Die jährliche Rede des Kommissions-Präsidenten „Zur Lage der EU“ ist ein jüngeres Element in der Zusammenarbeit zwischen Parlament und Kommission. Beide Institutionen verbindet eine „besondere Beziehung“ (special relationship). Sie drückt sich in dem politischen Bestreben aus, die Verlagerung von immer mehr Zuständigkeiten der Nationalstaaten nach Brüssel zu fordern und EU-Beamte über die Entscheidungen der demokratisch legitimierten nationalen Regierungen und Parlamente befinden zu lassen. Man nennt das offiziell „Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ oder, etwas schlichter, „europäische Integration“. Dahinter steckt immer dieselbe Idee: Brüssel entscheidet für alle Mitgliedsstaaten. Deswegen steht der Rat der EU, in dem sich die Staats- und Regierungschefs treffen, auch etwas abseits. Schließlich müssen auch die Regierungschefs die Initiativen der Kommission absegnen. Aber das fällt naturgemäß schwer, wenn nationalstaatliche Hoheiten einfach so abgegeben werden sollen. Will man also den Rat gegenüber Parlament und Kommission stärken, bedarf es in den nationalen Parlamenten und Regierungen eines gestärkten Selbstbewusstseins dafür, dass die Positionen der einzelnen Mitgliedstaaten in den Hauptstädten festgelegt werden. Dafür sind starke, EU-kritische Fraktionen in den Parlamenten unabdingbar. Spätestens seit der Brexit-Entscheidung des Vereinigten Königreichs ist klar, dass es „Brüssel“ niemals nur um einen gemeinsamen Markt und die vier Grundfreiheiten ging. Der war nur ein Vorwand für den europäischen Superstaat. Die Brexit-Verhandlungen verlaufen auch deswegen so schleppend, weil der Brüsseler Chef-Unterhändler Michel Barnier den Briten einseitig selbst für den Austritt aus dem Bündnis die Regeln diktieren will. Der frühere EU-Kommissar Michel Barnier droht Großbritannien - und allen anderen Mitgliedsstaaten - unverhohlen: „Wir werden Euch lehren, was es heißt, die EU verlassen zu wollen.“ (beim Ambrosetti-Forum am 2. September in Italien).
Im September trugen Jean-Claude Juncker und Emmanuel Macron ihre Vorstellungen von der Entwicklung der EU vor. Beide schlagen nichts Geringeres als einen grundlegenden Kulturwandel vor, um die Entmachtung der Nationalstaaten voranzutreiben. Doch gerade Macron ist dabei unglaubwürdig. Er schlägt beispielsweise vor, bis 2020 einen EU-Verteidigungshaushalt und eine von der EU befehligte Eingreiftruppe aufzubauen. Bei sich zuhause hingegen verfügt er bei der Armee Einsparungen von 850 Millionen Euro im nächsten Haushaltsjahr, obwohl er im Wahlkampf gar eine Erhöhung des Wehr-Etats versprochen hatte. Außer der Feststellung, dass da schnell ein Wahlversprechen gebrochen wurde, stellt sich die Frage, wie eine Armee ihren Verpflichtungen nachkommen soll, ohne ihr die dafür benötigten Mittel bereitzustellen. Ähnliches gilt übrigens auch für alle anderen Mitgliedsstaaten. Zulange verließen sie sich darauf, dass die USA die Sicherheit des europäischen Kontinents militärisch garantierten. Aus mehreren kaputtgesparten Armeen kann man keine EU-Armee aufbauen. Der Generalinspekteur der französischen Armee, Pierre de Villiers, sah das genauso, forderte mehr Respekt für die Truppe und wurde daraufhin zum Rücktritt genötigt. „Jupiter“ (so bezeichnete sich Macron selbst in seiner Antrittsrede vor dem Kongress in Versailles) duldet keinen Widerspruch. Doch seinen Forderungen sind nicht nur bei den Militärausgaben widersprüchlich, sondern auch bei der Industriepolitik. Macron fordert eine deutsch-französische Annäherung ein. Dazu passt der Umstand, dass zeitgleich zur Europa-Rede von Macron der französische TGV-Hersteller Alstom vom deutschen ICE-Konstrukteur Siemens aufgekauft wird und die französische Regierung entgegen früherer Reflexe diesmal... nichts tat. Gleiches beim Schiffbau-Unternehmen STX. Dabei hatte Macron noch im Juli kurzerhand die Antlantik-Werft STX France verstaatlicht, um einer Übernahme durch den italienischen Konzern Fincantieri zu verhindern. Nun eine Fusion mit den Italienern, bei der Fincantieri das Sagen hat. Warum diese Volte? Gibt es bei diesen Geschäften einen Zusammenhang mit der Bank Rothschild, bei der Macron einmal führend beschäftigt war?
Entgegen der Darstellung in deutschen Medien ist Macron keineswegs der neue Liebling in Brüssel, weil er an Strukturen rüttele und die Integration vorantreibe. Im Gegenteil. Macron hat die Ost-West-Spaltung vorangetrieben, weil er die Entsenderichtlinie zugunsten Frankreichs (und zum Nachteil der mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten) neu verhandeln will. Auf die Ablehnung der 12 Mitgliedsstaaten aus Mittel- und Osteuropa reagierte er als französischer Nationalist, nicht als europäischer Einiger. Auch sind seine Integrationsvorstellungen in Osteuropa mit Verwunderung aufgenommen worden. Zum einen, weil die meisten Ideen altbekannt sind, zum anderen, weil dieses Programm realistisch gesehen keine Chance hat, in den nächsten Jahren verwirklicht zu werden. Mit Erstaunen wurde auch zur Kenntnis genommen, daß Macron in der Sorbonne-Rede ein Mitglied der Kommission besonders hervorhob: Vizepräsident Frans Timmermanns. Dafür gibt es in den Fluren des Brüsseler Apparats zwei Erklärungen. Timmermanns ist der Kommissar, der am eifrigsten das Programm der Schwulen-Lobby inklusive der noch offenen Forderung nach Freigabe der Leihmutterschaft unterstützt. Auch Macron ist für die Freigabe und erhofft sich aus Europa Rückendeckung. Wichtiger für ihn aber dürfte die Unterstützung Timmermanns sein, wenn dieser Nachfolger von Kommissionspräsident Juncker werden sollte und dann über ein Strafverfahren gegen Frankreich zu befinden hätte, weil es die Maastricht –Kriterien nicht erfüllt. Da könnte es nicht schaden, daß Timmermanns dann der Regierung Macron etwas zu verdanken haben wird. Macron wird sich auch bei der EVP für den Niederländer als Nachfolger Junckers einsetzen. Seine Partei wird der EVP beitreten und dort mitreden wollen. Der liberalen Europapartei „Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa“ (ALDE) hat er jedenfalls eine Abfuhr erteilt. Das ist verständlich, denn die ALDE ist keine große Nummer, zu ihr gehört beispielsweise die deutsche FDP. Doch als Mitglied der EVP kann Macrons „En Marche“ bei entscheidenden Schlüsselposten mitbestimmen und vor allem auf einen funktionsfähigen, vom Steuerzahler massiv finanzierten Parteiapparat zurückgreifen. Bis zu den Europawahlen im März 2019 ist es zwar noch etwas hin. Aber in anderthalb Jahren können Stimmungen schon umschlagen, auch gegen die immerwährende Lösung von „Mehr Europa“. Da heißt es für das linksliberale Establishment in der EU und seine neue Galeonsfigur Macron: Beizeiten gegensteuern.