„Der silbergraue Lancia in seiner Torpedoform mit dem niederen Chassis liegt wie ein Geschoss auf der Straße. Silbern steht die Luft über der asphaltnen Magistrale zwischen Toulon und Marseille, silbern der Dunst über dem morgendlichen Meer. Die Olivenhänge, die Palmen, die Datteln, die Agaven und Mimosen auf der Felsseite sind mit dem Silberstaub des heißen Augustmorgens bedeckt. Der feine Staub überzieht auch die Gesichter der drei Menschen, die in der großen Sportmaschine die Gerade nach Bandol hinabfliegen, das braune Jungensgesicht Gastons am Steuer, neben ihm das helle, flammende Rot seiner Freundin Margret; der Staub überkrustete auch im Fond des Wagens Onkel Robbys dicken, an sich schon grauen Schnauzbart und seinen breiten hochbetagten Filzhut, dessen Hauptfunktion darin zu bestehen scheint, dass Onkel Robby ihn während der sausenden Fahrt immer wieder auf- und absetzt.
Um jedes Missverständnis gleich anfangs auszuschließen: Onkel Robby erfreut sich keinesfalls englischer Abstammung. Sein Name ist anglisiert durch Margrets Anrede. Denn Margret Piersons bloße Anrede ist Befehl. Sie ist die ungekrönte junge Queen der Mannschaft des Wagens. Ihr heller, straffer Staubmantel um ihre breiten Schultern wirkt wie ein silberner Kettenpanzer, ihre fest anliegende Kopfhaube wie ein Helm. Jeden leisen Widerspruch ihrer Vasallen erledigt sie mit einem: ‚Ihr seid hässlich, ihr seid unmöglich, ihr liebt mich nicht!‘“
Die Erzählung spielt in der atemberaubenden Landschaft Südfrankreichs zur Zeit des drohenden Zweiten Weltkriegs. Dort trifft das soeben kennengelernte ungewöhnliche Trio auf die eigentliche Hauptgestalt des Textes, auf den ehemaligen Spanienkämpfer Jan Brosek. Sie alle sind auf der Flucht - vor der politischen Realität, vor ihren inneren Konflikten und vor der unausweichlichen Dunkelheit, die Europa bevorsteht. Jan, ein gebrochener Mann mit dem Willen, neu anzufangen, und Margret, eine junge Frau mit einer unbändigen Lebenslust, kämpfen auf unterschiedliche Weise um den Erhalt von Freiheit und Liebe. Die Reise auf der Route zwischen Toulon und Marseille wird zur Bühne für ein existenzielles Drama. Wird die Flucht vor dem Krieg gelingen, oder sind sie längst Teil davon? Eine packende Erzählung über Leidenschaft, Widerstand und die unbändige Hoffnung auf eine bessere Zukunft. „Jan Brosek“ ist eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, die in einer schwierigen und wenig menschenfreundlichen Zeit spielt.
Auch die anderen vier Sonderangebote der heutigen Post aus Pinnow stammen von Friedrich Wolf, der sich im Übrigen in Frankreich sehr gut auskannte und sogar gut Französisch sprach und schrieb. Die Hintergründe dafür waren aber nicht nur gute. Mehr dazu findet sich im Schlussteil dieses Newsletters.
In seiner Erzählung „Nierenleiden“, die im Entstehungsjahr des Textes 1942 spielt, geht es zwar auch um die Schrecken des Krieges an der Front, vor allem aber um die Schrecken des Krieges in Hinterland, in den Fabriken. Friedrich Wolf erzählt von einer Arbeiterin, deren Gesundheit durch die unmenschlichen Bedingungen der Kriegswirtschaft zunehmend zerstört wird. Die medizinische Diagnose ist brutal, doch sie verweigert sich der Resignation und kämpft für das eigene Überleben und vor allem für das Überleben ihrer Familie.
Aus demselben Jahr stammt auch die Erzählung „Die Überstunden – geheime Rebellion am 1. Mai“. Die Handlung setzt wenige Tage nach Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 ein, als der Nationalsozialist durch Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden war. Generaldirektor K. W. Borchart, der Leiter der Norddeutschen Papierfabriken AG, versucht, den Spagat zwischen der neuen politischen Ordnung und dem Druck seiner Belegschaft zu meistern. Als der 1. Mai 1933 zum „Fest der Arbeit“ erklärt wird, stehen schwierige Entscheidungen bevor – für die Arbeiter, für die SA und für die Betriebsführung. Einige SA-Mitgliedern fordern, dass man Generaldirektor Borchart wegen Sabotage des Führerbefehls anzeigen und vor ein Volksgericht stellen müsse. Genau dafür hielten sie eine trickreiche Idee des Generaldirektors.
Ebenfalls 1942 entstand die Erzählung „ANGINA oder Mandelentzündung“. In einer Zeit voller Mangel und Not kämpft Frau Pöschel um die Gesundheit ihres Sohnes Alfred. Der Junge leidet an einer schweren Mandelentzündung, doch die eigentliche Bedrohung liegt tiefer - in der allgegenwärtigen Unterernährung und den kräftezehrenden Bedingungen des Krieges. Eine Krankheit steht hier für den Leidenszustand eines Volkes im Krieg.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Heute geht es im weitesten Sinne um Glauben, Liebe, Hoffnung - und das mitten in einem mörderischen Krieg, im Zweiten Weltkrieg, an der Ostfront.
1942 schrieb Friedrich Wolf die Erzählung „Der Tannenbaum“, mit dem es hier eine besondere Bewandtnis hat: Meisterhaft fängt diese packende Erzählung den Schrecken des Krieges und die Sehnsucht nach Heimat und Menschlichkeit ein. Der Autor erzählt die berührende Geschichte von Peter, Hannes und Ernst, drei unzertrennlichen Freunden, an der Ostfront des Zweiten Weltkriegs. Inmitten der eisigen Weiten der Kosakensteppe bei Stalingrad kämpfen sie nicht nur gegen den Feind, sondern auch gegen die unbarmherzige Kälte und den drohenden Tod. Trotz aller Widrigkeiten klammern sie sich an das kleine bisschen Hoffnung, das durch einen mitgeführten Tannenbaum symbolisiert wird. Diese bewegende Erzählung erinnert uns daran, dass der menschliche Geist selbst in den dunkelsten Zeiten nach Licht und Hoffnung strebt.
In dieser atmosphärisch dichten Szene aus „Jan Brosek“ führt Friedrich Wolf die Leser durch die bezaubernde Landschaft Südfrankreichs, geprägt von Weinbergen, Olivenhainen und dem strahlenden Blau des Mittelmeers. Doch hinter der friedlichen Kulisse entfaltet sich ein lebendiges Gespräch, das die Spannungen der Zeit spiegelt: politische Auseinandersetzungen, nationale Identitäten und die drohende Gefahr eines erneuten Krieges.
Mit feiner Beobachtungsgabe und scharfem Dialog gelingt es Wolf, die Charaktere lebendig und nahbar zu gestalten. Die Kontraste zwischen persönlicher Leichtigkeit und historischen Abgründen verleihen der Szene eine besondere Dynamik. Eine Leseprobe, die gleichermaßen zum Träumen wie zum Nachdenken einlädt.
Der Wagen saust durch die besonnte Wein- und Olivenlandschaft, an kleinen burgartigen Gehöften vorbei nach St-Cyr; und wieder öffnet sich das Land zum Meer, durch den silbergrauen Duft leuchtet das Smaragdgrün und Azurblau des klaren, tiefen Wassers, und immer wieder die Hänge mit den sehnigen, uralten Armen der Olivenbäume, die niedrigen, knorrigen biblischen Weinstöcke, dazwischen die strotzenden Agaven mit dem haushohen, einsamen Blütenstängel … welch glückliches, friedliches Land, dieses Frankreich, ein Land, wo jeder unter seinem Weinstock leben kann. Die Weinberge sind geschnitten und gesäubert, die Fischer sind vom nächtlichen Fang heimgekehrt, der Mensch ruht, die Sonne mag die Hauptarbeit verrichten.
Schon kommt die Felsnase von La Ciotat in Sicht. Dort schäumt das Meer um die Klippen. Der Himmel hängt aufgespießt an den Felszacken wie ein blaues Tuch. Auf den Bergkämmen liegen die einsamen, seit Jahrhunderten verlassenen Sarazenendörfer. Und droben auf dem steinigen Plateau – erklärt Gaston – befinde sich das Camp de Carpiagne, das Militärlager, wo er bei den letzten Herbstmanövern als abkommandierter Offizier der Alpenjäger, der „Diables bleus“, zu einer Tankdivision überführt wurde.
„Sie wollen wohl die Motoren Ihres Vaters ausprobieren?“, fragt Onkel Robby.
„Sie sind ausprobiert, mein Lieber, verlassen Sie sich darauf!“, erwiderte Gaston. „Mit den Motoren kommen wir ohne Reparatur bis Berlin!“
„Ich will nichts von euren Soldatengesprächen hören“, protestiert die Queen. „Ein Krieg ist heute ein Unsinn, es wird keinen Krieg geben!“ Die Queen ist ungnädig, sie befiehlt zu halten, sie möchte aussteigen.
Obschon man zu Mittag in Marseille sein will, einigt man sich auf ein Déjeuner à la Suisse am Hafen in Cassis. Der Port de Cassis ist eine jener kleinen intimen Buchten, wie das Meer sie dutzendfach in die Felswände der Cote d’Azur hineingearbeitet hat: marseillewärts gegen den Mistralwind die Felswand, ostwärts nach Toulon eine künstliche Mole. An der Rundung der Bucht, an der Ecke der engen, gewundenen Straße des Städtchens liegt ein kleines Restaurant zwischen Palmen, Mimosen und weißblättrigem Ahorn. Dort gäbe es in einer Stunde sogar eine „Bouillabaisse“, jene Suppensymphonie aus Muscheln, Seesternen, Langusten, in der die Hummern durch geröstete Brotschnitten ersetzt sind, jene Himmelsspeise der Bouches-du-Rhone, von der die Marseiller zu Recht behaupten: Wenn man in Paris eine echte Bouillabaisse bereiten könnte, dann könnte Paris fast Marseille sein.
„Aber wenn eine Bouillabaisse eine halbe Stunde dauert, so bin ich für Weiterfahren!“, entscheidet die Queen.
„Und wenn die Bouillabaisse zwei Stunden dauerte, so müsste man bleiben!“, entgegnet Gaston plötzlich tollkühn, weil man sein Nationalgefühl verletzt hat. Er zeigt, dass er ein Mann und ein Franzose ist. Er ruft den Garcon und gibt die Bouillabaisse in Auftrag. Die Queen widmet sich jetzt geflissentlich Onkel Robby. „Wie steht es mit Ihrer Arbeit, Professor?“, fragt sie, während sie mit einem Mimosenzweig nach einer Fliege schlägt. Onkel Robby ist glücklich; er beginnt eine ausführliche Analyse über den anglikanischen Puritanismus, über Heinrichs VIII. gewaltigen Intrigenkampf mit dem Papsttum, er erklärt, wie er seit einem Jahr an dem letzten Kapitel arbeite, Spiegelung der ganzen Epoche in den grandiosen Porträtzeichnungen des jüngeren Holbein.
„Das ist doch jener Maler“, sucht Gaston sich wieder einzuschalten, „der solch eine bildschöne gelehrte Tochter besaß, die Latein sprach und ihn zum Schafott begleitete!“
„Mein Gott, mein Gott“, erwidert Onkel Robby, „Ihre Kenntnisse der Bouillabaisse und der Panzerwagen berechtigen Sie doch nicht, Hans Holbein mit Thomas Morus zu verwechseln!“
„Seien Sie friedlich, Onkel Robby, auch unsere Panzerwagen sind keine so schlechte Sache“, meint Gaston, „auch dieses Ungeheuer mit seinen tausend Schräubchen, Kugellagern und Gelenken ist ein Porträt unserer Zeit; und unsere französischen Tanks mit ihrer schnittigen Linie, mit ihrer Feuergeschwindigkeit … Sie hätten mal oben mit uns üben sollen, an den Berghängen von Carpiagne, wie die Ziegen klettern diese Stahlbestien, und wenn die Herren Fritzen jenseits des Rheins uns tatsächlich zu einem Tänzchen auffordern sollten, wir werden sehen, wie viel die rollenden Konservenbüchsen der Firma Krupp aushalten …“
„Man soll den Gegner nicht unterschätzen!“, sagt ein Mensch vom Nachbartisch mit einem fremden Akzent. „Verzeihen Sie, wenn ich mich einmische; aber ich finde es schmerzlich, wenn Völker immer die gleichen Fehler machen.“
„Sie denken an Frankreich?“, fragt Gaston pikiert.
„Wie Sie eben über die deutschen Tanks sprachen …“
„Sie sind Deutscher?“
„Meine Nationalität hat man mir einige Male vom Leib genommen“, erwidert der Fremde. „Sie sehen, ich bin hier in Frankreich, ich liebe Frankreich, und ich kenne die deutschen Tanks; verzeihen Sie, wenn ich Sie eben unterbrach.“
In dieser eindringlichen Szene aus „Nierenleiden“ gibt Friedrich Wolf einen Einblick in die ärztliche Praxis und den Umgang mit einer besorgten Patientin. Präzise medizinische Erläuterungen verbinden sich mit einer unverblümten Ehrlichkeit, die typisch für Wolfs humanistische Perspektive ist. Der Arzt steht hier nicht nur als Diagnostiker, sondern auch als Mahner im Zentrum, der die Bedeutung von Verantwortung für die eigene Gesundheit betont.
Die Leseprobe macht deutlich, wie Wolf durch direkte Ansprache und fachliche Authentizität das Bewusstsein für medizinische Herausforderungen seiner Zeit schärft und dabei zugleich eine kritische gesellschaftliche Botschaft vermittelt.
Also, Frau Weber, immer noch die Rückenschmerzen links? Und was ich in Ihrem Harn gefunden habe? Leider solche Bestandteile, die auf ein Nierenleiden schließen lassen: Eiweiß, einige Formbestandteile wie rote Blutkörperchen und auch Leukozyten, die anzeigen, dass das Nierengewebe schon in chronischer Weise gelitten hat. Na, Sie brauchen nicht gleich so zu erschrecken; aber ich habe als Arzt das Prinzip, meinen Patienten, zumal bei ernsten Leiden, stets die Wahrheit zu sagen. Denn die meisten Menschen nehmen grade dieses Leiden, wo man außen nicht viel sieht, entschieden zu leicht.
Was denn daraus werden kann? Ja, Frau Weber, wenn Sie so weiterwirtschaften mit Ihrer Gesundheit, so kann sich aus dieser chronischen Nierenentzündung bei Ihrer Arbeit sehr bald ein vollkommener Verfall des inneren Nierengewebes entwickeln und schließlich eine sogenannte Schrumpfniere, bei der dann überhaupt nur noch geringe funktionsfähige Reste der Niere vorhanden sind.
Mit präzisem Gespür für die sozialen Spannungen und politischen Widersprüche des Jahres 1933 schildert Friedrich Wolf in dieser Szene die Reaktion auf die nationalsozialistische Umdeutung des 1. Mai zum „Festtag der Arbeit“. Während die NSDAP versucht, den Tag propagandistisch zu vereinnahmen, entwickelt sich in den Norddeutschen Papierfabriken ein Konflikt, der die Spaltung und die unterschiedlichen Haltungen der Belegschaft sichtbar macht.
Die Leseprobe aus „Die Überstunden – geheime Rebellion am 1. Mai“ zeigt eindrücklich, wie Arbeitsbedingungen, Machtverhältnisse und ideologische Kämpfe aufeinanderprallen. Mit feiner Ironie beleuchtet Wolf die Instrumentalisierung von „Zuckerbrot und Peitsche“ und den subtilen Widerstand der Arbeiter, der sich hinter den Kulissen formiert – ein eindrucksvolles Zeugnis der inneren Widersprüche im totalitären System.
- W. Borchart, der Generaldirektor der Norddeutschen Papierfabriken AG, musste eine süße Miene machen zu dem Spiel. Gewiss, er verstand, dass Hitler in den ersten Wochen nach der Machtergreifung den deutschen Arbeitern neben den Hieben auf den Schädel zugleich etwas Zucker gab. Peitsche und Zuckerbrot, das ist eine bewährte Methode. Aber diese letzte Verfügung des Führers ging dem Generaldirektor Borchart doch etwas über die Hutschnur.
Die Norddeutsche Papierfabriken AG hatte natürlich wie jede Papierfabrik eine Anzahl dringender Aufträge, darunter einige terminliche Auslandsorders nach der Schweiz und nach Dänemark. Auch forderte die deutsche Tagespresse ihre tägliche Belieferung. Es lag also – wenn man wollte – ein lebenswichtiges Interesse der deutschen Wirtschaft vor. Generaldirektor Borchart wollte. Er ließ als Führer des Betriebs einen Anschlag ankleben, dass ein Drittel der Belegschaft in der Kocherei, an den Presswalzen und den Trockenmaschinen im Interesse der deutschen Gesamtwirtschaft auch am 1. Mai weiterzuarbeiten habe. Die Arbeit werde als Überstunden gewertet.
Auf diesen letzten Satz war Generaldirektor Borchart direkt stolz. Dieser Satz war gradezu eine Edelmannsgeste.
Die Mehrzahl der Arbeiter verstand aber offenbar die großartige Geste sehr wenig. Die Arbeiter wollten am 1. Mai nicht in den Betrieb. Ob man dann zu der offiziellen Maifeier ging oder zu Haus blieb, das war eine zweite Frage. Die Hauptsache: Der 1. Mai war der 1. Mai!
Es entstanden lebhafte Diskussionen. Eine Gruppe der Arbeiter meinte, man müsse grade mit Hilfe der neuen Verfügung Hitlers dem Direktor seinen „Herr-im-Haus“-Standpunkt gründlich austreiben! Jetzt sei dazu eine großartige Gelegenheit! Einige Mitglieder der SA gingen sogar so weit zu fordern, dass man Borchart anzeigen und vor ein Volksgericht stellen müsse wegen Sabotage des Führerbefehls. Eine dritte Gruppe aber war der Ansicht, man solle ruhig arbeiten und sich die „Überstunden“ bezahlen lassen. Diese dritte Gruppe wurde von den andern der Prinzipienlosigkeit, der Feigheit, der „Arschkriecherei vor dem Prinzipal“ beschuldigt. Der SA-Mann Wernicke meinte mit einem Blick auf Hein, den Vorarbeiter an der Presswalze, vielleicht wollten sich einige auch vor dem Fest der Arbeit und dem Aufmarsch auf diese Weise drücken?
In dieser Szene aus „ANGINA oder Mandelentzündung“ verknüpft Friedrich Wolf medizinisches Wissen mit einem sozialkritischen Blick auf die Lebensumstände seiner Zeit. Der Arzt erklärt der besorgten Mutter nicht nur die körperlichen Ursachen und Folgen der Mandelentzündung ihres Sohnes, sondern beleuchtet auch die größeren Zusammenhänge von Unterernährung und gesundheitlicher Schwäche, die besonders Kinder in schwierigen sozialen Verhältnissen treffen.
Wolf gelingt es, die individuelle Erkrankung mit gesellschaftlichen Missständen zu verbinden, wodurch die Leseprobe weit über eine medizinische Betrachtung hinausgeht. Sie lädt dazu ein, über die Verantwortung für die Gesundheit der nächsten Generation und die Notwendigkeit sozialer Veränderungen nachzudenken.
Was Ihrem Alfred fehlt, Frau Pöschel? Das ist eine richtige eitrige Mandelentzündung. Ob daher auch das hohe Fieber und die Schluckbeschwerden kommen? Aber natürlich, Frau Pöschel, das hängt alles miteinander zusammen. Diese Mandeln sitzen nämlich hinten am Gaumenbogen, am Rachen. Sie sind so quasi die ersten Wachtposten gegen alle möglichen Infektionskeime, die überall in der Luft herumfliegen, die wir einatmen und im Allgemeinen bei gutem Gesundheitszustand sofort da im Sieb der Mandeln vernichten. Aber heute, Frau Pöschel, ist es leider mit unserm allgemeinen Gesundheitszustand nicht mehr weit her. Zumal mit den Kindern wie Ihrem Alfred in den wichtigen Wachstumsjahren so zwischen acht bis vierzehn Jahren. Was glauben Sie, wie viele grade solcher Kinder mit allen möglichen Krankheiten heute in meine Sprechstunde kommen! Ja, ja, Frau Pöschel, da gibt es Krankheiten – wie Hautleiden, schwerste Blutkrankheiten der Kinder –, die wir früher kaum aus Lehrbüchern kannten.
Auch bei Ihrem Alfred hängt diese dauernde Kränklichkeit in diesem Jahr mit der allgemeinen Fettarmut und Unterernährung des Organismus zusammen. Da hat der Körper in diesen Wachstumsjahren, wo die Kinder ordentlich Butterstullen und Milch und auch mal ein paar Eier am Tag brauchten, einfach nicht genügend Aufbaunahrung und auch nicht genug Widerstandskraft gegen die Krankheiten, die vor allem im Herbst und im Winter drohen.
Was Sie machen können?
In dieser packenden Szene aus „Der Tannenbaum“ fängt Friedrich Wolf die Härten und die bittere Kälte des Soldatenalltags während eines eisigen Winters ein. Mit eindringlicher Schlichtheit schildert er die Versuche zweier Soldaten, einen Moment der Wärme und des Trostes inmitten der Trostlosigkeit zu finden.
Die Leseprobe vermittelt nicht nur die körperlichen Strapazen, sondern auch die Resilienz und den Galgenhumor, die in extremen Situationen zum Überleben beitragen. Sie wirft ein Licht auf die Menschlichkeit und den Einfallsreichtum, die selbst in den dunkelsten Momenten aufblitzen können.
Und weiter geht’s zurück über die endlose, eisige Kosakensteppe. Ein Glück, dass es endlich wieder Nacht wird. Man kauert sich hinter das Geschütz, buddelt sich in dem tiefen Schnee eine Mulde, hockt todmüde darin nieder und presst das gefrorene Brot unter dem Rock an die Brust, um es aufzutauen und weich zu kneten.
„Scheiß auf alles! Heut machen wir mal Fettlebe!“, sagt der Hannes jetzt; „ich habe hier ’ne Büchse Gulasch und Erbsen, Peter! Das muss mir ran! Wer weiß, ob’s meiner Mutter Sohn morgen noch schmeckt?“
Der Hannes hat seinen Dolch schon in das Konservenblech gestoßen und öffnet mit seinen klammen Fingern die Gulaschbüchse. Das alles ist hart wie Stein, total gefroren, geradezu trostlos.
„Mindestens dreißig Grad unter Null!“, konstatiert der Hannes.
„Und nirgends ein Stückchen Holz!“, ergänzt der Peter und kriecht tiefer in die Schneemulde.
„Bleib mal zehn Minuten ganz ruhig, alter Räuber!“ sagt Hannes. „Ich werd was zaubern!“
Wenn wir die Erzählung „Jan Brosek“ lesen, dann bietet es sich an, ein wenig mehr über die Zeit von Friedrich Wolf in Frankreich zu lesen – ein prägender Teil seiner Biografie und eine widersprüchliche Erfahrung. Friedrich Wolf, vor nunmehr 136 Jahren geboren am 23. Dezember 1888 in Neuwied, war 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten mit seiner Familie über Österreich, die Schweiz und Frankreich in die Sowjetunion emigriert, wo er unter anderem für Radio Moskau arbeitete.
Am 22. April 1937 wurde die Ausbürgerung der gesamten Familie Wolf aus Deutschland in der Ausbürgerungsliste Nr. 13 vermerkt. Zusätzlich lag ein Fahndungsbefehl der Gestapo vom 11. Mai 1937 zur Sippenhaft und sofortigen Festnahme der Familie vor. Davor waren Wolf und seine Familie jetzt erstmal sicher.
Aber es drohte eine andere Gefahr. In der Sowjetunion hatten zu dieser Zeit die „Großen Säuberungen“ begonnen, die auch die deutschen Kommunisten bedrohten. Unter dem Eindruck dieses Stalinschen Terrors („Ich warte nicht, bis man mich hier verhaftet.“) und aufgrund seines Freigeistes machte sich Friedrich Wolf 1937 auf den Weg nach Spanien, um dort im Bürgerkrieg gegen Franco als Arzt bei den Internationalen Brigaden zu arbeiten. Aber wegen der unsicheren Lage ging er doch nicht nach Spaniern, sondern blieb 1938 in Frankreich.
Bei Kriegsbeginn 1939 wurde Wolf in Paris verhaftet und ins Internierungslager Le Vernet gebracht. In diesem Lager schrieb er das Drama „Beaumarchais“; in Erzählungen wie „Jules“ und „Kiki“ verarbeitete er seine Lagererlebnisse. Mit sowjetischer Hilfe und einem falschen Pass gelang ihm 1941 die Ausreise. Wolf erhielt die sowjetische Staatsbürgerschaft und kehrte nach Moskau zurück, wo immer noch der Stalinsche Terror wütete. Aber wie so oft in seinem Leben hatte Friedrich Wolf wieder einmal Glück, viel Glück.
Glück hatte er auch in Frankreich – und eine neue Liebe. Denn während seines Exils in Frankreich verliebte er sich in die junge Berlinerin Ruth Herrmann (1906 bis 1983), gleichfalls Jüdin und Kommunistin. Die Wege von Herrmann und Wolf hatten sich im Dezember 1938 gekreuzt. Sie lernen sich auf der Feier des Schutzverbands deutscher Schriftsteller (SDS) zu Wolfs 50. Geburtstag in Paris kennen und verlieben sich ineinander. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte, eine ganz andere. Aus dieser Beziehung stammte die am 13, Mai 1940 im Krankenhaus von Ollioules, dem Nachbarort von Sanary, geborene gemeinsame Tochter Catherine, die 1989 in Berlin (DDR) 1988 Suizid verüben solle. Und das ist nochmal eine ganze andere Geschichte.
Schließlich noch drei Worte zu den Französisch-Kenntnissen von Wolf beziehungsweise zu seinen Fremdsprachenkenntnissen überhaupt. So genau wurde das bisher offenbar noch nicht untersucht. „Sicher konnte er ab einem gewissen Zeitpunkt gut Russisch und schrieb auch Briefe in dieser Sprache“, antwortete Maren Horn vom Literaturarchiv der Akademie der Künste in Berlin auf eine entsprechende Anfrage. „Da Wolf ein sehr interessierter Zeitgenosse war, ist davon auszugehen, dass er zumindest versucht hat, in den Ländern, wo er war, sich auch Sprachkenntnisse anzueignen. Leider kann ich keine konkreten Angaben dazu machen. Aber Wolf hatte ja auch eine klassische Schulbildung am Gymnasium und allein durch seine Beherrschung des Lateinischen als Arzt dürfte er manchen Zugang auch zu anderen Sprachen gehabt haben.“
Zum Thema Russisch-Kenntnisse merkte Tatjana Trögel von der Friedrich-Wolf-Gesellschaft in Lehnitz, seinem letzten Wohn- und Arbeitsort, an, es sei nur überliefert, „dass Wolf sich hemmungslos in der jeweiligen Sprache versuchte. So hielt er eine russische Ansprache auf dem Schriftstellerkongress in den Dreißiger Jahren und wurde dann freundlich darauf hingewiesen, dass er auch Deutsch sprechen könne. Darüber wurde auch in der Familie freundlich gelästert. Es gibt aber später lange russische Briefe an seine Freundin und Freunde in Moskau usw. Er hat also schnell dazugelernt. Da er viel an Theatern unterwegs war und auch Texte seines Freundes, des Schriftstellers Wsewolod Wischnevsky, ins Deutsche übertragen hat, musste er sich schon gut in der russischen Sprache zu Hause fühlen.“ Und Tatjana Trögel resümierte: „Daher vermute ich, dass er sich in den anderen Sprachen seiner längeren Aufenthalte auch sehr zwanglos bewegte.“
Wie man sieht, spiegeln sich logischerweise auch im Leben und Schreiben von Friedrich Wolf die großen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts. Und manchmal ist es gut, daran zu erinnern, welche Angst auch die deutschen Exilierten im damaligen Frankreich hatten, aber auch welchen Mut und welche Widerstandskraft sie allen Gefahren zum Trotz aufgebracht haben. Zugleich soll an dieser Stelle an die Menschlichkeit und Solidarität von Französinnen und Franzosen erinnert werden, die den bedrohten Antifaschisten aus Deutschland, Teil der „étrangers indésirables“, mehr als einmal das Leben retteten. Das galt auch für seine Geliebte Ruth Herrmann, die von der Gestapo gesucht wurde, als sie ihr Kind zu Welt brachte. Als die Gestapo-Leute im Krankenhaus nach der jungen Frau fragten, sagten die französischen Krankenschwestern, eine Ruth Herrmann gebe es hier nicht. Courage!
Bleiben Sie ansonsten weiter vor allem schön gesund und munter und Weihnachts-Vorfreudig und der Welt der Bücher gewogen. Das Paket mit den nächsten Sonderangeboten für den dritten Newsletter für Dezember, der uns schon dicht an Heiligabend heranführt, ist schon geschnürt. Sie stammen wieder alle von Friedrich Wolf.
1951 hatte er die kurze Erzählung „Dialektik – die Logik der Widersprüche“ geschrieben. Darin lädt der Autor die Leser zu einer tiefgründigen und doch alltäglichen Diskussion über die Natur und ihre scheinbaren Widersprüche ein. Beim Beobachten eines farbenprächtigen Schmetterlings, des Admirals, entfacht sich eine Debatte darüber, ob das grelle Muster des Insekts ein Fehler der Evolution ist - oder ob es doch einen tieferen Sinn verfolgt. Mit feinem Humor und philosophischem Tiefgang untersucht die Geschichte den ewigen Zwiespalt zwischen Schein und Sein. Ist die Natur tatsächlich so „logisch“ wie wir denken, oder sind es gerade die Gegensätze, die das Leben ausmachen? Was denken Sie? Sind Sie ein Dialektiker oder eine Dialektikerin?