Was sagen Wissenschaftler? Dr. Reinhard Bispinck und Dr. Thorsten Schulten, Experten des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung, beantworten die 12 wichtigsten Fragen rund um Niedrig- und Mindestlöhne. Links erschließen detailliertere Informationen zum Thema.
1. Wie groß ist das Niedriglohn-Problem wirklich? Bieten Niedriglöhne nicht auch Chancen?
Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich gewachsen. Je nach Definition gibt es heute zwischen 8 und 9 Millionen Niedriglohnempfänger, darunter zwischen 3 und 4 Millionen Vollzeitbeschäftigte. Mehr als eine Millionen Beschäftigte verfügen über ein so geringes Erwerbseinkommen, dass sie zusätzlich Arbeitslosengeld II erhalten. In zahlreichen Branchen werden Stundenlöhne von 5, 4 oder sogar nur 3 Euro gezahlt.
Deutschland hat damit in absoluten Zahlen den größten Niedriglohnsektor in Europa. Der Anteil an allen Beschäftigten liegt mit gut 17 Prozent über dem europäischen Durchschnitt. Die Lohnspreizung ist in Deutschland ebenfalls längst überdurchschnittlich und bewegt sich auf dem Niveau von Großbritannien. Erwartungen, dass hierdurch mehr Beschäftigung entsteht, haben sich nicht erfüllt. Die Arbeitslosenquote bei Geringqualifizierten ist deutlich höher als in anderen europäischen Ländern, die überwiegend Mindestlöhne haben. Eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt auch, dass Niedriglohnjobs häufig instabil und nur von kurzer Dauer sind - das schmälert die Chancen eines Aufstiegs.
2. Ist ein Kombilohn nicht besser zur Bekämpfung von Niedriglöhnen geeignet als ein Mindestlohn?
Nein, denn Kombilöhne wirken generell in eine andere Richtung: Sie machen den Niedriglohnsektor durch staatliche Subventionen attraktiver. Für viele Unternehmen eröffnet der Kombilohn die Möglichkeit, die Löhne weiter zu senken und reguläre Beschäftigungsverhältnisse in subventionierte umzuwandeln. Auch die Kosten für derartige "Mitnahmeeffekte" trägt die Allgemeinheit. Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung kommen zu dem Ergebnis, dass Kombilöhne kaum zusätzliche Beschäftigung für gering Qualifizierte schaffen. Stattdessen würde eine flächendeckende und unbefristete Einführung die öffentlichen Haushalte stark belasten.
Der Mindestlohn zielt demgegenüber eindeutig auf eine Begrenzung des Niedriglohnsektors. Er nimmt die Unternehmen in die Verantwortung, existenzsichernde Löhne zu zahlen.
3. Beeinträchtigen Mindestlöhne die Beschäftigung?
Das Verhältnis von Mindestlöhnen und Beschäftigung wird innerhalb der Wirtschaftswissenschaft kontrovers diskutiert. Neuere internationale Studien kommen zu dem Ergebnis, dass von Mindestlöhnen keine oder sogar leicht positive Beschäftigungseffekte ausgehen.
So ist etwa in Großbritannien die Arbeitslosigkeit seit der Einführung des Mindestlohns im Jahre 1999 deutlich zurückgegangen. Nach einer aktuellen Untersuchung der London School of Economics haben die britischen Unternehmen in dreifacher Weise auf die Einführung des Mindestlohns reagiert: Zum einen kam es in vielen Branchen zu einer spürbaren Erhöhung der Produktivität, womit bereits ein Teil der zusätzlichen Kosten kompensiert werden konnte. Darüber hinaus kam es in einigen Sektoren zu moderaten Preisanstiegen. Schließlich gingen in einigen Bereichen auch die Gewinne zurück, ohne dass dies jedoch zu Beschäftigungsverlusten geführt hat. Durch die Förderung der privaten Konsumnachfrage hat der Mindestlohn im Gegenteil die Beschäftigungsentwicklung positiv beeinflusst.
Gesetzliche Mindestlöhne gibt es in 20 der 27 EU-Länder. Die meisten westeuropäischen Länder setzen derzeit eine Lohnuntergrenze um die acht Euro. In Luxemburg sind es sogar gut neun Euro. In den vergangenen 12 Monaten haben viele dieser Länder ihre Mindestlöhne spürbar erhöht.
4. Sind branchenbezogene Lösungen besser als Lösungen für die gesamte Wirtschaft?
Einheitlicher Mindestlohn und Branchenlösungen schließen sich nicht aus, sie bilden im Gegenteil eine sinnvolle Ergänzung. Ein einheitlicher, branchenübergreifender gesetzlicher Mindestlohn schreibt eine Einkommensuntergrenze vor, unterhalb derer niemand zum Arbeiten gezwungen sein soll. Dies stellt eine gesellschaftliche Vorgabe dar, die für jede Tätigkeit in jeder Branche gelten soll. Darüber hinaus sind die Tarifvertragsparteien frei, in den einzelnen Branchen und Tarifbereichen höhere Mindestvergütungen zu vereinbaren.
5. Was nützen allgemeinverbindliche Tarifverträge?
Allgemeinverbindliche Tarifverträge verpflichten auch nicht tarifgebundene Unternehmen der betroffenen Branche die Tariflöhne zu zahlen. Damit werden Schmutzkonkurrenz durch Lohndumping eingeschränkt und für alle Unternehmen einer Branche faire Wettbewerbsbedingungen geschaffen. Dort, wo die Tarifverträge jedoch Niedriglöhne beinhalten, bringt eine Allgemeinverbindlichkeit keine wirkliche Lösung des Problems. In Branchen ohne Tarifverträge kann sie gar nicht greifen. Ein Blick in die Tarifstatistik zeigt schließlich, dass das Instrument der Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) in den vergangenen Jahren seltener genutzt wurde. Grund: Oft stimmt der zuständige Arbeitgeberverband einer AVE nicht zu.
6. Welche Probleme löst ein erweitertes Arbeitnehmerentsendegesetz?
Bislang gilt das Arbeitnehmerentsendegesetz nur für wenige Branchen des Baugewerbes. Dazu zählen das Bauhauptgewerbe, das Maler- und Lackiererhandwerk, das Dachdeckerhandwerk, das Abbruch- und Abwrackgewerbe sowie das Gebäudereinigerhandwerk. Eine Ausweitung des Geltungsbereiches wäre ein Schritt nach vorne. Aber das Entsendegesetz greift nur, wenn die Tarifparteien tarifliche Mindestlöhne für die gesamte jeweils betroffene Branche vereinbaren. Schert nur ein regionaler Arbeitgeberverband aus, kann das Gesetz nicht angewendet werden. Weigern sich die Arbeitgeber überhaupt, einen Mindestlohntarifvertrag abzuschließen, wie zum Beispiel im Hotel- und Gaststättengewerbe oder in der Fleischindustrie, läuft das Gesetz ebenfalls ins Leere.
7. Kann man das Mindestarbeitsbedingungsgesetz von 1952 heute nutzen?
Praktisch nicht. Ein Rechtsgutachten, das im Rahmen eines Forschungsprojekts der Hans-Böckler-Stiftung entstand, zeigt: Zahlreiche weitreichende Änderungen wären nötig, um das Gesetz auf die Gegenwart anwenden zu können. Es wäre daher wohl einfacher, den Niedriglohnsektor mit einem neuen Gesetz zu regeln.
8. Sollen tarifliche Lösungen inhaltlich und zeitlich Vorrang haben vor gesetzlichen Regelungen?
Die Erfahrung zeigt, dass tarifliche Verhandlungen sehr zeitraubend sein können. In einigen Branchen haben die Arbeitgeberverbände ohnehin bereits erklärt, dass sie keinen tariflichen Festlegungen von Mindestlöhnen zustimmen werden. Da macht es wenig Sinn, eine gesetzliche Lösung um weitere Monate oder gar Jahre hinauszuschieben.
Erfahrungen aus dem europäischen Ausland zeigen, dass man sehr wohl tarifliche und gesetzliche Regelungen sinnvoll miteinander kombinieren kann. In den Niederlanden gibt es beispielsweise zahlreiche Allgemeinverbindlicherklärungen für Tarifverträge und parallel dazu einen gesetzlichen Mindestlohn als branchenübergreifende Untergrenze.
9. Was bringt eine gesetzliche Festlegung einer Grenze für sittenwidrige Löhne?
Es ist längst Entscheidungspraxis der Gerichte, Löhne für sittenwidrig zu erklären, die 20 beziehungsweise 30 Prozent unterhalb der tariflichen bzw. ortsüblichen Löhne liegen. Solche Grenzen gesetzlich zu fixieren, wäre jedoch absolut unzureichend. In einer Reihe von Tarifbereichen würde eine solche Bestimmung Löhne und Gehälter auf niedrigstem Niveau zwischen zwei und fünf Euro/Stunde zulassen.
10. Gefährdet ein gesetzlicher Mindestlohn die Tarifautonomie?
Nein. In etlichen Branchen funktioniert die Tarifautonomie derzeit nicht - sei es, weil es keine Arbeitgeberverbände gibt oder sei es, weil die Gewerkschaften zu schwach sind, um angemessene Tarifvergütungen durchzusetzen. Ein gesetzlicher Mindestlohn würde also die Tarifautonomie stabilisieren und in vielen Tarifbereichen eine aktive Tarifpolitik überhaupt erst wieder ermöglichen. In den meisten europäischen Ländern sind zudem Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände an der Ausgestaltung der Mindestlohnpolitik aktiv beteiligt, ein Beispiel dafür ist Großbritannien.
11. Was kann Deutschland von den positiven Erfahrungen mit dem Mindestlohn in Großbritannien lernen?
Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 1999 wird heute in Großbritannien von allen Seiten als ein äußerst positiver Beitrag zur Regulierung des Arbeitsmarktes gewürdigt. Nicht unerheblich dazu beigetragen hat die so genannte "Niedriglohnkommission", die die Regierung im Hinblick auf die regelmäßige Anpassung des Mindestlohns berät. In der Low-Pay-Commission (LPC) sitzen je drei Vertreter von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Wissenschaft. Ein ähnlich zusammengesetztes Gremium könnte auch in Deutschland die Mindestlohnpolitik gestalten. Darüber hinaus kam Großbritannien die Tatsache zugute, dass der Mindestlohn in einer ökonomischen Aufschwungphase eingeführt wurde. Demnach wäre der Zeitpunkt für eine Einführung eines Mindestlohns in Deutschland gerade jetzt besonders günstig.
12. Woran kann sich die Höhe eines gesetzlichen Mindestlohnes orientieren?
Es gibt im Wesentlichen zwei Orientierungsmarken für einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland. Zum einen muss sich der Mindestlohn in das allgemeine Sozial- und Lohngefüge einpassen. Als Orientierung könnte die so genannte Pfändungsfreigrenze dienen, d.h. derjenige Betrag des Lohns, der einem verschuldeten Arbeitnehmer nicht gepfändet werden darf. Umgerechnet würde dies etwa einem Mindestlohn von 8,10 Euro pro Stunde entsprechen. Geht man von der landläufigen Definition von Armutslöhnen aus, die bei 50 Prozent des nationalen Durchschnittslohns angesetzt wird, so müsste der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland sogar deutlich über acht Euro liegen.
Als zweite Orientierungsmarke könnten die gesetzlichen Mindestlöhne in den mit Deutschland vergleichbaren westeuropäischen Nachbarstaaten wie Frankreich, Großbritannien, Irland oder den Benelux-Staaten dienen - derzeit zwischen knapp acht und gut neun Euro.