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Uriel Orlow - Conversing with Leaves

29/11/19-23/02/20

(lifePR) (Mainz, )
In der Kunsthalle Mainz spannt der Künstler Uriel Orlow multimedial einen weiten Kosmos auf, in dem Pflanzen als historische Akteure Zeugenschaft ablegen. Umbenannt, angebaut, mitgebracht von fernen Orten weisen sie auf die kolonialen Bestrebungen der europäischen Großmächte hin und verbinden so Geschichte mit der Gegenwart.

Die Werkgruppe Grey, Green, Gold besteht aus einer großformatigen Fotografie und Diaprojektionen von Textfragmenten und Händen. Die Aufnahme entstand im Hof des Maximum Security Prison auf der Insel Robben Island. In diesem Gefängnis saß Nelson Mandela in der Abteilung für politische Gefangene von 1964 bis 1982 seine Haftstrafe gemeinsam mit anderen politischen Aktivisten*innen ab. Der von ihm mitbegründete Garten in ebenjenem Innenhof hatte eine besondere Bedeutung für die dortigen Insassen*innen. Hier konnten sie Gemüse anbauen und Ablenkung finden. Nelson Mandela vergrub dort zudem in leeren Dosen das Manuskript seiner Biografie „Der lange Weg zur Freiheit“, die 1994 veröffentlicht wurde.
Fast zeitgleich zu Mandelas Zeit in Gefangenschaft unternahm man im nationalen botanischen Garten von Südafrika den Versuch, eine dort aufgetauchte Mutation der Kranichblume mit gelben Blüten zu kultivieren. Mit der Ernennung Mandelas zum Präsidenten Südafrikas im Jahr 1994 wurde ihm zu Ehren die neue Art in „Mandelas Gold“ umbenannt. Die Fotografie und die projizierten fragmentarischen Textstücke, die u.a. Mandelas Biografie entstammen, bringen diese historisch parallellaufenden Erzählungen zusammen.

Großformatige Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen entlang der rechten Wand der Halle Bäume, mal aus nächster Nähe, ein anderes Mal aus einiger Distanz. Die fünfteilige Serie The Memory of Trees zeigt sie als stille Zeugen der Geschichte, die seit Jahrhunderten auch das Stadtbild prägen. Uriel Orlow nutzt die Bäume als Stellvertreter einer Erzählung über die koloniale Vergangenheit der beiden Orte Johannesburg und Kapstadt.

Wilder Mandelbaum, Kapstadt
Gepflanzt wurde der wilde Mandelbaum 1660 von den ersten niederländischen Siedlern, die sich in Kapstadt niederließen. In Reihen gesetzt sollten die Mandelbäume eine Barriere bilden, um die indigene Volksgruppe der Khoikhoi und ihr Vieh aus dem Garten der Siedler fernhalten, der zur Verpflegung der Kompanie diente. Uriel Orlow wählt eine Perspektive, die die vielen krummen Äste des Baumes und das dichte Blätterwerk aus nächster Nähe zeigen.

Der Werkkomplex Wishing Trees besteht aus einer 8-Kanal-Videoinstallation, die sich über mehrere Leinwände und Bildschirme erstreckt, die die Geschichten um zwei sizilianische Bäume lose zusammenbringt und eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart der Insel schlägt. Entstanden ist die Werkgruppe, die Uriel Orlow erstmalig bei seinen botanischen Recherchen nach Europa führte, als Auftragsarbeit für die Manifesta 12 in Palermo.

Der Legende nach ist eine 440 Jahre alte Zypresse, die auf eine der beiden großen Leinwände projiziert wird, aus dem Stab von Benedetto Manasseri hervorgegangen und wächst seitdem am Stadtrand Palermos. Manasseri lebte im 16. Jahrhundert auf Sizilien und war der Sohn ehemaliger äthiopischer Sklaven. Mit seinem Eintritt in das Kloster Monte Pellegrino, entdeckte er dort seine Passion für das Kochen.

Der zweite Baum, ein ausladender Ficus Macrophylla, steht im Zentrum von Palermo an einer belebten Straße und ist ein Ableger eines Ficus, der in der ehemaligen Residenz des Ermittlungsrichters und Staatsanwaltes Giovanni Falcone und seiner Frau Francesca Morvillo wächst. Das Ehepaar wurde 1992 von der Mafia brutal ermordet. Der Tod von Falcone und Morvillo sowie wenig später des italienischen Richters Paolo Borsellino führte dazu, dass sich Frauen zu einer Widerstandsbewegung gegen die Mafia auf Sizilien formierten.

Auf den Bildschirmen entlang der Längswände kommen diverse Protagonisten*innen zu Wort. Die Anti-Mafia-Aktivistin Simona Mafai sowie drei junge Migranten aus dem Senegal und Gambia, die als Köche in Moltivolti, einem sozialen Unternehmen im Stadtteil Ballarò in Palermo arbeiten, tragen die Geschichten der Bäume in die Gegenwart weiter und verbinden sie mit ihren eigenen Wünschen und Hoffnungen.

Ausgangspunkt der multimedialen Installation Soil Affinities ist der Pariser Vorort Aubervilliers. Im 19. Jahrhundert mussten die Kleingärten der örtlichen Bevölkerung nach und nach neuen Fabriken weichen, die sich damals im Zuge der Industrialisierung zunehmend auf die Vororte der Hauptstadt ausweiteten. Zeitgleich zu dieser lokalen Entwicklung teilten die europäischen Kolonialmächte auf der sogenannten „Berlin Konferenz“ von 1899 den afrikanischen Kontinent unter sich auf.
In diesem Zuge ließ das französische Kolonialministerium einen Versuchsgarten in Bois de Vincennes, Paris anlegen. Von diesem „jardin colonial“ aus wurden in speziellen Kisten, genannt „Ward-Kisten“, Anbaupflanzen nach Westafrika verschifft und neue Pflanzenarten nach Europa eingeführt. Auf großflächigen Plantagen wurden so in den Kolonien nebst den sogenannten Nutzpflanzen wie Kakao oder Erdnuss auch europäische Grundnahrungsmittel wie etwa Tomaten, Paprika, grüne Bohnen, Zwiebeln oder Kohl für die dortige wachsende Anzahl der französischen Bevölkerung angebaut. Nach der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1960 übernahmen private Firmen die Anbauflächen und -methoden und liefern bis heute für den Rungis, einen der größten Großhandelsmärkte in Europa, etwas außerhalb von Paris gelegen, weiter europäische Grundnahrungsmittel aus Afrika. In Anlehnung an die „Ward-Kisten” stehen elf Kisten in der großen Halle, die allerdings keine Pflanzen beinhalten. In Form von Filmen, Fotografien, aber auch Erde werden die Verbindungen von Pflanzen und Menschen über verschiedene Regionen und Zeiten hinweg dokumentiert. Zusammengetragen wurden die nichtlinearen Zeugnisse von Uriel Orlow in Frankreich und dem Senegal. Orlows umfangreiche Recherche stellt so unter anderem zur Debatte, inwiefern Pflanzen zu einem Mittel werden können, um historische und gegenwärtige koloniale Verbindungen und Abhängigkeiten abzubilden.

In Turmebene I werden drei Videoarbeiten des Künstlers im Loop projiziert. Sie alle thematisieren „Muthi“, die traditionelle Pflanzenmedizin Südafrikas. Das Vertrauen in die spirituellen und heilenden Eigenschaften von „Muthi“ überdauerte die Verdrängungsversuche der Kolonialmächte. Noch heute setzen etwa sechzig Prozent der südafrikanischen Bevölkerung die pflanzenbasierten Heilpraktiken ein. Inzwischen ist „Muthi“ zum Trend geworden, auf den auch die westliche Pharma- und Nahrungsergänzungsmittelindustrie aufgesprungen ist. Die traditionsreichen spirituellen Ursprünge der Arznei sind dabei jedoch in Gefahr vergessen zu werden und „Muthi“ zur kommerzialisierten Ware verkommen zu lassen.
Wir sehen wie „Muthi“ geerntet und verkauft wird (Muthi), einen nachgestellten Gerichtsprozess um den südafrikanischen Heiler Mafavuke Ngcobo (The Crown against Mafavuke) sowie den experimentellen Dokumentarfilm Imbizo Ka Mafavuke (Mafavukes Tribunal), der Mafafukes Tribunal mittels eines Reenactments in die Gegenwart holt.

Bereits im Treppenhaus hört man leise Stimmen murmeln, die aus der Turmebene II dringen. Sie stammen von einem Chor, der sich aus Sprecher*innen zusammensetzt, die in den afrikanischen Sprachen Khoi, SePedi, SeSotho, SiSwati, SeTswana, xiTsonga, isiXhosa and isiZulu Pflanzen bei ihren volkstümlichen Namen nennen und ihr jahrhundertealtes Wissen vereinen.

Pflanzen finden sich auch an den Wänden der Turmebene II in Form von projizierten Acetat-Drucken wieder. Wie Echos der Vergangenheit, die langsam verblassen und in Vergessenheit zu geraten drohen, stimmen die verblassten Aufnahmen der Blätter und Blüten in den Chor ein. Sie sind Abdrucke der von Botaniker*innen gesammelten und getrockneten Pflanzen aus Herbarien, wo sie im Laufe der Zeit Abdrücke auf den Deckblättern hinterlassen haben.

In der Turmebene III ist die multimediale Arbeit Learning from Plants (Artemisia Afra) ausgestellt, die erstmals 2019 auf der Lubumbashi Biennale/Kongo gezeigt wurde. Zu sehen sind zwei Videoarbeiten. Außerdem sind die Besucher*innen eingeladen, einen Aufguss der Artemisia-Pflanze zu probieren. Sie gilt als pflanzliches Heilmittel gegen Malaria. In dem ersten Video wird ihr Anbau in einem kleinen Garten in der Nähe der Stadt Lumata durch ein Kollektiv von Frauen gezeigt.
Parallel dazu singen in dem anderen Video zwei Männer auf Lingala und Swahili, einer von ihnen spielt dazu Gitarre, der zweite gibt den Takt durch Trommeln mit einem Messer vor. Das Orchester Jeunes Étoiles des Astres besingt die Wirkung der Pflanze und den Umgang mit natürlichen Ressourcen, die häufig zugunsten von Profitgier ausgebeutet werden.
Laut WHO leben 40% der Weltbevölkerung in Malaria-Epidemiegebieten. Rund 250 Millionen Menschen erkranken jährlich. Übertragen wird die Krankheit durch einen Parasiten, der zunehmend eine Resistenz gegenüber synthetischen Medikamenten entwickelt. Von der Weltgesundheitsorganisation wird die Verwendung und Erforschung von Artemisia Afra allerdings stark eingeschränkt.

Im Kontext der Demokratischen Republik Kongo, deren koloniale und postkoloniale Wirtschaft von verschiedenen Formen der Gewinnung (hauptsächlich von Mineralien) dominiert wurde, kann Artemisia Afra neue Möglichkeiten bieten, um unser Verhältnis zu natürlichen Ressourcen, Pflanzenheilung und Machtverhältnissen weltweit zu überdenken. Vier kleine Gemälde, die in Zusammenarbeit mit Musasa, einem lokalen Maler entstanden sind, erläutern die Anwendung des Tees.

Damit schließt sich der Kreis in Uriel Orlows weit aufgespanntem Kosmos, der Geschichte und Gegenwart, Europa und die ehemaligen Kolonien am afrikanischen Kap umfasst und diese über Pflanzen, deren Bedeutung für uns Menschen und deren Verbreitung in der Welt in einen Dialog bringt. Als stille Zeugen wird in ihrem Schatten Geschichte geschrieben und das Wissen um ihre heilenden Wirkungen zu einem teuren Gut, das alte Konflikte wiederaufflammen lässt und die bis heute spürbaren Auswirkungen der Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents sichtbar macht.

Die Ausstellung wird gefördert durch die Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur und Pro Helvetia.

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