Nach heutigen Maßstäben sind diese Kranken nutzlos für die Gesellschaft. Sie haben kein Neu-Gedächtnis. Die hirnorganisch bedingte Einschränkung vor allem der intellektuellen Fähigkeiten sowie der zeitlichen, örtlichen und situativen Orientierung beraubt sie der Leistungskraft, sie können nicht mehr arbeiten, nichts mehr leisten, sie kosten nur noch Geld. Da ist es, schreibt Manfred Lütz in seinem Bestseller „Irre – wir behandeln die Falschen“, „eine Versuchung, diesen Menschen den Ausgang zu zeigen. Exit heißt eine entsprechende Organisation in der Schweiz, die kaputten Menschen den Weg zum Tod ebnet. In einer solch kalten Diktatur der auf ihre computerähnlichen Eigenschaften stolzen Gesunden ist kein Platz für die Emotionalen, die Schwachen, die Empfindsamen und die Demenzkranken“. Aber, so Lütz, „die eigentlich menschlichen Fähigkeiten, Liebe, Vertrauen, Milde, Barmherzigkeit, Dankbarkeit, Freundlichkeit, Solidarität, Freude, lustvolles Leben im Bewußtsein der Unwiederholbarkeit jedes Moments, bleiben auch beim Demenzkranken lange erhalten“. Deshalb: Sich um Alzheimerkranke zu kümmern geht nicht ohne Freundschaft, geht nicht ohne Liebe.
Die alten Griechen hatten grosso modo zwei Gesellschaftsmodelle. Das Konsensmodell und das Konfliktmodell. Für Aristoteles war die Freundschaft das Band der Gesellschaft. „Freundschaft gehört zum Nötigsten im Leben“, meinte er in seiner nikomachischen Ethik und die beste Form der Freundschaft nannte er jene, bei der beide Freunde selbstlos und gratis einander Gutes wollen. Das verbinde dauerhafter als eine Freundschaft, in der die Freunde nur um eines Vorteils willen zusammen lebten. Es versteht sich von selbst, daß diese aristotelische Form von Freundschaft auf Liebe beruht und zwar im klassischen Sinn, wie es 1500 Jahre später Thomas von Aquin definierte: Jemandem etwas Gutes tun wollen.
Aber wenn der Alzheimerkranke gar nicht mehr fähig ist, das Gute zu erkennen, das man ihm tun will, wenn er gar nicht mehr sieht und erkennt, wer, welcher Freund, welche geliebte Person ihm da selbstlos Gutes tun will, hat das dann noch einen Sinn? Es hat. Diese Frage nach dem Sinn werdenden oder endenden Lebens wurde auch kurz nach dem Krieg gestellt. 1949, als die Menschen noch hungerten und nur überleben wollten, als die Brandbilder noch im Gedächtnis loderten und es klar war wie Quellwasser im Gebirge, wohin der Wahn von Ideologen und die Feigheit der Guten führen kann, zu dieser Zeit verfasste Romano Guardini eine kleine Schrift über das Recht des werdenden Menschenlebens und im Abschnitt mit dem Titel „der entscheidende Gesichtspunkt“ schrieb er: „Nicht deshalb ist der Mensch unantastbar, weil er lebt und daher ein Recht auf Leben hat. Ein solches Recht hätte auch das Tier, denn das lebt ebenfalls.... Sondern das Leben des Menschen darf nicht angetastet werden, weil er Person ist.“ Dann definiert Guardini diesen Begriff und fährt fort: „Person ist die Fähigkeit zum Selbstbesitz und zur Selbst-Verantwortung; zum Leben in der Wahrheit und in der sittlichen Ordnung. Sie ist nicht psychologischer, sondern existentieller Natur. Grundsätzlich hängt sie weder am Alter, noch am körperlich-seelischen Zustand, noch an der Begabung, sondern an der geistigen Seele, die in jedem Menschen ist. Die Personalität kann unbewusst sein, wie beim Schlafenden; trotzdem ist sie da und muß geachtet werden. Sie kann unentfaltet sein wie beim Kinde; trotzdem beansprucht sie bereits den sittlichen Schutz. Es ist sogar möglich, dass sie überhaupt nicht in den Akt tritt, weil die physisch-psychischen Voraussetzungen dafür fehlen wie beim Geisteskranken oder Idioten. Dadurch aber unterscheidet sich der gesittete Mensch vom Barbaren, dass er sie auch in dieser Verhüllung achtet. Diese Personalität gibt dem Menschen seine Würde.... Wird sie, die Würde, in Frage gestellt, gleitet alles in die Barbarei.“
Den einzelnen Menschen als Person zu begreifen, unabhängig von Haben und Leistung – hier liegt der Sinn, ja die Leistung der Alzheimerkranken. Sie drängen uns unbewußt zur Achtung der Würde, mithin zu mehr Menschlichkeit. Sie appellieren an unsere Freundschaftsfähigkeit, an unsere Fähigkeit zu selbstloser Liebe. Damit verhindern sie das Abgleiten in die Barbarei. Sie erinnern ihre Mitmenschen durch ihre Präsenz an fundamental menschliches Verhalten, ohne das wir unseren zivilisatorischen Standard und unseren Fortschritt vergessen können. Sie werfen uns zurück auf den solidarischen Kern des Zusammenlebens. Sie wissen nicht, was sie tun – und gerade deshalb schulden wir ihnen Dank.
Wie können wir diese Dankesschuld begleichen? Das ist das Thema der Therapien und hier bewegt man sich in einer interdisziplinären Grauzone, möglicherweise sogar in einem Minenfeld der Kompetenzen. Sicher ist: Die Krankheit zeichnet sich dadurch aus, daß das Neugedächtnis, das für den Alltag so wichtig ist, nachlässt und schließlich aussetzt. Dagegen funktioniert das Altgedächtnis manchmal besser als bei gesunden Menschen. Das Altgedächtnis funktioniert, das Neugedächtnis setzt aus. Das ist der Ansatz für manche Therapien. Zum Beispiel die Gartentherapie oder die Musiktherapie. Sie beleben über sinnliche Wahrnehmungen wie Riechen und Hören Erinnerungen aus dem Altgedächtnis. Der Duft frischer Erdbeeren, eines Fliederstraußes, eines Rosenstocks oder die Melodien eines alten Schlagers und Gassenhauers, vielleicht Freddy Quinns Junge komm bald wieder oder noch ältere Lieder (an der Laterne, vor dem großen Tor von Marlene Dietrich), die auch bei uns schon im Hirn erklingen, wenn wir nur die Titel hören, all diese Erinnerungen sind an Emotionen gebunden, wecken Synapsen, die vielleicht aus der späten Jugend stammen, aus einer Zeit der Verliebtheit, vielleicht aber auch aus der Kindheit, einer Zeit der Unbeschwertheit, der Heimat und Geborgenheit, einer Zeit des kleinen oder großen Glücks. Das muss nicht nur der Schlager sein. Marlies Schultke, protestantische Pfarrerin der Trinitatisgemeinde in Charlottenburg, bietet seit neun Jahren einen Gottesdienst speziell für Demente an. Mit Erfolg – die Bänke sind stets voll besetzt. Wenn die Glocken läuten und die Orgel spielt, erinnern sich die alten Menschen zum Beispiel an ihre Konfirmation oder andere Gottesdienstbesuche. Das seien Erinnerungen an die Jugendjahre und da müsse man einfach nur anklopfen, „die hören das dann“, sagt Pfarrerin Schultke. Der Altarraum ist bei diesen Gottesdiensten mit großen Bildern gefüllt, die Menschen in der Kleidung der zwanziger Jahre zeigen, und in jedem Gottesdienst wird das Lied: Weißt Du wieviel Sternlein stehen, gesungen. Frau Schultke erinnert sich: Ein Mann, der eine Aphasie hatte, eine Sprachstörung, und eigentlich gar nicht mehr reden konnte, sang plötzlich mit. „Wir drehten uns um, er sang wirklich mit,“ erzählte sie, „ er hat natürlich danach wieder aufgehört zu singen, aber er konnte, durch das Miteinander angeregt, wirklich singen. Das war toll.“
Das Hören, Schmecken und Riechen, also die Sinnesorgane, die der Mensch als erste entwickelt und zwar noch im Mutterleib, prägen die Persönlichkeit sehr früh. Das Lieblingslied des neugeborenen Säuglings ist das Lied, das die Mutter während der Schwangerschaft summte oder sang. Es ist das vertrauteste und wiegt das Kind am ehesten in den Schlaf. Es kann diese Wirkung vielleicht auch im hohen Alter entfalten. Elmar Trapp, Leiter der Altenheimseelsorge in Köln, hat in seinem Konzept den Punkt „Begegnung an den Betten der Alten“. Er will „Ein-Gute-Nacht-Ritual“ einführen und, wie er sagt, „herausfinden, welches das Lieblingsgebet oder das Lieblingslied ist“. Emotionen sind die Architekten des Gehirns, schrieb Stanley Greenspan, ein Pionier der Bindungsforschung. Sie sind auch, wenn man so will, die Architekten der Erinnerung, die Architekten späten Glücks.
Der Körper hat jedenfalls auch ein Gedächtnis und die Hirnforschung hat darauf vielfach hingewiesen. Der Neurobiologe Joachim Bauer aus Freiburg hat dazu ein Buch geschrieben mit dem Titel „Das Gedächtnis des Körpers“. Es steht in der Linie der amerikanischen neurobiologischen Forschung, die, wie der Nobelpreisträger Eric Kandel etwa, darauf hinweist, dass die neuen Entdeckungen über die Verbindung zwischen „mind“ (Geist) und „brain“ (Gehirn) ein Umdenken in der Medizin erfordern. Da alles, was wir geistig tun, seelisch fühlen und in Beziehungen gestalten, seinen Niederschlag in körperlichen Strukturen findet, mache eine Medizin für „Körper ohne Seelen“ ebenso wenig Sinn wie eine Psychologie für „Seelen ohne Körper“. Joachim Bauer beschreibt in diesem Sinn eine faszinierende Tatsache, nämlich dass Faktoren, die Gene steuern und Gesundheit beeinflussen können, zu einem wesentlichen Teil aus dem Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen kommen. Überall da, wo sich Quantität und Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen vermindern, erhöhe sich das Krankheitsrisiko. Und zwischenmenschliche Beziehungen, das heißt eben auch Emotionen. Man könnte auch sagen: Liebe. Oder um mit Jean Jacques Roussau zu sprechen: „Der Mensch, das soziale Wesen, ist immer wie nach außen gewendet: Lebensgefühl gewinnt er im Grunde erst durch die Wahrnehmung, was andere von ihm denken“. Moderner in den Worten von Joachim Bauer aus seinem Buch Prinzip Menschlichkeit: „Wir sind – aus neurobiologischer Sicht – auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen.“
Diese auch für Laien einfach nachvollziehbare Erkenntnis liegt manchen Therapiemodellen zugrunde. Es ist eigentlich wie bei kleinen Kindern, auch sie haben kaum Inhalte im Neugedächtnis, sie leben von Zuwendung und von Aktivität. Also von Kommunikation und Beschäftigung. Das ist auch das Prinzip der Gartentherapie. Die Sinneserinnerungen – Riechen, Hören und Schmecken, die der Mensch zuerst gelernt hat – werden abgerufen und das Sensorische, die Motorik und die Konzentration gefördert. Das Tasten und Fühlen der Pflanzen, das Modellieren der Erde und das alles an der freien Luft. Die Naturerfahrung gepaart mit Kommunikation, das Sensorische und Emotionale bei der Pflege der Pflanzen und dann auch noch das Erfolgserlebnis der Ernte, das schafft Freude und Wohlempfinden. Thomas Haase, Rektor der Hochschule für Agrar-und Umweltpädagogik in Wien, an der Gartentherapeuten ausgebildet werden – in Deutschland gibt es bislang gerade mal hundert, verweist auf Studien, die zeigten, daß „in der Geriatrie durch den Einsatz von Gartentherapie die Einnahme von Antidepressiva signifikant abgenommen hat und die Mobilität länger erhalten blieb“.
Der späte Alzheimerpatient weiß nicht mehr, wo er ist, welches Datum wir haben, wie der Name der Betreuerin ist, die sich täglich um ihn kümmert. Er lebt in der totalen Gegenwart. Und ist nicht gerade das auch ein ungemein wertvoller Hinweis? Wir leben in der Vorstellung, die Vergangenheit abgearbeitet zu haben und die Zukunft abarbeiten zu müssen. Aber ist das Leben nicht die Gegenwart, das hier und jetzt? Das hat nichts zu tun mit einer Lebensphilosophie vom Stil Carpe Diem. Man muß planen, um zu gestalten, erst recht wenn man Familie oder Verantwortung auch für andere Menschen hat. Aber in dieser Planung sollte, und das sagen uns die Alzheimer-Mitmenschen, auch die Zweckfreiheit, die Zeit, die nicht Geld ist, ihren Platz haben. Das Gespräch, die selbstlose Zuwendung, das Staunen über eine Erkenntnis, all das nannten die Griechen Muße, es war für sie der Höhepunkt des Lebens. Schola, von dem das Wort Schule kommt, ist das lateinische Wort für das griechische Wort Muße, bei der Übertragung vom Griechischen bis ins Deutsche hat sich etwas Grundlegendes verdreht. Bei Aristoteles hieß es, Zentrum unserer Kultur muss die Muße sein, nicht die Arbeit. Der Mensch sei, so schrieb er in seiner Metaphysik, „unmüßig“, also geschäftig, arbeitend, „um Muße zu haben“. Man arbeite, um zu leben, sagt der Volksmund heute. Diese alte Lebensweisheit bringen Alzheimermenschen in Erinnerung.
In der Praxis denkt man freilich nicht immer an Aristoteles. Ein Praktiker, der frühere Leiter des Sozialamtes in Bonn, Dieter L., hatte ein Leitmotiv: „Die Qualität einer Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit Minderheiten umgeht, mit den Alten und Dementen, mit Behinderten und Süchtigen“. Hier stehe die Gesellschaft, also auch der Staat im eigenen Interesse in der Pflicht, nicht nur den Kranken, sondern auch den betroffenen Angehörigen zu helfen. Die politische Diskussion darüber ist in Gang. Ihr Ausgang oder auch schon Fortgang wird über die Qualität der Gesellschaft Aufschluss geben, ob wir dekadent werden bei all unserem Fortschritt oder Mensch bleiben. Arnold Gehlen hat Dekadenz einmal so definiert: „Wenn die Gaukler, Dilettanten, die leichtfüßigen Intellektuellen sich vordrängen, wenn der Wind allgemeiner Hanswursterei sich erhebt, dann lockern sich auch die uralten Institutionen und strengen professionellen Körperschaften: das Recht wird elastisch, die Kunst nervös, die Religion sentimental.“ Solche Dekadenz gab es auch schon zu Zeiten von Aristoteles. Die Sophisten propagierten in diesem Sinn ein Gesellschaftsmodell, in dem der eigene Nutzen absolute Priorität beanspruchte. Thrasymachos war einer von ihnen. Was technisch geht, wird gemacht, ohne Rücksicht auf Verluste, das war sein Credo. Es ist ein Modell der Brutalität, der Repression. Auch heute kann man sagen: Der alte Streit um das Gesellschaftsmodell ist nicht entschieden. Wie wir mit Alzheimerkranken oder überhaupt den Schwachen umgehen, das wird Aufschluss darüber geben, ob wir eine solidarische, menschliche Gesellschaft bleiben oder in eine repressive, barbarische abzugleiten drohen. Zu beidem ist der Mensch wohl fähig, wie die Geschichte zeigt.