftigten, Fragen in ihm weckten, die er nicht beantworten konnte. Münz wieder.“
Zwei Jahre später als der Neutsch, also 1976, veröffentlichte der Eulenspiegel Verlag Berlin erstmals den Band „Herrensalon W. Kleinekorte“ von C. U. Wiesner, wozu wir vom Autor folgende interessante Ergänzung erfahren: Nehmse Platz, Herr Jeheimrat! Was gibsn Neues aufm Bau? Wieder Nachtschicht gehabt? Mit diesen Worten begrüßt ein bekannter Berliner Frisör gewöhnlich fast jeden seiner Stammkunden. Meister Kleinekorte war den Eulenspiegel-Lesern zu einem Begriff geworden, seit seine Monologe immer mal wieder in unserer einzigen Zeitschrift für Humor und Satire abgedruckt wurden. (Bei einem Herrenfrisör alter Schule gibt es selbstverständlich keine Zwiegespräche; da redet nur einer, und das ist nicht der Kunde.) Nach fast zwanzig Jahren aber geriet meine Figur in eine tiefe Sinnkrise. Dummerweise war mir im allerersten Text (trauert verlorenen Werten nach) eine Altersangabe unterlaufen. Da sagt Kleinekorte: Wissense. ick bin jetzt an die Zweiundsiebzig. Unter den Lesern des Blattes aber gab es auch mathematisch begabte; und die fingen nun an zu rechnen und taten empört der Redaktion kund, dass es so steinalte Frisöre gar nicht geben könne, und man solle den alten Bartkratzer endlich eines natürlichen Todes sterben lassen. Leserbriefe mussten in der DDR ernst genommen und binnen 14 Tagen beantwortet werden, galten sie doch als Eingaben im Sinne des Staatsratserlasses über Eingaben. So tagte denn das Redaktionskollegium mit heißen Köpfen: Sollten die Leute gar recht haben? Zwar kamen die Briefe nicht aus dem berlin-brandenburgischen Sprachraum, sondern von einem kleinen zänkischen Bergvolk im Süden der Republik. Aber es war ein hoher Prozentsatz von ungehaltenen Konsumenten: Bei einer Auflage von gut dreihunderttausend Exemplaren immerhin zwei Briefe!!! Traurig und verunsichert bangte ich um die Figur, die in all den Jahren nicht nur mir ans Herz gewachsen war. Dann aber bekam ich einen heißen Tipp, der mich zum Gegenschlag ausholen ließ: In der Berliner Brunnenstraße gäbe es einen Herrenfrisör namens Fritz, der noch mit dreiundneunzig Jahren hinter dem Stuhle stünde. Flugs machte ich mich in der Rolle eines Kunden auf den Weg, und siehe da: Mein Informant hatte nicht gelogen. Als das kleine alte Männlein gegen Ende der Sitzung mit zitternden Händen seinen Barbierdegen schärfte, um mir den Nacken auszurasieren, packte mich die nackte Angst. Ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Nun sagt man ja, in solcher Lage zöge blitzschnell noch einmal das halbe Leben an einem vorbei. Von wegen! Ich hatte nichts als scheißernde Angst. Da besann ich mich auf das Wort: Solange noch geredet wird, wird nicht geschnitten. Also begann ich pausenlos auf ihn einzuquasseln. Dabei fragte ich ihn auch: Sagense mal, Meister Fritz, in welchem Altersheim leben Sie denn? Altersheim?!, erwiderte er kopfschüttelnd, Ick lebe als Untermieter - bei ältere Leute. Nachdem ich der Redaktion Bericht erstattet hatte, meinte der Stellvertretende Chefredakteur Karl Kultzscher grinsend: Na, dann lass man deinen Kleinekorte ruhig noch hundert werden. C.U.W. Hier ein Monolog zum Reinhören:
„Frisör Kleinekorte und die Sprichwörter
Nehmse Platz, Herr Jeheimrat! Was gibsn Neues aufm Bau? Wieder Nachtschicht jehabt? Nee, dis is kein Sprüchwort. Dis is bloß ne Redensart. Auf dieses Gebiet kenn ick mir jetz aus wie Hektor mang die Buletten, trotzdem es mir jar keinen Spaß macht - also, ick meine nicht die Buletten, sondern die verdammten Sprüchwörter. Nehmse mal den Kopp ’n bißken runter!
Langsam hat es sich ja nu aufm janzen Kietz rumjesprochen, deß mit mein Jehülfen hier oben nicht ville los is. Und dabei hab ich ihm jahrelang jepredigt, deß der Mensch nicht bloß so in den Tag hineinschnippeln kann. Er brauch auch was Höheres, wenn Se mal von den Wechsel der ewigen Mutter Natur oder die jeweilige Haarmode absehn. Hinten lassen wirs ’n bißken lang, dis kann noch ’n harter Winter werden, und wer jetz keine Kohlen hat, der kauft sich keine mehr - wie der jroße Dichter Carl Maria von Rülke sprecht. Und nu sind meine diesbezüglichen Anregungen - ich sage immer, auch ein blindes Huhn trinkt mal einen Korn - bei Herrn Kafforke auf furchtbaren Boden jefallen. Der Kerrel wird doch jetz anfangen zu sammeln. Nicht etwa Käfer - dazu isser schon zu alt, auch keine Briefmarken - dazu hat er zu klebrige Finger. Er is auch nicht unter die Viele-Blumen-Latilisten jegangen, wie sich die Streichholzschachtelfritzen schümpen, denn dazu müsste er ja in irgendeine jesellige Organisation wie den Kulturbund reintreten. Nein, Herr Kafforke bratet sich natürlich ne Extrawurscht, und sammelt neuerdings Sprüchwörter. Und wenn ick nicht sone Seele von Kamel wäre, denn wär ick schon längst deswegen mit ihm zus Arbeitsjericht hinjesockt, denn Herr Kaiforke missbraucht seine tarifliche Arbeitszeit, um unscheniert seine Sammelleidenschaft nachzufrönen. Dis heißt - hier anne Seiten werdense immer dünner, ick legse mal ’n bißken schräg rüber -, er quasselt jeden Kunden an, was der so an Sprüchwörter drauf hat.
Dajegen hätt ick noch jarnischt, denn ein jeflegtes Kundenjespräch is nu mal dis Salz inne Frisörsuppe. Und vorher konnte ja der Kunde mit Herrn Kafforke über nischt als wie Urlaub, Koppschuppen, Fußball und Ferkligkeiten reden. Jut, aber wenn er nu ein neues Sprüchwort aufjeschnappt hat, legt er Kamm und Schere beiseite und schreibt sichs in ein speckiges Notizbuch. Dabei hat er sich schon drei Kittel mit Kugelschreiber beschmaddert, und denn schreibt er so langsam. Schön, dis is auch noch zu ertragen, aber was dis allersehlimmsic is, mit den Menschen könnense neuerdings jar nicht mehr normal reden. Der ballert sofort mit son dusseliges Sprüchwort zurück und fummelt sich die Dinger obendrein fürn Dienstjebrauch zurecht.
Sage ich beispielsweise: Herr Kafforke, ich bin einfach nicht streng jenuch zu Ihnen, sagt er: Allzu straff gespannt, zerspringt das Rasiermesser. Nu lass ick mir nicht jerne dumm kommen, und von dem schon jar nicht. Also halt ick dagejen: Es is nicht alles Pomade, was glänzt! Und damit fangt der Ärger erst richtig an. Um nämlich mit ins Rennen zu bleiben, muss ich mir notjedrungen selber ein jewisses Pensum an Sprüchwörter aneignen, und dis is ville schwerer, als wenn ick auf meine ollen Tage noch den elektrischen Matrijalismus studieren würde. Tschuldigense, dis is bloß ’n Kratzer, ick jeh gleich mitten Blutstüller rüber. Die Westmesser von mein Sohn sind nämlich schärfer als wie unsere.
Bei meine Forschungen bin ick nu dadrauf jestoßen, deß dis deutsche Sprüchwort einen mächtigen Bogen um die edle Barbierzunft drumrumjeschlagen hat. Und nu müssense dis machen, was der Franzose in eins von seine Sprüchwörter Correggio de la Fortuna nennt, zu deutsch: Wenns wo nicht steht, mußtes dir hinbiegen. Und da brauchense den Dreh bloß erst raushaben, denn jehts wie jeschmiert. Wenn ick mir so den halben Kahlschlag auf manchen Kundenkopp betrachte, fallt mir gleich ein: Viele Glatzen sind des Meisters Tod. Nu kickense man nicht so bedrohlich, denn ick weiß jenau: Den Glücklichen schlägt kein Kunde.
Der große Dichter Schüller muss disselbe Hoppi jehabt ham wie ich und Herr Kafforke, wobei ich Herrn Kafforke nicht mit ein Schenie vergleichen will. Aber nehmse bloß mal den Willem Tell, wo wir inne Schule noch mit verteilte Rollen jelesen ham, ich beispielsweise Rudi, den Fischer: Mach hurtig, Jenni, zieh die Naue ein, der graue Talvogt kommt, dumpf brüllt der Firnis! Heute würde Schüller ville zeitjemäßere Sprüchwörter erfinden, sagen wir mal: Wo Herrn Kafforkes Finger walten, kann sich kein Messerformschnitt halten. Oder: Die Axt im Haus erspart den Herrenfriseur.
Nu is mein Jehülfe schon richtig neidisch, weil der ja im Gejenteil zu mir die Klassiker nie jelesen hat und ick ihm auch nicht verrate, wo was steht. Ich werd doch meine wissenschaftlichen Forschungsergebnisse nicht so ein Laien preisgeben! Der denkt, er kann mir mit so was imponieren wie: Haarwasser hat keine Balken. Oder: Wer andern eine Grube gräbt, muss hinterher zur Koppwäsche. Schließlich bezieh ich meine Ware aus höhere Fähren. Anfeuchten oder trocken lassen - das ist hier die Frage! Und wenn Se dis nächste Mal kommen, würd ick Ihnen ne Koppmassage empfehlen, sonst dauerts nicht mehr lange, und ick muss Ihnen dis dustere Sprüchwort von den großen britischen Trajöden Scheckschpier zurufen: Der Rest is Glatze. Macht zweifuffzig.“
Erstmals 1981 veröffentlichte Walter Baumert unter dem Titel „Schau auf die Erde“ im Verlag Neues Leben Berlin sein dreibändiges Werk über die rebellische Jugend von Friedrich Engels. Der Titel des Dritten Buches lautet: „Der lange Weg der Erkenntnis“. Unter dem etwas anderen Titel „Der Flug des Falken“ erschien der Friedrich-Engels-Roman damals gleichzeitig im Weltkreis-Verlag Dortmund, was damals mindestens einer kleinen Sensation gleichkam: Ein Mensch wächst ins Leben, ein Mensch, mit dem man lachen und weinen, zweifeln und hoffen kann. Der wohlbehütete Fabrikantensohn, mit überdurchschnittlicher Intelligenz begabt und von großem Gerechtigkeitsempfinden erfüllt, wird zwischen der Zuneigung zu den Eltern, der Liebe zu Gott und der Armut und Ungerechtigkeit in der nächsten Umwelt hin und her gerissen. Seine Versuche, sich aufzulehnen, bringen ihn oft in Bedrängnis und führen zur harten Entscheidung des Vaters, dass er Kaufmann zu werden habe. Nebenbei bildet er sich, sucht er Gleichgesinnte, streitet Nächte hindurch, schreibt Gedichte und liebt - das Arbeitermädchen Agnes, die todkranke Pianistin Magdalena, die wenig ältere Susanne, die kapriziöse Jane, dann lernt er Mary Burns kennen. Ein junger Mensch in seinem Widerspruch, in seiner Entwicklung wird dargestellt: Friedrich Engels. Die gute alte Zeit um 1830 war keineswegs eine beschauliche Epoche. Auch wenn der preußische Obrigkeitsstaat für Friedhofsruhe gesorgt zu haben scheint, gärt es in deutschen Landen. In dieser Zeit des Vormärz wächst der junge Engels heran, Sohn eines Wuppertaler Textilfabrikanten. Schon früh stößt Friedrich auf den Gegensatz von industriellem Aufschwung und dem Elend der arbeitenden Menschen. Schritt für Schritt löst er sich aus der beengten Umgebung des Elternhauses. Begegnungen mit immer neuen Menschen geben Friedrich neue Anstöße, die Halbheiten manches Vorbildes reizen zum Widerspruch, das Unrecht zur Rebellion. Das 1981 sowohl in der DDR als auch in der BRD erschienene Buch erreichte eine Gesamtauflage von 250 000. Nach dieser literarischen Vorlage drehte das Fernsehen der DDR 1985 seinen vierteiligen Film „Flug des Falken – die frühen Jahre des Friedrich Engels“ (Regie: Peter Wekwerth) mit Dirk Wäger als Friedrich Engels und unter anderen Jan Josef Liefers als Karl Leupold, Sohn des Bremers Kaufmanns und Konsuls Leupold). Das hier vorgestellte 3. Buch schildert die Armeezeit in Berlin und die Ankunft in England. In dieser Szene geht es um eine Liebeserklärung und – wie nicht anders zu erwarten – um Politik und Klassenkampf:
„Die Droschke hielt. Sie warteten, bis der Kutscher den Schlag öffnete, und stiegen aus. Mit einer tiefen Verbeugung bedankte sich der Mann für das reichlich bemessene Salär. Sie hatten ihre feinste Garderobe angezogen und stolzierten an den Gaffern vorbei über den Lindenboulevard zum Eingang, wo in goldenen Lettern das Schild mit der Aufschrift „Traiteur Jagor“ prangte. Ein livrierter Portier riss die Tür auf. Angenehme Kühle und Stille umfing sie, jene Atmosphäre gehobener Noblesse, die aus Marmorwänden, Edelhölzern und zolldicken Perserteppichen hervorzuquellen schien und jedes vorwitzige Geräusch wie einen Makel im Keim erstickte. Sie waren im ersten Restaurant der Stadt, im Rendezvous des höchsten Adels und des großen Geldes. Le maitre de réception mit dem Habitus eines englischen Lords trat an sie heran, versuchte sie einzustufen und zelebrierte mit gnädigem Gesicht das Empfangszeremoniell. „Haben die gnädigen Herrschaften irgendwelche besonderen Wünsche?“
„Sans doute, mon ami“, rief Friedrich unwirsch und zog beleidigt eine Augenbraue in die Höhe. Der Wunsch, diesen Menschen in Verlegenheit zu bringen, trieb ihn zu den verstiegensten Forderungen. „Einen kühlen, diskreten Platz ...“ –
„Unter Palmen natürlich“, ergänzte Susanne im Tonfall einer Erzherzogin. „Wir lieben es orientalisch.“ –
„Aber nicht ohne die preußische Note, mein Schatz! Daher wäre ein Fensterblick auf das Brandenburger Tor nicht zu verachten. Dazu italienische Musik.“ - „Spanischen Wein und französische Küche.“ - „Mit einem leicht englischen Beigeschmack.“ –
„Lieber nicht!“
Ihre Lordschaft war keineswegs betroffen. Sie nickte gemessen. „Salon drei“, sagte sie und gab Anweisung. Sie folgten zwei Treppenabsätze hinauf und fanden alles so vor, wie sie es gewünscht hatten. „Bis auf die Palmen“, begehrte Susanne auf. „Ich bestehe auf Palmen!“
Friedrich wies auf die Tür. Eine ganze Batterie ausgewachsener Zimmerpalmen wurde hereingeschoben und um ihre Fensternische gruppiert.
Susanne gab sich geschlagen. „Eins zu null für Monsieur Jagor“, sagte sie, während eben die Speisekarte mit vierzig Seiten Umfang und eine Getränkeaufstellung mit mehr als zwanzig Weinen vorgelegt wurde. Die Fenstervorhänge wurden gelüftet und gaben tatsächlich den Blick zum Brandenburger Tor frei. Die Streichergruppe begann von Gluck zu Bellini überzugehen.
Friedrich und Susanne sahen sich an und lachten so laut, dass die Gäste an den benachbarten Tischen aufmerksam wurden. Kneifer und Lorgnetten richteten sich neugierig auf sie. Man steckte die Köpfe zusammen, begann zu rätseln. Ihre Jugend hob sie von der Mehrzahl der Gäste ab, und das eigens für sie aufgebaute Palmenwäldchen gab ihnen den Anstrich höchster Exklusivität. Die Musiker spielten ihnen zu, und sie ernteten bewundernde Blicke. Sie genossen ungeniert ihre Vorzugsstellung, ließen sich das Menü und den Malaga schmecken und segelten auf der Woge allgemeinen Wohlwollens ungezwungen in den Abend hinein. Der Wein tat seine Wirkung. Susanne setzte sich näher zu Friedrich. Die Musik wurde einschmeichelnder, Zeit für Friedrich, auf sein Ziel loszusteuern.
Er nahm ihre Hand. „Schließ die Augen, mein Liebling!“
„Zu Befehl, Euer Gnaden.“
Er streifte ihr den Ring über. „Jetzt darfst du die Augen öffnen.“
Susanne sah auf ihre Hand. Überraschung malte sich in ihrem Gesicht. „Nein, das kann ich nicht annehmen! Er muss ja ein Vermögen gekostet haben.“
„Du wirst ihn annehmen! Es ist mein Verlobungsgeschenk. Fräulein Susanne Esser, ich frage Sie hiermit in aller Form: Könnten Sie sich an den Gedanken gewöhnen, meine Frau zu werden?“
Susanne atmete schwer. „Fritz ...“, begann sie zögernd.
Friedrich hielt ihr den Mund zu. „Still, wenn du etwas anderes als ja sagen willst. Ich möchte dich nicht überrumpeln. Du sollst nur wissen, ich kann mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen.“ Drängend bat er: „Sag, dass du mich liebst!“
„Mein lieber großer, dummer Junge!“
„Sag es!“
„Wie kannst du daran zweifeln? Aber ...“ Sie wollte den Ring abstreifen.
Friedrich umarmte sie. „Kein ,aber‘!“ Er schloss ihren Mund mit einem Kuss. „Kein ,aber‘!“
„Nun gut“, fügte sie sich schließlich. „Ich trage deinen Ring, solange wir noch zusammen sind. Aber keine Verlobung!“
„Du liebst mich also nicht?“
„Dummkopf! Gerade weil ich dich liebe, lasse ich dir so lange die Freiheit, bis du die Welt kennengelernt hast. Wenn du, sagen wir in einem Jahr, immer noch so denkst ... Ich laufe dir hier nicht weg.“
„Und die Einladung zu meinen Eltern?“
„Hebe ich auf bis dahin.“
Er wollte etwas sagen, ihr seine festen Entschlüsse mitteilen, da aber wurde seine Aufmerksamkeit von einem merkwürdigen Geschehen im Saal abgelenkt.
Irgendjemand war mit einer Zeitung in den Raum getreten, hatte sich damit an einen der Gästetische begeben. Aufregung, Bewegung am Tisch. Man rief etwas zum Nebentisch. Wie ein Lauffeurer verbreitete sich eine Nachricht, löste Bestürzung aus, Schrecken, Entsetzen. Die Männer liefen zusammen. Einige verließen eilig den Raum. Die Kapelle hörte zu spielen auf. Das Wort „England“ schwirrte von Mund zu Mund. Friedrich hielt den Kellner, der aufgeregt vorbeihastete, am Ärmel fest. „Was ist denn passiert?“
„In England ist die Revolution ausgebrochen.“
„Woher wissen Sie das?“
Alle reden davon. Die ,Times' ...“ Friedrich sprang auf. Er lief zur Gruppe der Männer. Irgendwie erwischte er das Zeitungsblatt, kam damit zu Susanne zurück.
„Chartistenaufstand in Manchester“, übersetzte er. „Die Stadt in den Händen der Rebellen. Industrie lahmgelegt. Aufgeputschte Arbeiter verbreiten Terror und Schrecken. Regierung verhängt Belagerungszustand. Steht England am Rande einer Revolution?“ Er ließ das Blatt sinken. Die Nachricht hatte ihn überwältigt. „Also England!“ Sein Gesicht glühte vor Begeisterung. „The old glorious Britain! Wer hätte das gedacht! Die Arbeiter von Manchester! Dem Alten wird es ganz schön in die Glieder fahren! Sieh mal, wie hier alles durcheinanderrennt! England! Worauf wir hier seit Jahr und Tag hoffen, im reichen, konservativen England geschieht es: Die Arbeiter erheben sich! Weißt du, was das für mich bedeutet, Susanne? Nichts weniger als eine totale Wendung ...“ Er unterbrach sich plötzlich, starrte Susanne an. Sie hatte sich zurückgelehnt, beobachtete ihn mit einem heiter-traurigen Lächeln.
„Susanna, glaubst du, dass ich jetzt meine Pläne ...“
Sie unterbrach ihn rigoros. „Ich glaube gar nichts. Ich weiß es!“
Friedrich schwieg unsicher.
Susanne hob ihr Glas. „Auf die große Hoffnung deines Lebens!“
Friedrich nahm zögernd sein Glas. „Susanne!“, stammelte er.
Sie trank. Plötzlich standen Tränen in ihren Augen. Sie wandte sich rasch zu ihrem Täschchen. „Ich glaube, ich bekomme einen Schnupfen.“
Den Rest der Nacht, den ganzen folgenden Tag drehten sich Friedrichs Gedanken um die Ereignisse in Manchester. Als er am Abend nach Dienstschluss auf das Kasernentor zuging, wurde ihm bewusst, dass Susanne nicht mehr in der Stadt weilte, dass er nicht einfach den Weg über die Weidendammerbrücke zur Linienstraße gehen konnte, um sie zu sehen, ihre Meinung zu hören. Der ganze lange Abend lag vor ihm, einsam und leer.“
Erstmals 1998 brachte der Berliner Verlag Alt-Friedrichsfelde 73 den Roman „Das bayerische Jahr. Fragment einer Kindheit in Deutschland“ von Rudi Benzien heraus, Die in dem Buch zitierten Wehrmachtsberichte wurden dem „Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht 1944 - 1945, Teilband 2“ entnommen: Da geht einer auf Reisen, die Reise heißt Flucht und geht von Schlesien über Dresden bis in ein niederbayerisches Dorf. Der Held des Romans ist fast zehn Jahre alt. In Dresden überlebt er mit seiner Mutter das Bombeninferno. Das bayersche Jahr schließt das Kriegsende ein und die ersten Monate danach. Eine aufregende, prägende Zeit, die dem Zehnjährigen Entscheidungen und Handlungen abverlangt, die existenzieller Art sind … Dennoch ist dieser Roman kein Leidensbericht, weil der Held der Geschichte ein entfernter Verwandter des grimmelshausenschen „Simplizissimus“ zu sein scheint. Und so beginnt dieses „Fragment einer Kindheit“ – gleich mit zwei Mal traurigen Augen und angeblichen Heldenberichten:
„10. Februar 1945
Aus dem Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht
HEERESGRUPPE MITTE: BEI SAYBUSCH GESPANNTE LAGE. DER GEGNER DRANG IN DEN OSTTEIL VON LIEGNITZ EIN: BEI BRIEG KAM ER NICHT WEITER VOR. DIE 20. PZ. = DIV. GEWANN GELÄNDE IN RICHTUNG GROTTKAU. NÖRDLICH BRESLAU STIESS ER BIS AN DEN BOBER VOR UND SETZTE MIT SCHWACHEN KRÄFTEN AN DREI STELLEN ÜBER. DIE DIV. „GROSSDEUTSCHLAND“ MUSSTE ZURÜCKWEICHEN, WAHRTE ABER DEN ZUSAMMENHALT. DER FEIND KAM BIS PRIMKENAU. VON KÜSTRIN WIRD DIE 21.PZ.=DIV. HERUNTERGEZOGEN. AN DER WEICHSEL NUR GERINGE TÄTIGKEIT…
Peter stand an der Tafel. Gleich musste das Klingelzeichen den Beginn des Unterrichts einläuten. Peter musste sich auf die Zehenspitzen stellen, damit er den oberen Rand der Tafel erreichen konnte, um das Datum in die rechte Ecke schreiben zu können.
Mit dem Klingelzeichen betrat die Lehrerin das Klassenzimmer. Die Kinder schnellten aus ihren Bänken hoch, nahmen eine stramme Haltung an. „Heil Hitler“, grüßte die Lehrerin. Achtundzwanzig Kinderärmchen reckten sich in die Höhe, mit ihren dünnen Stimmen beantworteten die Jungen und Mädchen den Gruß der Lehrerin. Bevor sie das übliche „Setzen“ sagen konnte, meldete sich Dieter Kranz, der Sohn des Dorfschmieds: „Fräulein Albrecht, dem Werner Krause sein Vater ist gefallen.“ Es war Brauch, dass vor Unterrichtsbeginn das Lied vom „Guten Kameraden“ gesungen wurde, wenn ein Angehöriger eines Schülers gefallen war.
Werner Krause durfte sich vor die Klasse stellen. Die Kinder sangen das Lied. Werner war der Held des Tages. In der Pause suchten alle seine Nähe. Nach dem Unterricht blieben die Jungen im Klassenzimmer. Rund um Werners Platz saßen sie auf den Schultischen. Jeder gab eine Kriegsgeschichte zum Besten. Sie prahlten mit den Heldentaten ihrer Väter. In den meisten Fällen entsprangen die Heldentaten der Fantasie der Jungen.
Peter ärgerte sich. Er konnte nichts erzählen. Sein Vater war nicht Soldat und alle in der Klasse wussten es. Er litt daran, dass sein Vater in Berlin in einem kriegswichtigen Betrieb arbeitete und deshalb nicht eingezogen wurde. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sein Vater endlich Soldat werden sollte.
Am Nachmittag trafen sich Peter, Werner und Dieter am Ufer der Neiße, die das Dorf in zwei Ortsteile trennte, in Lodenau an diesem Ufer, in Zoblitz am anderen. In den Büschen, die das Lodenauer Ufer überwucherten, hatten sie sich eine Höhle gebaut, die sie Bunker nannten; eine tiefe Kuhle, über die Bretter gelegt waren.
Werner erzählte von seinem Vater: „Wisst ihr, er war schwer verwundet. Doch bevor er den Heldentod starb, hat er noch zwölf Iwans erschossen. Ehrlich, sein Kamerad hat's uns geschrieben. Ich kann euch den Brief zeigen, wenn ihr es nicht glauben wollt.“
„Los, wir spielen Krieg. Ich bin Werners Vater, ihr beide seid Russen, ich schieße euch tot“, schlug Dieter vor und hantierte dabei mit einem Knüppel wie mit einem Gewehr herum. Werner protestierte: „Ich bin mein Vater und ihr beide müsst Russen sein, sonst mache ich nicht mit.“
Sie einigten sich, dass jeder mal Werners Vater sein sollte und die beiden anderen erschießen dürfe. Nach einer Weile wurden sie des Spiels überdrüssig, sie gaben es auf…
Sie liefen zur Brücke und spielten „Sprengen“. Dieter war ein russischer Panzer, wenn er auf der Brücke brummte, sprengten Werner und Peter die Brücke. Auch an diesem Spiel verloren sie bald die Lust.
Von der Zoblitzer Seite näherte sich ein grotesker Zug. Die Jungen kannten diesen Anblick, doch übte er immer wieder einen besonderen Reiz auf sie aus. Seit Wochen zogen fast täglich Flüchtlingstrecks durch das Dorf. Das erste Fuhrwerk hatte die drei Jungen erreicht. Zwei Ochsen zogen den Kastenwagen, der mit einer Plane überspannt war. Vorn, auf dem Bock, saßen eine Frau und zwei Kinder.
Neben dem Wagen ging ein Mann und trieb die Zugtiere an. Die Tiere boten einen jämmerlichen Anblick. Sie hatten kaum noch Fleisch auf den Knochen. An einigen Stellen sah es so aus, als würden die Knochen gleich das Fell durchstoßen. Die Hufe waren völlig zerfetzt, als bestünden sie aus Lumpen.
Auf die drei Jungen, die am Straßenrand hockten, machte der Zug einen abenteuerlichen Eindruck. Jeder von ihnen wünschte sich, auf einen dieser Wagen steigen zu dürfen und mit in die unbekannte Ferne zu fahren.
„Ob die bis Amerika fahren?“, fragte Dieter.
„Quatsch, solange halten doch die Ochsen nicht mehr durch“, stellte Werner fest.
Peter begann laut zu lachen: „Ihr seid ganz schön blöd. Bis Amerika können die überhaupt nicht kommen, da müssten sie nämlich mit ihren Ochsen über das Meer schwimmen.“
Hinter dem letzten Fuhrwerk gingen sie ins Dorf.
„Hoffentlich müssen wir hier auch bald los. Mann, das wäre eine Sache! Keine Schule, den ganzen Tag mit dem Wagen rumkutschieren …“, schwärmte Dieter.
Peter, der mit seiner Mutter aus Berlin gekommen, um hier vor den Bomben Schutz zu finden, kamen Bedenken. „Wir haben aber keinen Wagen und auch kein Pferd. Und Wegeners, wo wir wohnen, die haben mal gerade einen Handwagen“, sagte er und sah betrübt vor sich hin.
„Wenns weiter nichts ist“, sagte Dieter großspurig, „dann steigt ihr eben mit auf unseren Wagen.“ Peter freute sich über Dieters Angebot.
Die Jungen trennten sich und gingen nach Hause. Peter stieg über den Gartenzaun, stapfte durch den verschneiten Garten. Er lief mehrmals im Kreise und freute sich über die Schneckenspur, die dabei entstand. Er zog eine gerade Spur von der Schnecke zur Haustür. Geräuschvoll stieg er die Treppe zur ersten Etage hoch.
Als er das Zimmer betrat, fand er seine Mutter am Tisch sitzend. Sie hielt ihren Kopf zwischen den Händen und ihre Schultern zuckten: Sie weinte.
Peter war ratlos. Er konnte sich nicht erinnern, seine Mutter je weinend gesehen zu haben. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Am liebsten hätte er unbemerkt das Zimmer wieder verlassen. Was mag denn bloß passiert sein? fragte sich Peter. Auf Zehenspitzen schlich er sich am Tisch vorbei zum Fenster. Er sah einen Brief auf der Tischplatte liegen. Das muss wohl der Grund sein, dass sie weint, vermutete er. Seine Mutter schien seine Anwesenheit noch immer nicht bemerkt zu haben.
Von der Straße herauf klangen die Geräusche einer marschierenden Soldatenkolonne durch das geschlossene Fenster. Die Soldaten sangen: „Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein und, das heißt Erika …“ Der Soldatentrupp nahm Peters ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er beneidete Werner, dessen Vater gefallen war und sein Vater war nicht mal Soldat.
Peters Mutter hob den Kopf, bemerkte ihren Sohn, der wie gebannt durch die Fensterscheibe starrte. Sie ging zum Fenster, legte ihre Hand auf seine Schulter.
Peter sah in ihr Gesicht. So traurige Augen hatte er bei ihr noch nicht gesehen. Ihm fiel ein, schon einmal einen traurigen Blick gesehen zu haben. Er erinnerte sich: Das war bei seinem Onkel in Mecklenburg gewesen. Die Hündin seines Onkels hatte Junge gehabt, fünf Stück. Der Knecht hatte sie nacheinander an die Wand geworfen und anschließend verscharrt. Die Hündin stand vor dem Korb, in dem ihre Jungen gelegen hatten, sie suchte sie und fand sie nicht. Traurigere Augen hatte er nie vorher gesehen.
Damals hatte er überlegt, wie er die jungen Hunde hätte rächen können …“
Erstmals 1998 erschien im SPOTLESSVerlag Berlin „Der Alte und das Biest. Krimi-Etüden“ von Dietmar Beetz: Auch wer kein Freund von Kriminalromanen ist, wird die Geschichten, die Dietmar Beetz schrieb, mit stillem Vergnügen lesen. Er hat sie nicht im Milieu der Mafia oder schießwütiger Ganoven angesiedelt, sondern im Alltag der Gegenwart. „Manches ist so makaber wie unser Leben“, bekannte ein Schriftstellerkollege in einem Brief an den Autor, der schon zu DDR-Zeiten zahlreiche Bücher veröffentlichte. Damals fuhr er als Schiffsarzt auf den Weltmeeren, heute betreibt er auf dem thüringischen „Festland“ eine kleine Praxis, die ihm Zeit lässt zu schreiben. Manchmal könnte man glauben, die Wut über so manche Um- und Zustände geht mit ihm durch. Deshalb der Hinweis auf seinen humanistischen Beruf. Und hier ist zum „stillen Vergnügen“ in voller Länge die titelgebende Geschichte des Bandes:
„DER ALTE UND DAS BIEST
Damals, bei ihrem ersten Auftritt, kam sie in seiner Begleitung herein, aber ich wette, niemand von uns Rabauken hat von ihm in diesem Moment mehr als einen Schatten erfasst. Wir alle, Männlein wie Weiblein, guckten vor zu ihr, die von der Tür zum Lehrertisch schritt, nein: schwebte, und als sie dort angelangt war, als sie dort stand und uns ansah, wurde wahrscheinlich endgültig eine Weiche gestellt.
Jetzt, nachdem es passiert ist, fast ein Jahr später, fällt es nicht leicht, das, was sich damals getan hat, wahrheitsgetreu, also ungestylt, aufzuschreiben. Ich will’s versuchen, obwohl ich mir nicht sicher bin, dafür geeignet zu sein; denn selbstverständlich hat Goldkind auch mich - nun, sagen wir: beeindruckt.
Goldkind - der Name, den die Neue sehr bald abbekam. Vermutlich wurde er ihr schon als sie zum ersten Mal vor uns stand, angehängt. Da schien nämlich die Morgensonne - es war Anfang September und kurz nach acht - so zu uns herein, dass ein Strahl die von Kreidestaub erfüllte Luft vorn beim Lehrertisch in einer Höhe von schätzungsweise einem Meter fünfundsechzig durchschnitt und alles, was auf seine Bahn geriet, aufleuchten ließ.
Ihr Haar leuchtete wirklich, und dieser Anblick könnte für Ergo, unser „Genie“, der Zündfunke gewesen sein. Jedenfalls war er es, der, soviel ich weiß, den Namen als erster aussprach; und was noch wichtiger ist: Als sie vor uns stand und Schappi, Ergos Tischnachbar und Adjutant, unschlüssig grinsend zu ihm, seinem Herrn; sah, als auch wir anderen uns zumindest aus den Augenwinkeln schielend bei unserem Anführer und Tonangeber orientierten, da machte der, ohne den Blick von Goldkind zu wenden, eine kurze, unwillige Bewegung. Kein Abtasten also, erst recht kein Härtetest. Für die Neue war, noch bevor wir ein Wort von ihr gehört hatten, der rote Teppich entrollt - genauer: eine goldene Brücke errichtet worden.
Und nun trat Paläo, ihr Kollege, Mentor und Was-später-alles-sonst-noch, aus dem graugrünen Dämmer vor der Wandtafel an ihre Seite. Obwohl er sie hereingeleitet hatte, schienen wir ihn jetzt erst zu bemerken, und wieder war es Ergo, der durch einen Kopfruck einen Befehl gab. Schnauze halten, ihn reden lassen!
Paläo sagte, was bei solchem Anlass halt zu sagen ist: dass Frau, nein, Fräulein Wiepke - es war, wie ungewöhnlich das auch sein mag, ihr Familienname - uns, die 11 A, in Kunstgeschichte und überdies, zunächst unter seiner Anleitung, in Deutsch unterrichten werde, und dass er als Klassenleiter ihr zu unserem gemeinsamen Werk alles Gute wünsche.
Ja doch, ja, dachte ich und dachten mit Sicherheit auch die anderen zweiundzwanzig an den zwölf Tischen in drei Reihen zu vier; wir waren vollzählig anwesend und so kurz nach den Sommerferien noch fast unerschütterlich in unserer Duldsamkeit selbst gegenüber einem Dauerlangweiler wie Paläo.
Hätte er sich wenigstens in seinen Grenzen gehalten! Wäre er von seiner zahnlosen Begrüßung und Vorstellung übergegangen zu seinem zahnlosen Unterricht - bei der Laune, die wir draufhatten, und mit Goldkind im Raum, wären die fünfundvierzig Minuten bestimmt erträglich verstrichen.
Paläo aber musste sich überbieten. Die Anwesenheit von Goldkind hatte wohl auch in ihm etwas mobilisiert, dessen Existenz uns und vermutlich ihm selber unbekannt gewesen war, und so wurde er vollends zur Karikatur, schlimmer: zum Ärgernis. Nicht nur, dass er, auf den Zehenspitzen wippend, Aufmerksamkeit verlangte; nicht einmal, dass er, bedeutsam und Speichel versprühend, gebot: „Beginnen wir mit Goethe!“ Täppischer und ärger, unverzeihlich und bezeichnend war, dass er Goldkind zu Isa der Entsafterin an den „Läusetisch“ beordert hatte.
Sowohl mit dem Tisch als auch mit Isa an sich und mit Isa an diesem Tisch hatte es seine Bewandtnis, und durch die Aufforderung, dort Platz zu nehmen, war wieder einmal offenkundig geworden, dass Paläo aus einer anderen Zeit kam, aus einer anderen Welt. Für ihn, den kurzsichtigen, kurzatmigen Alten, war vermutlich der Doppelplatz rechts hinten nur deshalb bloß von einer Person besetzt, weil die Klassenstärke der 11 A bei vierundzwanzig Sitzplätzen lediglich dreiundzwanzig betrug, und Isa die Entsafterin hielt er höchstwahrscheinlich für ein beliebiges Mitglied der Schar ihm anvertrauter Jugendlicher. Ein weißer Fleck der Bereich, wo Isa sich einen Namen gemacht. In dieser Sphäre war sie so genial wie Ergo auf anderem Gebiet.
Ergo, der am ersten Tag des neuen Schuljahres nach dem ersten Blick in den neuen Klassenraum bestimmt hatte: „Du, Isa, dorthin!“
Unausgesprochen, uns allen aber klar - die Begründung: Damit du während des Unterrichts keinem an die Hose greifen kannst; schließlich wollen wir das Abi machen.
Isa war also geparkt, das heißt: stundenweise aus dem Verkehr gezogen worden, und die Platzierung von Goldkind neben ihr wirkte auf uns wie die Einquartierung der Madonna in einem Massagesalon: Wir hatten, diese barbarische Ahnungslosigkeit zu verkraften, erst mal zu tun.
Paläo aber wippte und sprühte schon wieder. Goethe war angedroht, die Lyrik des Herrn Geheimrat gefragt. „Wer, meine Damen und Herrn, rezitiert ein Gedicht unseres größten Dichters? Freiwillige vor!“
Unter dem Sonnenstrahl, der jetzt den faltigen Hals des hageren Alten traf, blieb es still. Noch war es eine sozusagen ungeordnete Stille, ein Schweigen ohne Zweck und Ziel; selbst Ergo schaute Paläo an, als sehe er sonstwas und denke bestimmt nicht an Goethe.
„Na, meine Damen und Herrn, wohl noch in den Ferien? Was soll Fräulein Wiepke von Ihnen halten? Oder muss ich erst andere Saiten aufziehn?“ Bei „Saiten“ kippte die Stimme, und im Sonnenstrahl leuchtete eine Fontäne auf. Im Übrigen war der Satz mehr Eingeständnis von Ohnmacht, als Kriegserklärung, wenngleich er störte und zu einer Erwiderung zwang.
Wie die auszusehen hatte - Ergo führte es vor. Er hob lässig, gerade noch unanstößig die Hand, erklärte, Prometheus rezitieren zu wollen, ließ die Lobpreisung, die erleichterte, ungerührt versprüh’n und legte, bevor er anfing, eine genau berechnete Pause ein. „Bedecke deinen Himmel, Zeus ...“ Das hatten wir schon anders gehört und anders vorgetragen: das Gehaspel der Aufsager mal außer acht gelassen, meist aufmüpfig, zornig, erfüllt von Pubertätsfrust. Nicht so, was jetzt zu hören war.
Ergo sprach halb zum Fenster und halb zu Paläo hin, und dabei wurden wir staunend gewahr, dass in den Versen des späteren Geheimrats auch eine Menge Arroganz, Kraftmeierei und Gehabe stak, ja, dass man seinen Prometheus durchaus zu einer Kreuzung aus Playboy und Ali Muhamed machen konnte.
Nicht, dass einem jeden von uns und einer jeden das glasklar bewusst geworden wäre. Gespürt aber haben wir alle, die Dösköpfe ausgenommen, das sehr wohl; schließlich waren wir ja zwei Schuljahre lang von Paläo auf dergleichen getrimmt worden.
Und er, der Alte, nun, nach dieser Abfuhr, diesem Urteilsspruch? Merkwürdig und beklemmend, zu sehn, wie es in ihm rumorte. Das welke Gesicht hatte sich gerötet, die Augen hinter den whiskyglasdicken Gläsern verrieten Betroffenheit, ja Empörung im Streit mit Entzücken, und wahrscheinlich huschte durch den spärlich behaarten Schädel die Erkenntnis: Die ich rief, die Geister ...
„Ja“, brachte er schließlich über die schmalen bläulichen Lippen, und fast schon schien sich die Verstrickung zu lösen, „ja, meine Damen und Herren, auch so kann man Prometheus interpretieren.“ Damit war er eigentlich aus der Schlinge, doch an diesem Morgen wurde er offenbar vom Teufel geritten, denn nun wandte er sich an Goldkind, die still und allgegenwärtig neben Isa der Entsafterin saß. „Oder sind Sie anderer Meinung, Fräulein Wiepke?“
„Nein, wieso?“ Ja, eben?!
Keine Antwort, statt dessen der nächste schwerwiegende Schnitzer. „Und was, Fräulein Wiepke, ist Ihr Lieblingsgedicht?“
„Von Goethe?“, vergewisserte sie sich, während sie aufstand - eine Frage und eine Bewegung, die ihn sichtlich verwirrten, und da er wiederum eine Erwiderung schuldig blieb, begann sie, ein uns damals noch unbekanntes Gedicht vorzutragen. „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer ...“
Es war, wie mir später klar wurde, der geschickt platzierte Gegenpart zu Ergos Playboy-Provokation. Nicht etwa eine Ohrfeige, nicht einmal eine Zurechtweisung, nein: eine gespielte Alternative und der vorgebliche Versuch, zwischen Ergo und Paläo, letztlich also zwischen dem Alten und uns, zu vermitteln.
Das aber begriff ich, wie gesagt, erst später. An jenem Morgen war ich, waren wir alle zunächst einfach baff. Was wir eben gehört hatten, das sollte von Goethe sein, aus seinem „Faust“? Goldkind hatte die Quellenangabe in verändertem Ton gemacht, sie sachlich ihrer Rezitation angehängt. Nun saß sie wieder neben Isa am Läusetisch, doch die Worte von Gretchen Bella Goldkind summten noch um und in uns.
Niemand, der cool geblieben war. Selbst ich, seit je zurückhaltend und darauf erpicht, genau zu beobachten und mir meinen Reim zu machen - selbst ich hatte „abgehoben“, und so registrierte ich nun gleichsam schwebend und mit allen Poren, wie sanft und in sich gekehrt Ergo neben dem gaffenden Schappi hockte, wie bleich und spitznasig Isa wirkte ...
Erschütternd - der Anblick von Paläo. Er schwieg, obgleich es sicherlich aus ihm schrie. „Habe, ach ... Und die?“
Das ist keine Übertreibung, leider, ist nicht einmal sonderlich gestylt. Paläo hatte, wie ich mittlerweile weiß, an jenem Morgen tatsächlich entfernte Ähnlichkeit mit dem Faust vom Anfang der Tragödie, versetzt mit einem Schuss Prometheus. Ähnlichkeit, entfernte, wie gesagt, und die auf vertrackte Weise. Schon seine Ausgangslage, seine private Situation, war quasi faustisch: Seit Jahren verwitwet, leidend und vorzeitig gealtert, lebte er allein zwischen wandhohen Bücherregalen, allein und - es muss so gesagt werden - für uns. Wir, die 11 A der Goethe-Schule, waren, wie kitschig das auch klingen mag, der Inhalt seines Daseins, wir und, mit Abstand, die anderen Barbaren, die er in Deutsch unterrichtete. Zwei Jahre vorher hatte er uns als seine letzte zum Abitur zu führende Klasse übernommen, und seitdem diente er uns mit heißem Bemühn.
Was, wenn so ein Mann, so ein Mensch unentrinnbar ins Aus gerät? Wenn er dort, wo er am empfindlichsten ist, ständig gepiesackt wird? Wenn er überdies an einer Krankheit zu schleppen hat, an einem Leiden, das sich unter solcher Belastung ins Unerträgliche aufstockt?
Wir wussten, dass Paläo Asthma hat, „Herzasthma“, wie Schappi, der Medizin studieren will, wichtigtuerisch behauptet hatte. Ob nun das Herz oder die Bronchien oder das Herz infolge der Bronchien beziehungsweise der Lunge - das erscheint hier nebensächlich, zumal im Labyrinth der Brust manches verworren ist und wohl unentwirrbar bleiben wird. Bedeutsamer jedenfalls und festhaltenswert, und sei’s nur für kriminalpolizeiliche Nachfragen, dass Paläo in letzter Zeit, so ab Ostern etwa, seine Pillen auch im Unterricht geschluckt hat.
Da war die Tragödie, die sich an jenem Septembermorgen angebahnt hatte, längst bis zum vierten Akt, kurz vor dem Höhepunkt, gediehen. Zwischen dem Auftakt, bei dem eigentlich schon alle verhängnisvoll wirkenden Kräfte