Denn nicht nur Hersteller der verwendeten Medizinprodukte, sondern auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler halten Daten unter Verschluss. Damit verstoßen sie gegen ethische und wissenschaftliche Standards der Wissenschaft. Nutzen und Schaden der Therapie allein auf Basis der veröffentlichten Daten zu bewerten, hätte zu einem hochgradig verzerrten Ergebnis führen können. Somit fehlt weiterhin eine valide Grundlage für die Bewertung von Nutzen und Schaden dieser Behandlung.
Zu diesem jetzt veröffentlichten Vorbericht bittet das Institut um Stellungnahmen bis zum 25. September. Der Vorbericht bezieht sich auf die Vakuumversiegelungstherapie (VVS) bei intendierter sekundärer Wundheilung, die primäre Wundheilung ist Gegenstand einer zweiten Nutzenbewertung.
Unterdruck soll Durchblutung erhöhen
Bei der VVS wird die Wunde luftdicht mit einem Verband abgedeckt, an dem über einen dünnen Schlauch eine Pumpe angeschlossen ist. Diese saugt ständig Wundflüssigkeit ab, wodurch im Wundbereich ein Unterdruck entsteht. Er soll die Durchblutung der Wunde erhöhen. Zudem bleibt die Wunde feucht, was die Heilung ebenfalls fördern soll.
Sie wird unter anderem eingesetzt bei schwer heilenden oder großflächigen Wunden, etwa bei Patientinnen und Patienten mit einem Dekubitus (Wundliegen) oder nach einer Operation. Von einer intendierten primären Wundheilung sprechen Fachleute dann, wenn die Wundränder bündig anliegen und zusammengenäht werden können. Bei der sekundären Wundheilung muss sich dagegen Gewebe neu bilden, die Wunde kontrahieren oder Haut transplantiert werden.
Neue Studien, neue Erkenntnisse?
In ihrem 2006 abgeschlossenen Bericht zur Vakuumtherapie bei Wunden hatten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf eine ganze Reihe noch laufender Studien hingewiesen und empfohlen, die Methode zu gegebener Zeit erneut zu bewerten. Diese Nachrecherche fand dann bereits ein Jahr später statt, doch die neueren Studien änderten nichts am Befund: Eine breite Anwendung der VVS sei nicht zu rechtfertigen, da die verfügbaren Daten nicht eindeutig interpretierbar seien. Aufschluss könnten jedoch weitere noch laufende oder noch nicht publizierte Studien geben, so die Hoffnung des IQWiG.
Über 100 Studien mit mehreren Tausend Teilnehmern
Der aktuelle Vorbericht zeigt, dass inzwischen zahlreiche weitere randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) abgeschlossen wurden, die die VVS mit der Standardbehandlung verglichen. Insgesamt gibt es inzwischen über 100 Studien, an denen mehrere Tausend Patientinnen und Patienten teilgenommen haben. Für ein nichtmedikamentöses Verfahren ist das eine ungewöhnlich große Zahl. Also eine gute Ausganglage für eine Nutzenbewertung, sollte man meinen.
Publikations-Bias: Positive Wirkung wird häufig überschätzt
Um verlässliche Aussagen treffen zu können, ist es unabdingbar, die Ergebnisse aller Studien in die Bewertung einzubeziehen. Allein die publizierten Daten zu verwenden, könnte dazu führen, die positiven Effekte einer medizinischen Maßnahme zu überschätzen. Denn aus der Forschung ist bekannt, dass es in der Regel die Studien mit „unvorteilhaften“ Resultaten sind, die in der Schublade bleiben oder erst Jahre später veröffentlicht werden. Fachleute sprechen hier von einem "Publikations-Bias" (englisch für Verzerrung, Schieflage).
Das IQWiG recherchiert deshalb nicht nur in Datenbanken oder Registern, sondern fragt auch bei Herstellern sowie Autorinnen und Autoren an, die beispielsweise in Zeitschriften und Studienregistern oder in Form von Vorträgen über Studien berichtet haben. Hier ist zuweilen „detektivischer“ Spürsinn nötig.
Vereinbarung mit Sponsoren soll Kooperation erleichtern
Um möglichst auch alle Ergebnisse aus von Herstellern finanzierten Studien nutzen zu können und die Kooperation zu erleichtern, bietet das Institut solchen Sponsoren regelhaft einen Vertrag an, der beiden Seiten Vorteile bietet: Vertrauliche Angaben wie Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse bleiben in jedem Fall geschützt. Im Gegenzug verpflichtet sich der Hersteller, vollständige Daten zu allen publizierten und nicht publizierten Studien vorzulegen. Die Ergebnisse und die zugrundeliegenden Methoden kann das IQWiG verwenden und publizieren.
Mit mehreren Herstellern von VVS-Systemen hat das Institut einen solchen Vertrag abgeschlossen. Diese Vereinbarung erfolgte übergeordnet, d. h. unabhängig von einer Aufteilung des Auftrags nach Wundtyp (primär, sekundär).
Für großen Teil relevanter Studien fehlen Daten
Zwar erhoben und berichteten viele der neu recherchierten RCTs verwertbare Daten zu den sogenannten patientenrelevanten Endpunkten wie Sterblichkeit, Wundverschluss, Schmerzen, Komplikationen (der Therapie), Aufenthaltsdauer in der Klinik oder Pflegebedürftigkeit und waren damit für die Bewertung relevant. Demgegenüber standen jedoch auch sehr viele Studien, für die Ergebnisse nicht verfügbar waren, obwohl das Institut die jeweiligen Studienverantwortlichen wiederholt um Auskunft gebeten hatte.
KCI hält sich nicht an Vertrag
KCI Medizinprodukte (Acelity) lieferte trotz mehrfacher Nachfragen weder eine komplette Übersicht noch vollständige Studienberichte zu sämtlichen Studien, für die das Unternehmen verantwortlich ist. Infolgedessen liegen für die Hälfte aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer (842 von 1681) nicht alle Daten vor. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IQWiG haben deshalb diese Studien für ihre Nutzenbewertung der VVS generell nicht berücksichtigen können.
Standards auch durch Wissenschaftler verletzt
Doch auch bei den übrigen Studien, bei denen es sich überwiegend um sogenannte Investigator Initiated Trials (IITs) handelt, die beispielsweise von an Hochschulen tätigen Forschern selbst initiiert wurden, klaffen Lücken: In Hinblick auf die sekundäre Wundheilung fehlten für mindestens 1703 von insgesamt 4251 Teilnehmerinnen und Teilnehmer verwertbare Studienergebnisse – das entspricht immerhin 40 %. Da auch bei dieser Größenordnung die Ergebnisse nicht mehr sinnvoll interpretiert werden können, verzichtet das Institut auch hier auf die Bewertung von Nutzen und Schaden.
Über die Beweggründe der Forscher ist nichts bekannt. Eigene Forschungsinteressen oder Abhängigkeiten könnten eine Rolle spielen. Zumindest bei einigen der IITs ist offenkundig, dass Hersteller zwar nicht als Sponsoren auftraten, aber indirekt beteiligt waren, etwa indem sie Stipendien gewährten oder beim Auswerten der Daten und beim Erstellen von Manuskripten (Medical Writing) unterstützten.
Verschweigen von Daten schadet Patienten und Ärzten
„Bei unseren ersten Bewertungen war die Studienlage dürftig. Nun gibt es zwar Studien mit mehreren Tausend Patientinnen und Patienten, wir können aber immer noch nicht sagen, ob die Vakuumtherapie besser, gleichwertig oder womöglich sogar schlechter ist als die herkömmliche Wundbehandlung“, stellt Stefan Sauerland, Leiter des Ressorts Nichtmedikamentöse Verfahren, frustriert fest.
Ursache ist, dass sowohl Unternehmen als auch Forscherinnen und Forscher Daten unter Verschluss halten. „Damit verstoßen sie gegen ethische und wissenschaftliche Standards“, so Stefan Sauerland. „Und sie schaden damit Patienten und Ärzten ebenso wie der Versichertengemeinschaft – für mich als Arzt und Wissenschaftler ist das ein bestürzender Befund.“
Registrierung und Publikation der Ergebnisse muss Pflicht sein
Die Vakuumtherapie zeigt exemplarisch, dass auch für Studien zu nichtmedikamentösen Verfahren und Medizinprodukten weitergehende gesetzliche Regelungen nötig sind. Sie müssen sicherstellen, dass Studien vor Beginn registriert und die Ergebnisse zeitnah publiziert werden. „Bei Arzneimittel-Studien sind wir inzwischen weiter“, sagt Stefan Sauerland. Eine EU-Richtlinie und das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) haben die Transparenz bei Arzneimitteln deutlich erhöht. „Ohne vergleichbare Vorschriften werden wir auch in 10 Jahren über Interventionen wie die Vakuumtherapie kein gesichertes Wissen haben“, ist sich Stefan Sauerland sicher.
Die Beratungen im Gemeinsamen Bundesausschuss
Beauftragt wurden alle Bewertungen der VVS vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). 2002 hatte eine Krankenkasse dort einen Antrag gestellt zu prüfen, ob diese Methode auch im ambulanten Sektor durch die GKV erstattet werden sollte. Der erste IQWiG-Bericht (beauftragt 2004, abgeschlossen 2006) hatte auf noch laufende Studien verwiesen, und bereits Ende 2006 initiierte der G-BA die erste Update-Recherche.
Da gesicherte Erkenntnisse offenkundig weiter fehlten, fasste der G-BA 2007 und 2010 Beschlüsse, die Beratungen für jeweils mehrere Jahre auszusetzen. Den Beschluss von 2007 verknüpfte das Gremium mit dem Auftrag, in Deutschland geeignete Studien und Modellvorhaben durchzuführen, die geeignet sind zusätzliche Evidenz zu generieren.
Den Auftrag für den aktuellen Vorbericht hatte der G-BA 2017 erteilt. Da 2009 die sektorübergreifende Qualitätssicherung eingeführt worden war, bezieht sich dieser Auftrag auf den Einsatz der VVS sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Versorgung.