Bereits zum achten Mal beteiligten sich jetzt die beiden Osnabrücker Hochschulen gemeinsam mit 27 kooperierenden Unternehmen der Region an diesem Berufsorientierungsprojekt. 33 (Fach-) Abiturientinnen absolvierten im vergangenen halben Jahr ein vergütetes Industriepraktikum und parallel dazu ein Schnupperstudium. Außerdem standen Exkursionen und Gespräche mit Naturwissenschaftlerinnen, Ingenieurinnen und Informatikerinnen sowie mit Studentinnen auf dem Programm. Somit bekamen die Technikantinnen praktische und theoretische Einblicke in die MINT-Berufe – also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Auf der Abschlussveranstaltung in der Hochschulaula präsentierten sie jetzt ihre Praktikumsprojekte und berichteten über gesammelte Erfahrungen.
„100-Prozent-Ausbeute“
Marie Stapenhorst absolvierte das Technikum bei den AVO-Werken in Belm, einem der führenden Spezialisten für Verarbeitungsgewürze in Europa. „Beim Bewerbungstraining für Ingenieurberufe in meiner Schule waren meine beste Freundin und ich die einzigen Frauen. Dort wurde das Niedersachsen-Technikum vorgestellt. Wir waren vom Konzept sofort überzeugt und meldeten uns an: eine 100-Prozent-Ausbeute“, erinnert sich die Abiturientin und lacht. Im September startete Marie ihr Praktikum: Sie lernte das komplette Unternehmen kennen, das sich auf die Verarbeitung und Veredelung von Gewürzen sowie die Herstellung von Marinaden, Würzsoßen und Dressings für das Lebensmittelhandwerk, die Lebensmittelindustrie und den Lebensmittelhandel spezialisiert hat und seinen Kunden über 5.000 Produkte anbietet. Nach der Orientierungsphase war sie – als einzige Frau – in der Technikabteilung tätig und bearbeitete ihr eigenes Projekt: Für den Mühlenturm, in dem Gewürze weiterverarbeitet – also gereinigt, gemahlen, geschält und gemischt – werden, hat sie ein neues Fließschema erstellt. „Sechs Stockwerke voller Verfahrenstechnik“ habe sie unter die Lupe genommen, unterstützt vom Betriebsingenieur Matthias Schröder. Marie hat dabei alle Produktleitungen und Bauteile in verschiedenen Werksteilen systematisch eingezeichnet, Symbole nach der DIN-Norm erstellt, das Fließschema am Rechner konstruiert und im Anschluss auch die einzelnen Maschinen mit entsprechenden Symbolen versehen. „Anforderungen an unsere Anlagentechnik ändern sich schnell“, berichtet Matthias Schröder. Mit dem neuen Mühlendiagramm, groß wie eine halbe Tapetenrolle, wolle das Unternehmen den Technikern die Arbeit an der komplexen Anlage erleichtern. Somit habe Maries Projekt einen reellen Mehrwert für die Firma. Der AVO-Personalleiter Christoph Schmedt stimmt seinem Kollegen zu: „Noch ist der Frauenanteil bei uns nicht sehr hoch – wie in vielen technischen Unternehmen auch. Wir wollen das ändern und sprechen deshalb Frauen aktiv an: So sind zwei der insgesamt vier neuen Azubis für den Ausbildungszweig ‚Fachkraft für Lebensmitteltechnik‘ weiblich.“ Seit 2015 beteiligt sich AVO am Niedersachsen-Technikum. „Jedes Jahr stellen wir aufs Neue fest, dass die jungen Frauen einen guten Beitrag zur weiteren Entwicklung des Unternehmens leisten können – so wie Marie in ihrem Projekt“, so der AVO-Personalchef. Sein Lob gibt Marie zurück: Sie habe viel gelernt und auch viel Spaß bei der Arbeit gehabt. Das Praktikum in Belm und das Schnupperstudium an der Hochschule haben sie in ihrem Berufswunsch bestätigt: Im Herbst plant sie, ein technisches Studium aufzunehmen.
„Tolles Orientierungsprojekt“
Auch Ines Niehoff blickt positiv auf die letzten sechs Monate zurück – auch wenn sie in dieser Zeit viel pendeln musste: Die Abiturientin aus Wietmarschen absolvierte das Technikum bei der Firma Meurer in Fürstenau und studierte daneben an der Universität Osnabrück. „Nach dem Abitur wollte ich ausprobieren, ob ein Beruf in der Lebensmittelbranche das Richtige für mich ist“, sagt Ines. Bei Meurer, einem international tätigen Hersteller von Verpackungsmaschinen, bekam sie diese Chance. „Wir beteiligen uns seit Jahren sehr gern am Niedersachsen-Technikum, denn das Thema Diversität hat für uns eine wichtige strategische Bedeutung“, berichtet Saskia Adam, zuständig für den Ausbildungsbereich bei Meurer: „Wir wollen nicht nur Männer, sondern auch Frauen für technische Berufe begeistern.“ Gemeinsam mit den Auszubildenden besuchte Ines zunächst die Lehrwerkstatt, lernte den Umgang mit den unterschiedlichsten Werkzeugen kennen, baute Schaltschränke, legte Leitungen und begleitete Probeläufe neuer Maschinen und Fließbänder. Unterstützt durch ihren Betreuer Thomas Lücke, baute sie in den letzten Projektwochen einen eigenen Mini-Rechner, der Azubis verdeutlichen soll, wie ein Computer funktioniert. Vom Schaltplan über das Löten der Platine bis hin zum Programmieren – alles hat ihr Spaß gemacht: „Das Niedersachsen-Technikum war für mich eine sehr gute Erfahrung. Es bietet eine tolle Orientierung in einem spannenden Berufsfeld“, so Ines. Jedoch habe sie sich für eine andere Perspektive entschieden und plant nun, ein duales Studium in der Pflege aufzunehmen.
„Orientierung für beide Seiten wichtig“
„Hier zeigt sich besonders gut, dass das Niedersachsen-Technikum eine vertiefte berufliche Orientierung in MINT ermöglicht. Gleichwohl kann die Studienentscheidung auch in eine andere fachliche Richtung gehen“, betont Prof. Barbara Schwarze, Initiatorin und Leiterin des Berufsorientierungsprojekts. Eben dieses Ziel verfolge das Niedersachsen-Technikum: In einem halben Jahr ein umfassendes Bild von den MINT-Berufen zu vermitteln, um jungen Frauen zu helfen, den für sie richtigen beruflichen Weg zu finden. „Mehr als 90 Prozent der Technikantinnen nehmen später ein Studium oder eine Ausbildung im MINT-Feld auf“, so die Professorin für Gender und Diversity Studies an der Hochschule Osnabrück. Aber auch in anderen Branchen schreiten Technik und Digitalisierung immer weiter voran – deshalb sei die Teilnahme am Technikum immer eine lohnende Erfahrung. Diese Rückmeldung bekommt die Projektleiterin nicht nur von den Technikantinnen, sondern auch von den kooperierenden Unternehmen, die dank dem Technikum neue weibliche Talente kennenlernen.
Nach einer zweijährigen Pilotphase an der Hochschule Osnabrück beteiligen sich seit 2012 neun niedersächsische Hochschulen und rund 100 Unternehmen an dem Projekt. Seitdem haben etwa 600 junge Frauen das Niedersachsen-Technikum absolviert. Die Anerkennung dafür kommt von vielen Seiten: Das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur und die Stiftung NiedersachsenMetall fördern das Projekt von Anfang an. Auch örtliche Schulen, Agenturen für Arbeit, Kammern, Zentrale Studienberatungen sowie der Nationale Pakt für Frauen in MINT-Berufen kooperieren mit dem Niedersachsen-Technikum. Der große Erfolg des Projekts werde mit viel Interesse in anderen Bundesländern beobachtet: „In Hessen, Berlin, Nordrhein-Westfalen sind bereits ähnliche Initiativen gestartet“, so Prof. Schwarze. Auch aus Österreich und Großbritannien haben sich interessierte Hochschulen gemeldet.
„Kulturwandel schreitet voran“
„Dass technisches Talent eine Frage des Geschlechts ist, würde heute niemand mehr ernsthaft behaupten“, sagt Prof. Dr. Alexander Schmehmann, Vizepräsident für Studium und Lehre an der Hochschule Osnabrück. An Hochschulen, in Unternehmen, in der ganzen Gesellschaft vollziehe sich zurzeit ein Kulturwandel: Immer mehr Frauen wählen den Weg in die Technik. Der aktuelle Fachkräftemangel sei ein wichtiger, aber nicht der einzige Grund dafür. „Mit dem Niedersachsen-Technikum leisten die Hochschule und die Universität Osnabrück einen wichtigen Beitrag zu diesem Kulturwandel“, so der promovierte Ingenieur.
Für das Niedersachsen-Technikum 2018/2019, das im kommenden September startet, haben sich bereits zahlreiche junge Frauen aus Osnabrück und Umgebung angemeldet. Weitere Interessentinnen für das Programm sind herzlich willkommen.