"Die politische Bildungsarbeit zum Antisemitismus orientiert sich noch immer zu sehr am ,Dritten Reich' und am Holocaust", stellte Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber von der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl fest. Damit finde eine Fixierung auf besonders stark ausgeprägte und folgenreiche Formen der Judenfeindschaft statt. Zu dieser Feststellung kamen auch andere Experten und Teilnehmer der Fachtagung. Auch Prof. Dr. Albert Scherr, Leiter des Instituts für Sozialwissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, problematisierte die Holocaust-Erziehung. Verbunden mit der moralischen Botschaft einer gesellschaftlich unerwünschten Judenfeindschaft lege diese auch Denkmuster nahe, denen zufolge Juden einer Sondergruppe angehörten. Der Mannheimer Historiker Prof. Dr. Peter Steinbach warb für einen Geschichtsunterricht, der auf die Vermittlung von historischen Kenntnissen und zugleich auf gegenwartsbezogene Handlungsorientierung ausgerichtet ist. Im historisch-politischen Unterricht ließen sich Probleme des Zusammenlebens wie beispielsweise die Erfahrung von Ausgrenzung thematisieren. Es gelte, die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus als Chance zur kritischen Selbstbefragung zu begreifen.
Die Fachtagung sprach sich zugleich für gegenwartsbezogene Handlungsansätze aus, die Themen wie den Nahostkonflikt, Islamismus und auch die sich wandelnden Wahrnehmungen gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Bedingungen einbeziehen. Prof. Dr. Andreas Zick vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld stellte Forschungsergebnisse zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit vor. Der Sozialpsychologe wies auf Einstellungsveränderungen hin, die eine antisemitische Haltung befördern können - wie etwa anwachsende Bedrohungsgefühle in der Mitte der Gesellschaft oder auch das um sich greifende Misstrauen gegen Politik und Demokratie. Je höher die Bildung sei, erklärte Zick, desto schwächer sei der Antisemitismus ausgeprägt. Doch auf emotionaler Ebene verschwinde dieser Effekt. "Die gut situierten Schichten stimmen in einem immer stärkeren Maße Vorurteilen zu."
Besondere Herausforderungen ergeben sich aus den Bedingungen der Einwanderungsgesellschaft. In den heterogenen Schulklassen ist ein anderer Diskurs über Antisemitismus notwendig. "Der Nahostkonflikt dient vielen Jugendlichen als Projektionsfläche für eigene Diskriminierungserfahrungen", stellte Dr. Jochen Müller vom Berliner Verein ufuq.de fest.
Aus dem Kreis der rund 80 Multiplikatoren, die an der Fachtagung teilnahmen, wurden u. a. die folgenden Empfehlungen formuliert:
- Der Antisemitismus sollte auch in seinen aktuellen Ausprägungen stärker in den Bildungsplänen des Landes verankert werden - und dies auch in anderen Fächern als nur im Geschichteunterricht.
- Im Sinne von Vielfalt, Toleranz und Multiperspektivität geht es auf allen Ebenen der pädagogischen Arbeit darum, jüdisches Leben in Deutschland und Europa in seiner Normalität darzustellen und zu behandeln. Es geht dabei um die stärkere Erinnerung an die gemeinsame christlich-jüdische Geschichte Europas statt einer reinen Fokussierung auf jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger als "Opfergruppe".
- Die Gedenkstättenlandschaft Baden-Württembergs ist von einer besonderen Vielfalt und Dezentralität geprägt. Diese gilt es zu bewahren und zu fördern, denn die Gedenkstätten im Land sind besondere außerschulische Lernorte, an denen sich Schülerinnen und Schüler ohne Leistungsdruck mit Themen wie dem Antisemitismus auseinandersetzen können.
- Im Rahmen der politischen Bildungsarbeit ist eine nachhaltige Präventionsarbeit gegen antisemitische Einstellungen notwendig.
Hintergrundinformation:
Die Fachtagung "Antisemitismus heute" wurde von mehreren Fachbereichen der Landeszentrale gemeinsam vorbereitet, um das Thema aus einer interdisziplinären Perspektive zu beleuchten.
Das Projekt "Team meX. Mit Zivilcourage gegen Extremismus" führt Projekttage für Jugendliche zur Extremismusprävention durch. Für Multiplikatoren werden Workshops und Vorträge zu den Themen Rechtsextremismus- und Islamismusprävention angeboten. Das Projekt wird in Kooperation mit dem Landesamt für Verfassungsschutz durchgeführt und von der Baden-Württemberg Stiftung gefördert.
Der Fachbereich Gedenkstättenarbeit unterstützt die vorwiegend ehrenamtlich geleistete Forschungs- und Vermittlungsarbeit an den Gedenkstätten in Baden-Württemberg. Er gibt Publikationen heraus, bietet Fortbildungen an und koordiniert die Fördermittel des Landes. Die Gedenkstätten haben sich als außerschulische Lernorte etabliert. Gut 40 Prozent der mehr als 220.000 Besucher sind Jugendliche.