Das Referendum in Griechenland hat zu einem überraschend klaren Votum geführt: über 60 % der Wähler haben sich mit "Nein" gegen die Spar- und Reformauflagen ausgesprochen. Das Ergebnis der Abstimmung ist zwar nicht bindend und bezog sich formal ohnehin auf einen Verhandlungsvorschlag, der mit dem Auslaufen des zweiten Rettungsprogramms Ende Juni in dieser Form gar nicht mehr zur Diskussion stand. Die griechische Bevölkerung hat sich mit diesem Abstimmungsergebnis aber deutlich hinter ihre Regierung gestellt und damit - wie von dieser beabsichtigt - deren Verhandlungsposition gestärkt. Mit Neuwahlen, die bei einem anderen Ausgang der Abstimmung nicht auszuschließen gewesen wären, ist daher zumindest auf kurze Frist nicht zu rechnen. Wie viele Umfragen belegen, hat sich die griechische Bevölkerung aber nicht für einen Austritt aus dem Euroraum ausgesprochen. Das Ergebnis des Referendums dürfte die Verhandlungen nicht einfacher machen. Sie sollen schon am Dienstag auf einem europäischen Gipfeltreffen der Finanzminister und Regierungschefs wieder aufgenommen werden. Trotz des für ihn erfreulichen Ausgangs der Abstimmung ist Finanzminister Varoufakis zurückgetreten - zumindest ein positiver Aspekt für den Fortgang der Verhandlungen.
Die Ausgangssituation für neue Verhandlungen der griechischen Regierung mit den europäischen Partnern und den Gläubigerinstitutionen ist - unabhängig vom Ausgang des Referendums - nun eine völlig andere. Mit dem Ende des zweiten Rettungspakets sind auch alle noch nicht ausgezahlten Gelder aus diesem Programm verfallen. Weitere Hilfen für Griechenland müssten nun im Rahmen eines neuen, dritten Rettungsprogramms im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM ausgehandelt werden. Nach dem entsprechenden Regelwerk ist dies weiterhin nur auf Basis von Reformzusagen möglich und erfordert die Zustimmung der anderen Mitgliedsländer. Auch ist Griechenland seit letzter Woche gegenüber dem IWF in Zahlungsverzug, da eine fällige Zahlung nicht bedient wurde. Bleibt die Rückzahlung dieser Gelder aus, ist eine Beteiligung des IWF an zusätzlichen Hilfen sehr unwahrscheinlich. Auch der Rettungsfonds EFSF stuft Griechenland bereits als "Zahlungsausfall" ein.
Selbst bei Wiederaufnahme der Gespräche ist eine schnelle Lösung nicht in Sicht, die von Ministerpräsident Tsipras erhoffte Einigung mit den Gläubigern "innerhalb von 48 h" erscheint unrealistisch. Dabei sind das Land und vor allem die Banken angesichts der dramatischen Situation dringend auf zusätzliche Gelder angewiesen. Schon am heutigen Montag könnte den Banken die Liquidität ausgehen - das Abheben von zuletzt täglich 60 Euro an den Bankautomaten wäre dann nicht mehr möglich. Die EZB wird heute erneut über die Notfallliquidität für die griechischen Banken entscheiden. Wir gehen davon aus, dass diese zunächst in unveränderter Höhe aufrechterhalten wird. Die geplante Öffnung der Banken am Dienstag ist unter diesen Umständen nicht möglich. Angesichts zunehmender Hamsterkäufe könnte sich die Versorgungslage der Bevölkerung in den kommenden Tagen verschlechtern.
Neben den Entscheidungen der EZB über die Liquiditätsversorgung der Banken, die vermutlich im Tagesrhythmus erfolgt, und dem europäischen Krisengipfel voraussichtlich am Dienstag sind die nächsten kritischen Termine die anstehenden Fälligkeiten: 2 Mrd. Euro Geldmarktpapiere am 10. Juli und 3,5 Mrd. Euro Staatsanleihen am 20. Juli an die EZB. Spätestens eine Nicht- Rückzahlung dieser Schulden müsste die EZB zu einer Streichung der Notfall-Liquidität bewegen. Die griechische Regierung wäre dann zur Einführung von Schuldscheinen gezwungen, um den Zahlungsverkehr aufrecht zu erhalten. Der Weg in den Grexit wäre vorgezeichnet.
Die von uns bereits im Wochenausblick vom 19. Juni skizzierten Griechenland-Szenarien haben weiterhin Bestand, mit dem Ausgang des Referendums passen wir allerdings die Wahrscheinlichkeiten erneut an. Die Grexit-Szenarien erhalten eine noch höhere Wahrscheinlichkeit, das Szenario "Hängepartie" hat aber weiter seine Berechtigung. Im Szenario "geordneter Grexit" (Eintrittswahrscheinlichkeit 50 %) erklärt das Land seine Zahlungsunfähigkeit und willigt ein, die Währungsunion zu verlassen. Als "Kompensation" wird ein Verbleib in der EU angeboten. Nach den aktuellen Verträgen kann ein Land nur freiwillig aus der EU ausscheiden. Die griechischen Banken werden weiter gestützt. Für eine Übergangsphase würden vermutlich eine neue Währung und der Euro parallel geführt. Im Land kommt es zu erheblichen Anpassungen (starke Abwertung der neuen Währung, hohe Inflation), die aber durch die fortgesetzte Unterstützung der europäischen Partner abgefedert werden können. Die Effekte auf den Rest der Währungsunion bleiben begrenzt.
Im Szenario "ungeordneter Grexit" (15 %) stellt sich Griechenland dauerhaft gegen die Eurozone. Das Bankensystem kollabiert, die Wirtschaft bricht zusammen. Zu den wirtschaftlichen Unsicherheiten gesellen sich politische. Der Ost-West-Konflikt flackert wieder auf. Die Währungsunion und die Integration Europas werden in Frage gestellt.
Trotz der ablehnenden Haltung der griechischen Wähler gegenüber Konsolidierung und Reformen ist die Tür für Verhandlungen grundsätzlich noch offen - die "Hängepartie" geht weiter. Griechenland zeigt doch noch ein gewisses Entgegenkommen, ein zumindest vorläufiger Kompromiss wird gefunden. Die Verhandlungspartner finden einen Weg, kurzfristig neue Auszahlungen zu leisten, die einmal mehr für einige Wochen oder Monate Zeit verschaffen. Die EZB versorgt die griechischen Banken wieder mit ausreichend Notfallliquidität. Diesem Szenarium räumen wir derzeit eine Wahrscheinlichkeit von 30 % ein. Für unser letztes Szenario bleibt es bei einer sehr geringen "Rest"-Wahrscheinlichkeit von nur 5 %. Hier schlägt eine neue griechische Regierung nach Neuwahlen einen echten "Reformkurs" ein.