Ein Wort des Widerrufs hätte genügt
Professor Dr. Johann Gerhardt, Dozent für Praktische Theologie an der adventistischen Theologischen Hochschule Friedensau bei Magdeburg, griff in seiner Predigt die Aussage Luthers „Hier stehe ich“ beim Reichstag in Worms (1521) auf, wo sich der Reformator wegen seines Glaubens verteidigen musste. Eigentlich hätte damals alles ruhig seinen Gang gehen können, so Gerhardt. „Die Kirche war die Heilsanstalt für die Seele. Die Fürsten und der Kaiser hatten Geld und Macht. Wissenschaft und Kunst florierten. War man gehorsam und muckte nicht auf, konnte man in relativem Frieden leben.“ Und dennoch habe es eine Sehnsucht nach Freiheit gegeben, „weil es sie nicht gab“.
Beim Reichstag in Worms mit dem Kaiser, den Fürsten und der hohen Geistlichkeit hätte dem „Mönchlein“ ein Wort des Widerrufs genügt, um seinen schweren Gang leicht zu machen. Er hätte ja im Stillen an seinen Überzeugungen festhalten können, nur sie nicht mehr öffentlich sagen. Doch Luther entgegnete, wenn er nicht durch Zeugnisse der Heiligen Schrift und durch klare Vernunftgründe überzeugt werde, „denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich“, könne und wolle er nichts widerrufen, „weil wider das Gewissen etwas tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir. Amen.“
Doch trotz ungläubigen Staunens, dass jemand wagt so zu reden, sei dies nicht das Ende für Martin Luther gewesen, sondern „ein wundersamer Anfang“, so Gerhardt. „Das Evangelium leuchtete wieder“. Man müsse keine frommen Spielchen spielen, nicht perfekt werden wollen, nicht weglaufen, sich nicht verstecken, keine Ablassbriefe kaufen. Der Mensch dürfe aufrecht und frei vor Gott stehen. Vor dem Gott, der ihn bis in die Tiefen seiner Seele kenne und ihn annehme in seinem Versagen. „Diesem Gott sich anvertrauen, das ist der Glaube, der selig macht, bis heute und auch morgen“, unterstrich Gerhardt.
Die Freiheit des Evangeliums führt in die Verantwortung
Die Freiheit des Evangeliums mache laut dem Professor nicht egoistisch oder weltflüchtig nach der Devise: „Hauptsache ich“. Sie führe auch nicht in fromme Isolation, sondern sei die Voraussetzung für Verantwortung. Verantwortlich sein gehöre zur Ebenbildlichkeit und Würde des Menschen gegenüber Gott. Überall dort, wo man Menschen die Verantwortlichkeit wegnehme, gut gemeint als Rat und Hilfe oder schlecht gemeint, wo man Menschen zum bloßen Befehlsempfänger degradiere, wo man Zwang ausübe und Gehorsam fordere ohne kritisches Nachdenken zuzulassen, zerstöre man die Würde des Menschen und handele gegen Gottes Schöpfung.
Luther habe Verantwortung gezeigt. Er habe den Fürsten ins Gewissen geredet, dem Volk das Lesen der Bibel ermöglicht, Glaubenslehren verstehbar in den Katechismus geschrieben, das Evangelium auf Deutsch gepredigt und Lieder gedichtet, damit die Seele auch fühlen könne, was der Glaube bedeute.
Nein zur Plastiktüte
Wenn wir jetzt Reformation feiern, dann bedeute das auch für uns, Verantwortung zu tragen für die Welt in der wir leben und uns einzumischen, gab Gerhardt zu bedenken. Seit langem hätten Christen so gehandelt: Sie hätten Krankenhäuser, Schulen sowie soziale Einrichtungen gebaut und setzten sich für Menschenrechte ein. Doch es gebe auch die Verantwortung im Kleinen, wie in Ehe und Familie, der Nachbarschaft und für das Gemeinwohl. Da stelle sich beispielsweise die Frage: Gehe ich zur Wahl oder überlasse ich es den Radikalen welchen Einfluss sie auf unser Land nehmen? Oder sage ich „Nein“ zur Plastiktüte im Geschäft, weil dadurch die Schöpfung Gottes geschädigt wird?
„Was braucht der Mensch heute?“, fragte Gerhardt zusammenfassend. Schreckensmeldungen, Drohungen und Kälte gebe es genug. Die Menschen bräuchten stattdessen weniger Programme, weniger unseren schlauen Kopf, sondern unser Herz und die menschliche Wärme derer, die dem Licht des Evangeliums folgen. „So stehen wir heute hier, in der Nachfolge Luthers, in der Freiheit des Evangeliums und in der Würde der Verantwortlichkeit. Wir können nicht anders. Gott helfe uns. Amen.“
Luther für Kinder
Schon zuvor hatte Pastor Manuel Füllgrabe den Kindern im Gottesdienst anhand eines kreativen Klapp-Buches mit Figuren erklärt, warum damals der Ablassprediger Johann Tetzel mit seiner großen Geldkiste durch Deutschland zog und wieso sich deswegen der kleine Mönch Martin mit den Großen seiner Kirche stritt.
Den „alten Glauben“ öffentlich bezeugen
Nach der Predigt äußerten auch die Präsidenten des Nord- und Süddeutschen Verbandes der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten, die Pastoren Johannes Naether (Hannover) und Werner Dullinger (Ostfildern bei Stuttgart), einige Gedanken zur Reformation. Das Reformationsjubiläum sollte nach Dullinger wieder Mut machen, „den alten Glauben“ auch öffentlich wieder zu bezeugen. Selbst mit Freunden werde heute über alles Mögliche gesprochen, jedoch kaum über Glaubensdinge. Dabei gehe es jedoch nicht darum, dem Anderen zu sagen, wo er zu stehen hat, sondern zunächst einmal herauszufinden, wo ich selbst stehe und was die Werte sind, an denen ich mich orientiere. Danach gelte es interessiert zuzuhören, was den Anderen bewegt, um sich darüber auszutauschen.
Die Reformation brauchte die verschiedensten Typen
Für Naether sei es faszinierend, dass Martin Luther zwar als Mönch geprägt gewesen sei, sich jedoch entwickelt habe. Der Reformator wäre seiner Erkenntnis gefolgt ohne abschätzen zu können, was daraus wird. Die Reformation habe die „verschiedensten Typen“ benötigt. So auch Philipp Melanchthon als Philologe, Philosoph, Humanist, Theologe und Lehrbuchautor, oder den Zürcher Reformator Ulrich Zwingli sowie den Genfer Reformator Johannes Calvin. Die Reformation könne nicht nur auf Luther fixiert werden. So sei beispielsweise das Abendmahlsverständnis der Adventisten nicht von Luther geprägt, sondern von der Reformierten Kirche, die aus der Reformation Calvins und Zwinglis hervorging. Zudem müsse auch der oft vergessene „dritte Flügel“ der Reformation, das Täufertum, berücksichtig werden. Als „Erben der Reformation“ hätten die Adventisten auch Anteil an der Täuferbewegung, die sich für die Taufe von Glaubenden, den Verzicht auf Wehrdienst und das Eintreten für die Religionsfreiheit einsetzte.
Reformation bedeutet ständige Erneuerung
Dass Martin Luther auch ein „Kind seiner Zeit“ war, sprach Werner Dullinger an. Denn Aussagen des Reformators über die Juden oder den Umgang mit den aufständischen Bauern gehörten heute zu den kritischen Aspekten seines Wirkens. Deshalb gelte es trotz aller Wertschätzung Luthers bei seiner Erkenntnis nicht stehen zu bleiben. Reformation bedeutet auch die ständige Erneuerung der Kirche. Auch die Siebenten-Tags-Adventisten seien mit ihrer Erkenntnis noch nicht am Ende. Dullinger verwies auf die Präambel in den „Glaubensüberzeugungen“ der weltweiten Adventisten, wo es heißt: „Diese Glaubensaussagen stellen dar, wie die Gemeinde die biblische Lehre versteht und bezeugt. Eine Neufassung ist anlässlich einer
Vollversammlung der Generalkonferenz (Weltsynode) dann zu erwarten, wenn die
Gemeinde durch den Heiligen Geist zu einem tieferen Verständnis der biblischen
Wahrheit gelangt oder bessere Formulierungen findet, um die Lehren des heiligen
Gotteswortes auszudrücken.“
Adventisten und das Reformationsjubiläum
Der Gottesdienst in Wittenberg ist der Auftakt für die Adventisten zum Reformationsjubiläum gewesen. Bereits im Mai 2016 hatte an der Theologischen Hochschule Friedensau das internationale Symposium mit adventistischen Historikern und Theologen zum Thema „Auffassungen der protestantischen Reformation bei den Siebenten-Tags-Adventisten“ stattgefunden. Der Advent-Verlag Lüneburg wird zum Thema „Luthers Reformation aus Sicht der Siebenten-Tags-Adventisten“ ein Buch herausgeben. Weitere Veröffentlichungen sind geplant. Auch „Hope Channel“ Fernsehen und Radio nehmen den Reformationsgedanken in unterschiedliche Sendeformate auf. Außerdem sind im Juli 2017 Mitarbeiter der adventistischen Weltkirchenleitung in Deutschland zu Gast und werde einige historische Orte der Reformation aufsuchen. Diese Studienreise soll ebenfalls vom „Hope Channel“ begleitet werden.