08/11/24–16/02/25
Presserundgang
Do 07/11
11 Uhr
Ausstellungseröffnung
Do 07/11
19 Uhr
Die Ausstellung Bodies in Motion – Form in the Making kontextualisiert die performancebasierten Videoarbeiten der international renommierten Künstlerin Cinthia Marcelle (*1974 in Belo Horizonte, Brasilien) – eine davon ist eine Zusammenarbeit mit Tiago Mata Machado (*1973 in Belo Horizonte, Brasilien) entstanden – mit Werken der postminimalistischen Tanz- und Performancepraxis der 1960er/70er Jahre wie Yvonne Rainer (*1934 in San Francisco, USA), Bruce Nauman (*1941 in Fort Wayne), Suzanne Harris (1940–1979 USA) und den einzigartigen minimalistischen Skulpturen von Charlotte Posenenske (1930-1985, Frankfurt am Main), deren Gestalt immer wieder neu in partizipatorischen Übungen ausgehandelt und bestimmt wird.
Das Schaffen von Cinthia Marcelle ist eine konsequente Weiterentwicklung der soziopolitischen Kunstproduktion im Brasilien des 20. Jahrhunderts, in der Materialexperimente mit konzeptioneller und formaler Strenge und einer einzigartigen partizipatorischen Praxis kombiniert wurden. Im Mittelpunkt von Marcelles Praxis steht das Interesse an der Beziehung zwischen Material, Form, Zeit und Raum. Dieses Interesse lotet sie in einem multimedialen Werk aus, in dem sie eine dezidiert prozessorientierte und performative Methodik mit einem bildhauerischen Ansatz verbindet. Seit Anfang der 2000er Jahre entwickelt die Künstlerin Videoarbeiten, die auf partizipativen Performances basieren und immer derselben formalen Grundstruktur folgen: Die Künstlerin engagiert eine Gruppe von Arbeiter*innen desselben Gewerbes als Laiendarsteller*innen und gibt ihnen einfache Handlungsanweisungen, die sich zwar an ihren alltäglichen Arbeitsabläufen orientieren, sich aber deutlich von ihrer gewohnten Funktionslogik abheben. Gewohnte Handlungsmuster, Abläufe und Ordnungen werden gestört und vertraute und etablierte Sicht- und Verhaltensweisen unseres gesellschaftlichen Miteinanders, wie wir die Welt sehen, unsere Rolle darin begreifen und in ihr agieren, infrage gestellt.
In 475 volver (2009) zum Beispiel steuert ein Bauarbeiter einen Bagger in Form des Unendlichkeitszeichens kontinuierlich über eine offene Erdfläche, schaufelt Erde auf, um sie hinter sich wieder abzuwerfen. Und in Leitmotiv (2011) wies Cinthia Marcelle eine Gruppe von Reinigungskräften an, Wasser so zu wischen, dass sich ein Wasserstrudel bildet – nur wenn alle mit geeinten Kräften wischen, kann das Wasser in der Mitte als Strudel gehalten werden. Die Aktion wird zur Metapher für ein demokratisches Gesellschaftssystem, in dem alle gleichgestellt sind, für dessen Funktionieren aber alle auch gleichermaßen verantwortlich sind – ein Gesellschaftsgefüge, das durch seinen Zusammenhalt stark, aber in seiner Stabilität fragil ist, da es ständig gefördert werden muss.
In den 1960er Jahren wendete sich eine junge Generation von Choreograf*innen in den USA gegen den zu der Zeit etablierten, illusionistischen Charakter und die formal stilisierten Techniken des modernen Tanzes. Sie bezogen stattdessen Bewegungen und Posen des Alltags sowie routinierte Bewegungsabläufe industrieller Arbeit in den Tanz mit ein. Sie improvisierten mit diesen Bewegungen oder strukturierten sie anhand von spielerischen Aufgaben und Mustern. Durch die Verwendung von Elementen aus dem täglichen Leben sollte einerseits eine zugänglichere und gleichberechtigtere Form des Kunstschaffens angestrebt werden. Andererseits sollte der Blick auf die Tätigkeiten in ihrem alltäglichen Kontext und dessen Bedingungen geworfen werden und so eine veränderte Sichtweise der Betrachtenden auf ihre eigenen Tätigkeiten und die Gesellschaft, in der sie lebten, auslösen. In diesem künstlerischen und gesellschaftskritischen Ansatz sowie der gewählten postminimalistischen und prozessorientierten Formensprache lassen sich deutliche Parallelen zu der Arbeit von Cinthia Marcelle erkennen. Sowohl Marcelle als auch die Avantgardekünstler*innen der postmodernen Tanz- und Performancepraxis stellen in improvisatorisch choreografierten, alltäglichen Bewegungsabläufen und kollaborativ-partizipativ gestalteten Situationen eingefahrene Routinen des sozialen Miteinanders und eine moderne Leistungslogik zur Disposition.
Bruce Nauman nutzt in Dance or Exercise on the Perimeter of a Square (Square Dance) (1967–1968) seinen Körper, um Raum und Zeit zu kartieren und verbindet so minimalistische Formalität mit der ephemeren Architektur mechanischer Körpergesten, inspiriert von repetitiven Bewegungsabläufen der industriellen Arbeit. Suzanne Harris zeigt in Diarytic Life in the Day of My Hands (1974) ihren Tagesablauf anhand der routinierten Bewegungen ihrer Hand – trinkend, schreibend, Dinge öffnend, abwaschend, ein Loch bohrend, im Schlaf usw. Auch bei der Schlüsselfigur des post-minimalistischen und postmodernen Tanzes Yvonne Rainer werden die Hände zu Akteurinnen*innen. Als Teil ihrer ersten Serie gefilmter choreografischen Übungen Five Easy Pieces (1966-69) löst sie ihre eigene Hand aus ihrem Kontext, wie ein tanzender Körper, der eine Abfolge von Bewegungen durchläuft und so einen sinnlichen Tanz vollführt. In der Kunsthalle Mainz werden die Videoarbeiten in einer zeitlich getakteten Choreografie neben und nacheinander gezeigt, um die zeitliche Dimension des Prozesshaften sowie den Aufführungscharakter einer jeden Performance zu betonen.
Die prozessorientierten, historischen Videoperformances von Harris, Nauman und Rainer werden um eine partizipative, skulpturale Arbeit von Charlotte Posenske ergänzt. Posenenskes Schaffen wurzelt ebenso im Minimalismus, bricht mit diesem jedoch durch einen partizipativen Ansatz und ist so verwandt mit einer sozialen und institutionskritischen Praxis. Die hier gezeigte Arbeit Vier-kantrohre Serie DW (1967) besteht aus einem Set von vier Form-Elementen, die beliebig miteinander kombinierbar sind. Wie diese miteinander kombiniert werden, um eine Form zu schaffen, ist jeweils das Ergebnis des Entscheidungsprozesses der Personen, die es gemeinschaftlich installieren. Die Essenz des entmaterialisierten Kunstwerks liegt im prozesshaften und partizipativen Aushandlungsprozess seiner temporär materiellen Form.
Die Form der Arbeit in der Ausstellung in der Kunsthalle Mainz verändert sich monatlich und ist das Resultat von Workshops mit verschieden Personengruppen, wie Studierenden der Kunsthochschule Mainz oder Kindern und Jugendlichen von Partnerschulen. Indem Posenenske ihre künstlerische Praxis bewusst auf einen partizipativen Arbeitsprozess ausrichtete, unterstrich sie das emanzipatorische und demokratische Potenzial ihrer Praxis. In diesem Sinne bildet sie konzeptuell wie formal eine Verbindung zwischen der Arbeit der Künstler*innen der postmodernen Tanz- und Performancepraxis der 1960er-Jahre und jener der zeitgenössischen Künstlerin Cinthia Marcelle.
Bodies in Motion – Form in the Making wird von Anna Roberta Goetz kuratiert.