Darüber hinaus führt der wirtschaftspolitische Kurs der Regierung, die im Parlament die Zwei-Drittel-Mehrheit hat, aufgrund mangelnder Vorhersehbarkeit immer wieder zu medialer Unruhe und Schwankungen an den Kapitalmärkten. Für negative Überraschungen sorgten etwa das äußerst umstrittene Mediengesetz, die nationalkonservative Neuausrichtung der ab 2012 geltenden Verfassung, sektorale Sondersteuern und Eingriffe in das Rentensystem. Zusammen ergibt dies ein Mosaik, bei dem allenthalben die Stärkung der aktuellen Regierung unter Ministerpräsident Orban durchscheint. Die angestrebten intensiveren Kontakte zu Ländern wie China und Russland unterstreichen dies. Einmischung von außen wird vehement abgewehrt, auch wenn Orban versichert, die Zielvorgaben der EU für die öffentlichen Finanzen einhalten zu wollen.
Als Hauptprobleme hat die ungarische Regierung - nicht zu Unrecht angesichts der europäischen Schuldenkrise - die Staatsverschuldung ausgemacht, die die Handlungsfähigkeit des Souveräns beeinträchtigt, und die Verschuldung im Ausland, die die Kreditnehmer abhängig macht von der Währungsentwicklung. Orban hat daher bereits im März den Schulden "den Krieg erklärt". Schnelle und dennoch nachhaltige Fortschritte beim Schuldenabbau sind angesichts des schwachen Wachstums und der hohen Arbeitslosigkeit (10,7 % im September) jedoch nicht zu erwarten.
Überschuss durch Eingriff in Rentensystem
Beim Abbau des Budgetdefizits (2010: 4,2 % des BIP) zeigt sich die Regierung kreativ, die Budgetplanungen weisen für 2011 sogar einen leichten Überschuss aus. Allerdings wird der Haushaltssaldo 2011 vorrangig ein Ergebnis von Sondereffekten sein, die zusammen eine Größenordnung von netto rund 8 % des BIP erreichen. Dazu zählen Umstellungen im Pensionssystem und sektorale Krisensteuern. Die Eingliederung der privaten Rentensäule in das staatliche System ist dabei im Sinne der Nachhaltigkeit besonders zu kritisieren, denn so werden die Haushaltsprobleme in die Zukunft verschoben, statt das Alterssicherungssystem auf stabile Füße zu stellen. Bereits 2012 ist nach dem Auslaufen der genannten Effekte wieder mit einem Defizit zu rechnen. Denn der sogenannte Szell-Kalman-Plan vom Frühjahr 2011, der durch strukturelle Reformen das Wachstum vorantreiben und die öffentliche Verschuldung senken soll, bleibt z.T. wenig konkret.
Dieser Plan setzt v.a. bei den Ausgaben an und enthält Maßnahmen, die 2012 und 2013 insgesamt zu einer Haushaltskonsolidierung in Höhe von knapp 3 % des BIP führen sollen. Erreicht werden soll dies etwa durch eine höhere Beschäftigungsquote, die derzeit noch mit rund 60 % insgesamt und 55 % bei den Frauen eine der niedrigsten in der EU ist. Dazu sollen z.B. die Regelungen zur Früh- und Berufsunfähigkeitsrente verschärft werden. Der IWF begrüßt den Plan grundsätzlich als einen Schritt in die richtige Richtung, bemängelt aber die fehlende Konkretisierung in einigen Bereichen. Steigerungen auf der Einnahmeseite werden laut Plan z.B. erreicht, indem von der ursprünglich geplanten Reduzierung der Körperschaftsteuer und der Bankensteuer vorerst abgesehen wird. Auch die Einführung eines neuen elektronischen Fernstraßen-Mautsystems und die Anhebung von Verbrauchsteuern sollen für Mehreinnahmen sorgen. Vor den Parlamentswahlen im April 2014 dürfte die Konsolidierung dann wieder mehr in den Hintergrund rücken.
Euro auf Eis
Auffällig ist, dass sich manche der Konsolidierungsmaßnahmen vor allem bei ausländischen Unternehmen bemerkbar machen, wie die Sondersteuern für Telekommunikations- und Einzelhandelsunternehmen sowie für Banken. Ausgenommen sind allerdings ausländische Unternehmen, die in Ungarn Arbeitsplätze im Verarbeitenden Gewerbe schaffen, wovon insbesondere die Kfz-Industrie profitiert. Zu diesem an nationalen Interessen ausgerichteten Kurs passt, dass Ungarn seine Pläne zur Euro-Einführung auf Eis gelegt hat. Vor 2020 erscheint eine Euro-Einführung derzeit nicht realistisch.
Allerdings ist die Euro-Euphorie auch bei anderen zentraleuropäischen EU-Ländern inzwischen spürbar abgekühlt. Dies mag an der Schuldenkrise liegen. Aber auch das Leitzinsniveau in der Eurozone wäre für einige dieser Länder derzeit viel zu niedrig. Indem sie ihre geldpolitischen Instrumente autonom nutzen können, ist es für die Länder in der Euro-Warteschleife einfacher, auf die Inflation und Bewegungen an den Devisenmärkten zu reagieren. So wurde der ungarische Leitzins von November 2010 bis Januar 2011 um insgesamt 75 Basispunkte angehoben und liegt seither stabil bei 6 %.
Leitzins: schwieriger Balanceakt
Aus konjunktureller Sicht wäre eine stärker akkommodierende Geldpolitik zu begrüßen, wie der Ministerpräsident mehr als einmal klar gemacht hat. Mit Zinssenkungen tut sich die Nationalbank jedoch schwer. Denn der Inflationsrückgang erfolgt nur zögerlich: Das Zentralbankziel von 3 % +/- 1 Prozentpunkt wurde bis zum Frühjahr deutlich überschritten, im September lag die Teuerung noch bei 3,6 %. Hier machen sich die gestiegenen Energie- und Nahrungsmittelpreise bemerkbar. Und auch die sektoralen Sondersteuern dürften ihre Spur bei der Teuerung hinterlassen. 2012 soll die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte auf 27 % angehoben werden, was wegen der schwachen Nachfrage jedoch nur bedingt inflationswirksam werden sollte. Eine lockere Geldpolitik würde aber auch die ohnehin geschwächte Währung zusätzlich belasten und über die Verteuerung der Auslandskredite die Wirtschaft weiter in Mitleidenschaft ziehen.
Der Zinsabstand zur Eurozone und die Entwicklung des Forint dürften daher weiterhin als Kriterien in die Geldpolitik einfließen. Die Zentralbank betont in ihrem Kommentar zur jüngsten Entscheidung, den Leitzins stabil zu lassen, dass die Aussichten für das BIP-Wachstum sich verschlechtert haben und sie in den nächsten zwei Jahren mit schwachem Wachstum rechnet. Sie hebt hervor, dass der Verlauf des Inflationsrückgangs unsicher ist, rechnet jedoch im Laufe des nächsten Jahres mit nachlassendem Inflationsdruck. Dies würde den Weg für niedrigere Zinsen ebnen.
Die ungarische Währung ist Ende Oktober 2011 mit rund 300 Forint/Euro wieder ihrem Rekordhoch während der Finanzkrise (317 Forint/Euro) nahegekommen. Auf kurze Sicht dürften die Fortschritte bei den wirtschaftlichen Eckdaten überlagert werden von wiederkehrenden Unsicher-heiten auf den Finanzmärkten. Im Verlauf von 2012 dürfte die Währung profitieren, wenn die Pläne zum Abbau von Defizit und Schuldenstand konsequent und nachhaltig umgesetzt werden.
Die derzeitige Schwäche des Forint bringt ein gravierendes Problem mit sich: rund 60 % der Kredite an Privatleute lauten auf Schweizer Franken. Durch den ausgeprägten Höhenflug des Franken geriet ein Teil der Kreditnehmer in Schwierigkeiten. Während Ende 2010 der Anteil der notleidenden Kredite von Unternehmen und Haushalten noch bei 11 bis 12 % lag, hält die Ungarische Zentralbank bis Ende 2011 einen Anstieg auf 14 bis 15 % für möglich.
Erleichterungen bei Fremdwährungskrediten
Die ungarische Regierung reagierte im September 2011auf diese Entwicklung mit gesetzlichen Regelungen zulasten der Banken, die Schuldnern die Rückzahlung ihrer Kredite zu einem deutlich günstigeren als dem aktuellen Wechselkurs ermöglicht. Der Eingriff in die bestehenden Verträge durch die Regierung löste international nicht nur heftige Kritik aus. Er hat auch destabilisierende Effekte auf das Bankensystem, wenn die betroffenen Banken umfangreiche Beträge abschreiben müssen, und trägt zur Verunsicherung auf den Kapitalmärkten bei. Die Ratingagenturen prüfen die Herabstufung betroffener ungarischer und ausländischer Banken.
Insgesamt zeigen damit zwar die Zahlen für Ungarn ein freundlicheres Bild als in den vergangenen Jahren, etwa bei der Leistungsbilanz, beim Haushaltsdefizit und den internationalen Währungsreserven. Die Außenverschuldung gemessen am BIP sinkt leicht, bleibt mit rund 130 % jedoch hoch. Gleichzeitig werden in Ungarn die Risiken einer überstarken Regierung eklatant. Ungarn läuft hier Gefahr, ausländische Investoren um den Preis vorübergehender vermeintlicher Vorteile zu verprellen.