Die Stimmung an den Börsen hat sich zuletzt sichtbar abgekühlt. Auf den ersten Blick scheinen immer weitere Meldungen über eine Zuspitzung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine die Risikoneigung der Anleger spürbar zu verringern. Die Ursachen liegen u.E. aber tiefer: Trotz zum Teil deutlich gestiegener konjunktureller Frühindikatoren bleiben die Unternehmensgewinne schon seit geraumer Zeit hinter den Erwartungen zurück. Die Schätzungen für die Nettoergebnisse der kommenden 12 Monaten werden daher weiterhin mehrheitlich nach unten korrigiert. Gleichzeitig sind Aktien auf Basis der wichtigsten Kennziffern höher bewertet als in vergleichbaren früheren Zyklen. Das Kurspotenzial bei Aktien scheint somit ausgereizt zu sein. Es überwiegen derzeit sogar die Kursrisiken. Sollten Anleger in diesem Jahr also der alten Börsenweisheit "Sell in May and go away" folgen und sich für die nächsten Monate von Aktien verabschieden?
Rückrechnungen bis zum Jahr 1970 zeigen bei einer Reihe von Aktienmärkten für den Zeitraum von Mai bis Oktober eine signifikant niedrigere Performance als für die Phase von November bis April. Ein erfolgversprechender Ansatz könnte somit sein, zu Beginn der saisonalen Schwächephase von Aktien in Geldmarktanlagen umzuschichten. Die Anwendung einer vergleichbaren Strategie, die im Sechsmonatsrhythmus von Aktien in Liquidität umschichtet, taucht erstmals 1986 im "Stock Trader's Almanac" auf. Die Rückrechnung dieser Strategie bis Januar 1990 kann daher durchaus als Realitätstest verstanden werden.
Die Ergebnisse fallen dabei sehr unterschiedlich aus: Während sich beim DAX die Wechselstrategie über den Gesamtzeitraum betrachtet voll ausgezahlt hätte, ist der Unterschied zwischen "Sell in May"- und "Buy and Hold"-Strategie beim Dow Jones Industrials relativ gering ausgeprägt. Damit ist am US-Aktienmarkt ein Ergebnis zu beobachten, das aufgrund der zunehmenden Verbreitung des Wissens um Saisonalitäten eher den Erwartungen entspricht. Die markante Outperformance der Saisonstrategie beim DAX ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass hierdurch die gerade hierzulande dramatischen Kursverluste während der Baisse in den Jahren 1990, 2000 bis 2002 und zum Höhepunkt der Finanzkrise im Jahr 2008 sowie im Zuge der Euro- Staatsschuldenkrise 2011 zu einem großen Teil vermieden werden konnten. In Haussephasen lieferte allerdings "Buy and Hold" einen sichtbar höheren Ertrag als die Timingstrategie. Der wesentliche Vorteil der Saisonstrategie besteht somit in der Verlustbegrenzung.
Saisonales Timing ist also kein Allheilmittel und sollte daher nie die alleinige Grundlage für Anlageentscheidungen sein. Wenn aber - wie in diesem Jahr - auch eine Reihe fundamentaler Argumente für eine vorsichtigere Positionierung bei Aktien sprechen, erscheint es durchaus sinnvoll, zumindest einen Teil des Vermögens von Aktien in Geldmarktanlagen umzuschichten. Zwar ist damit im gegenwärtigen Niedrigzinsumfeld kaum Rendite zu erzielen. Immerhin ist aber der Nominalkapitalerhalt gewährleistet.