Dabei sind es nicht einmal die Probleme selbst, obwohl gewaltig dem Ausmaß und der Zahl nach, die uns schrecken müssten. Es sind die Strategien, die uns, so überhaupt vorhanden, heute zu ihrer Bewältigung angereicht werden. Schnell, mit heißer Nadel gestrickt, auf Wirkung in den Medien schielend, den (a)sozialen zumal, statt klug überlegt, sorgfältig gewogen, wissenschaftlich geprüft und auf Nachhaltigkeit bedacht. Anstatt Phänomene und Sachverhalte so vorurteilsfrei wie möglich und so präzise wie nötig zu untersuchen, halten wir Ausschau nach zündenden „Narrativen“. Wir schämen uns „alternativer Fakten“ nicht und „framen“ Bedeutungszusammenhänge absichtsvoll und wissentlich, was das Zeug hält. Wir sind zu Sophisten geworden, die einander Sand in die Augen streuen.
Statt um „Wahrheit“, geht es uns um den „Sieg“. Wir wollen weder „recht tun“ noch „richtig“ liegen. Wir wollen triumphieren. Wir sind überheblich und rücksichtslos geworden. Dass wir per Mausklick oder Wischen ganze virtuelle Welten dirigieren und beherrschen, qualifiziere uns, so meinen wir, schon zu Vor- und Chefdenkern der realen Welt. Zwischen Feierabend und Zu-Bett-Gehen sind wir die besseren Bundeskanzler, Außen-, Innen-, Wirtschafts-, Finanz-, Bildungs- und Familienminister, nicht selten sogar in Personalunion. Wir leisten uns zu beinah allem und jedem eine Meinung und haben dabei doch selten von mehr als einer Sache wirklich Ahnung.
Wir sind ständig gereizt und übel gelaunt. Wir „haten“ und „canceln“ einander hemmungslos. Wir räumen einander nicht ein, auch einmal etwas übersehen, falsch gewichtet zu haben oder gar einem Irrtum aufgesessen zu sein. Wir unterstellen einander sogleich, Entscheidendes bewusst „ausgeblendet“ oder gar „verschwiegen“ zu haben. Wir geben uns nicht damit zufrieden, andere, von unserer eigenen Meinung abweichende nach sorgfältiger Prüfung abzulehnen, wir müssen sie auch gleich samt ihren Urhebern „verdammen“. Aus dem Bruder, der Schwester, dem Mitmenschen – dem Glauben oder sogar der Menschennatur nach – sind Konkurrenten geworden. Mit ihnen kämpfen wir um Aufmerksamkeit und Beachtung. Wir „batteln“ um „Follower“ und „Likes“. Das Wohlergehen unserer Konkurrenten, erst recht ihr Seelenheil, lässt uns kalt. Wir befinden uns in einem „bellum omnium contra omnes“, einem Krieg aller gegen alle.
Deswegen: Wir müssen ethisch aufrüsten. Und zwar dringend. Nicht, um den Krieg zu gewinnen, sondern um ihn gar nicht erst führen zu müssen. Dafür brauchen wir „Pathfinder“, Pfadfinder, die uns den Ausgang vom Schlachtfeld bahnen. Wir müssen aufhören, nur unseren eigenen Vorteil zu suchen. Statt bloß um das Eigenwohl, muss es uns wieder mehr um das Gemeinwohl gehen. Wir müssen wieder anfangen, einander fair zu behandeln, anstatt uns über den Tisch zu ziehen oder einander ins Minus bringen zu wollen. Statt bloß um Vertrauen zu werben, müssen wir anfangen, es uns wieder zu verdienen. Wir müssen bereit sein, den Tatsachen ins Auge zu sehen und den Dingen auf den Grund zu gehen. Wir müssen Probleme sachgerecht lösen wollen, statt uns damit zu begnügen, bei dem Versuch halbwegs gut auszusehen. Statt um „bella figura“ muss es uns um echte „Nachhaltigkeit“ gehen.
Wer Vollzeit arbeitet, muss davon auch leben können. Wohnraum muss wieder bezahlbar werden. Überall – nicht nur auf dem Land. Eltern müssen hinreichend Zeit für die Erziehung ihrer Kinder haben, statt sie fremd betreuen zu lassen, um unterdessen Miete und Lebensunterhalt zu verdienen. Wir müssen Menschen wieder als Personen achten, anstatt sie lediglich als „Funktionen“ zu betrachten, die sie in bestimmten Kontexten durchaus besitzen. Arbeitgeber sind keine „Kühe“, die Arbeitnehmer „melken“, Arbeitnehmer kein „Humankapital“, das Arbeitgeber „ausbeuten“ dürfen. Wir brauchen einen echten Perspektivwechsel. Einen, bei dem der Mensch nicht von der zu verrichtenden Arbeit hergedacht wird, sondern die Arbeit von dem sie verrichtenden Menschen.
Wir müssen neu verstehen lernen, was Papst Johannes Paul II. einst so formulierte: „Zweck der Arbeit, jeder vom Menschen verrichteten Arbeit gelte sie auch in der allgemeinen Wertschätzung als die niedrigste Dienstleistung, als völlig monotone, ja als geächtete Arbeit, bleibt letztlich immer der Mensch selbst.“ Der arbeitende Mensch dürfe daher, „nicht wie ein Instrument behandelt“ und „dem Gesamt der materiellen Produktionsmittel gleichgeschaltet“ werden. Vielmehr sei der Mensch als „Subjekt und Urheber“ der Arbeit das „wahre Ziel des ganzen Produktionsprozesses“.
Wir müssen einsehen, dass die Erde unser „gemeinsames Haus“ (Papst Franziskus) ist, und die Sorge um sie kein Luxus ist, auf den wir auch verzichten könnten, sondern eine existenzielle Menschheitsaufgabe. Wir müssen anerkennen, dass es auch eine „Ökologie des Menschen“ gibt (Papst Benedikt XVI.), deren Nichtbeachtung nicht minder schwer wiegt. Vor allem müssen wir aufhören, das eine gegen das andere auszuspielen. Nicht um „versus“, sondern um „et – et“ (sowohl – als auch) muss es uns gehen.
Wir müssen neu verinnerlichen, dass die Familie die Keimzelle der Gesellschaft ist und jeder Mensch, auch der noch nicht geborene, ein einzigartiges, unwiederholbares Geschöpf ist. Unersetzlich und unendlich kostbar. Wir müssen den gesellschaftlichen Wert der alltäglichen Arbeit, die Mütter und Väter in ihren Familien leisten, neu schätzen und hervorheben lernen. Wir dürfen Alleinerziehende und schwangere Frauen in Not nicht allein lassen. Wir müssen ihnen mit Rat und Tat dabei helfen, ihre wahren Probleme zu lösen, anstatt unschuldige und wehrlose Kinder zu solchen zu erklären. Wir müssen neu verstehen lernen, dass Familie und Gesellschaft aufeinander bezogen sind und einander wechselseitig benötigen. Denn: ohne intakte Familien, in der Kinder zu selbstständigen, verantwortungsbewussten, empathie- und liebesfähigen Persönlichkeiten heranreifen können, kann es keine humane Gesellschaft geben. Und: ohne eine humane Gesellschaft fehlt den Familien der notwendige Schutz- und Freiraum, in dem diese Leistungen erbracht werden können.
Wir benötigen „Denkfabriken“ und „Ideenschmieden“, die Konzepte zur nachhaltigen Bewältigung all dieser Probleme erarbeiten, in die gesellschaftlichen Diskurse einspeisen und bewerben. Kurz: Wir brauchen Einrichtungen, wie das von dem 2021 verstorbenen Familienvater, Journalisten, Publizisten und Buchautor Jürgen Liminski zusammen mit anderen gegründeten „Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie (IDAF) e.V.“
Denn wir brauchen den leidenschaftlichen Einsatz für den Aufbau einer besseren und gerechteren Welt, in der Menschen einander wieder als Personen achten. Wir brauchen Brückenbauer, die über Partei- und Konfessionsgrenzen hinweg, mit anderen zusammenzuarbeiten bereit sind, die ideologische Gräben zu überwinden und gangbare Wege in die Zukunft zu bahnen suchen. Heute, mehr denn je.
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