"Für diese Menschen gibt es derzeit kein spezifisches niedrigschwelliges pflegerisches oder soziales Versorgungskonzept", kritisieren auch Derya Wrobel und Georg Steinhoff vom Berliner IdeM-Projekt in PRO ALTER. IdeM steht für "Informationszentrum für demenziell und psychisch erkrankte sowie geistig behinderte Migranten und ihre Angehörigen" und bietet allen zu dieser Zielgruppe gehörenden Personen Auskunft, Beratung und Unterstützung. Es stellt damit eine der wenigen in Deutschland existierenden Initiativen dar, die sich schwerpunktmäßig dem Thema "Migration und Demenz" widmen. "Die Lebenssituation demenziell erkrankter Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik muss immer noch als nahezu unerforscht gelten", so Wrobel und Steinhoff weiter.
Migrantinnen und Migranten altern früher
Es ist nicht nur längst Zeit zu handeln, weil die erste Generation von Migranten bereits längst 70 Jahre und älter ist, sondern auch, weil alle Forschungsergebnisse hinsichtlich ihrer Alterungsprozesse eine Besonderheit zeigen: Auf Grund ihrer Biografie und ihrer oft im Vergleich zu Deutschen schlechteren Arbeits- und Lebensbedingungen setzen diese zirka fünf bis zehn Jahre früher ein als bei der deutschen Altersbevölkerung. Eine Tendenz, die auch Georg Steinhoff gegenüber PRO ALTER bestätigt: "Das Durchschnittsalter der von uns erfassten demenziell erkrankten Klientinnen und Klienten lag am Anfang unserer Beratungstätigkeit bei 58,4 Jahren, wobei noch zu berücksichtigen ist, dass sich erste Auffälligkeiten oft schon viel früher zeigten."
Reinhard Streibel von der Arbeiterwohlfahrt - Bezirk Westliches Westfalen e.V. und der dort eingerichteten Fachstelle für an Demenz erkrankte Migrantinnen und Migranten und deren Angehörige geht davon aus, dass bereits jetzt rein rechnerisch bundesweit rund 120.000 demenziell erkrankte Menschen mit Migrantionshintergrund der Hilfe, Versorgung und Unterstützung bedürfen.
"Auf diese Situation sind jedoch weder die Institutionen der Altenhilfe oder des Gesundheitswesens noch die Migrantenfamilien, in denen ein Großteil der Pflege geleistet wird, vorbereitet", sagt Simone Helck vom Forum für eine kultursensible Altenhilfe beim KDA.
"Alzheimer ist eine Strafe Allahs"
Der erste und wichtigste Schritt, um vor allem die betroffenen Familien zu erreichen, sei Information und Aufklärung, heißt es in dem KDA-Magazin. In Übereinstimmung mit dem Nationalen Integrationsplan erklärt auch Bedia Torun von der Gelsenkirchener Fachstelle für an Demenz erkrankte Migrantinnen und Migranten und deren Angehörige: "Wir müssen gegen viele Vorurteile angehen. In der türkischen Gesellschaft, und schließlich gehören die Türken mit 1,9 Millionen Menschen zur größten Migrantengruppe in Deutschland, gelten demenziell Erkrankte vielfach als verrückt, man nimmt an, die Krankheit sei ansteckend oder vererblich und man müsse diese Menschen verstecken und sich für sie schämen." Torun habe mehrfach erlebt, wie die Islamgelehrten, die Hodschas, erklärt hätten, Alzheimer sei eine Strafe Allahs.
Begutachtungs- und Diagnoseverfahren müssen überarbeitet werden
Hätten sich dann die betroffenen Familien einmal zu der Erkrankung bekannt, tauche oft das nächste Problem auf, ist in PRO ALTER zu lesen. Die hier gängigen und sehr sprachlastigen Diagnose- und Begutachtungsmöglichkeiten zur Erkennung einer Demenz und zur Bestimmung des Pflegebedürftigkeitsgrades stoßen bei Migrantinnen und Migranten auf Grund von Sprach- und Kommunikationsproblemen sehr schnell an ihre Grenzen.
Auch diese Tatsache hat der Nationale Integrationsplan aufgegriffen, in dem es dazu heißt: "Die derzeitigen Begutachtungsverfahren sind zum Teil für die Begutachtung von Migrantinnen und Migranten ungeeignet."
Unter anderem kommen die rund 90 Teilnehmenden des zweiten Integrationsgipfels, die den Integrationsplan verabschiedet haben, zu dem Schluss, dass die Anliegen älterer Migrantinnen und Migranten erst sukzessive wahrgenommen würden und insgesamt im Altenhilfesystem einer intensiveren Berücksichtigung bedürften.
PRO ALTER stellt auch hier schon - neben den bereits genannten Initiativen in Berlin und Gelsenkirchen - erste hoffnungsvolle Ansätze vor. So zum Beispiel das Projekt "TRAKULA", das für "Transkulturelles Assessment mentaler Leistungen" steht und ein Diagnoseverfahren ist, bei dem überwiegend auf sprachliche Komponenten verzichtet wurde und das vor allem mit Bildern arbeitet. "Das 15 bis 20 Minuten dauernde Verfahren ist vielversprechend und wird derzeit schon in unserer Klinik erfolgreich für türkische Patienten eingesetzt und soll demnächst auch an der Universitätsklinik in Witten-Herdecke angewendet werden", sagt Professor Josef Kessler, Neuropsychologe an der Kölner Uniklinik. Derzeit wird TRAKULA für russischsprachige Personen aufbereitet, geplant seien aber auch Versionen für Italiener und Griechen, so Kessler weiter.
Mit einem ganz anderen, aber ebenfalls vielversprechenden Ansatz arbeit die Sozialpädagogin Elfriede Lindner, die auch in PRO ALTER zu Wort kommt. Sie gibt in dem Magazin einen Überblick, wie man durch kulturell gestaltete Feste ältere Menschen mit Migrationshintergrund besser in einem für sie oft ungewohnten "deutschen" Pflege- und Wohnumfeld oder in die Seniorenarbeit einbinden kann. "Feier- und Festtage bieten die Möglichkeit, Zugang zu Menschen zu finden, deren Sprache oft nicht verstanden wird. Mit ihrer Hilfe können Erinnerungen und Freude geweckt werden." Ein anderes interessantes, in PRO ALTER vorgestelltes Beispiel kommt aus der Schweiz: Eine Züricher Pflegewohnung für demenziell erkrankte Migrantinnen und Migranten aus dem Mittelmeeraum.