Wir leben in einer Gesellschaft, in dem wir auf hohem Niveau klagen können. Denn wir wissen, dass wir in Notsituationen vom sozialen Netz aufgefangen werden. Hochwasser aber kennt kein soziales Netz. Hochwasser kennt nur fluten, sich ausbreiten, alles durchdringen. Es trifft die Ärmsten und es macht auch keinen Halt vor den Prachtbauten der Reichen. Die Betroffenen sind erschüttert bis tief ins Mark. Existenzen stehen auf dem Spiel. Politiker mögen anreisen, sich ein Bild machen von der Situation und den Menschen tröstende Worte sagen, doch sie werden selten tage- und nächtelang eine Schaufel in die Hand nehmen und Sandsäcke füllen. Und es müssen viele gefüllt werden.
Hochwasser und auch andere Katastrophen zeigen unseren tiefen inneren Kern. Wie verhalten die Menschen sich? - Dies meine ich in vielerlei Hinsicht:
Wie verhalten sie sich selbst gegenüber? Gehen sie in die Rolle des Opfers? Beginnen sie das Jammern und Klagen und lassen sich von kollektiven Ängsten mitziehen, ohne genau hinzuschauen, wie die Situation wirklich ist? Warten sie nur auf fremde Hilfe? Packen sie selbst mit an? Bringen sie sich ein in die Solidarität der Helfenden? Sind sie die Nörgler, die die helfenden Truppen kritisieren?
Handeln sie ruhig und sicher oder voller Aktionismus? Verdrängen sie die Gefahr und bleiben dem Grundsatz treu: Jemand wird mich schon retten? Können sie es aushalten schwach zu sein und Hilfe anzunehmen?
Denken Sie: Wie gut, dass es die anderen trifft und nicht mich? Haben sie Mitgefühl mit anderen, auch wenn sie selbst weit entfernt und gar nicht betroffen sind?
Oder fiebern Sie schon der nächsten Katastrophenmeldung entgegen?
Ich denke, alles ist vertreten. Und dieses ALLES ist es, was uns als individuelle Menschen und als Gesellschaft ausmacht. Hochwasser überflutet gerade nur bestimmte Regionen, doch andere Ereignisse, die den Alltag auseinanderreißen und uns den Boden unter den Füßen weg ziehen, kann es zu jeder Zeit in jeder Region geben.
Es war und ist für mich spannend, die Menschen in dieser Zeit zu beobachten. Und oh nein, ich tue es nicht aus der Entfernung. Ich sitze selbst auf gepackten Koffern in unserem Haus, nur 500 Meter vom noch schützenden Deich entfernt. Ich weiß nicht, ob er hält. Aber ich habe Vorsorgepläne für meine Familie, unsere Tiere und mich getroffen. Es ist berührend zu sehen, wie viel Hilfe und Solidarität es gibt und gleichermaßen wie viele Ängste und unbedachte Sorglosigkeit nach dem Motto "es wird sich schon jemand um mich kümmern".
Die Zeiten, in die wir uns bewegen, werden uns in keinem Bereich des Lebens mehr die Sicherheit bieten können, die wir gewohnt sind. Hier tut es gut zu sehen, dass wir Menschen zusammenwachsen und viel bewirken können. Dadurch entsteht ein neues Miteinander, das hoffentlich auch bleibt, wenn das Wasser wieder geht. Ein Miteinander, das uns auch unabhängig von Katastrophen verbindet.
Dadurch, dass wir unser gewohntes Verhalten durchbrechen, verändern sich auch die starren Strukturen in unserem Verstand. Das Kapitel: Das Leben - nur der Film in unserem Kopf - aus meinem Buch "Mensch-Sein" beschreibt, wie wir durch unsere Vorstellung von der Welt die Welt erschaffen, so wie sie ist.
Das Hochwasser hat viel Leid gebracht. Ich will nicht sagen, dass ein neues Miteinander das wert war, dafür ist das Leid der Betroffenen zu groß. Doch sollten wir uns in diesem Leid das neue Miteinander bewahren. Wenn wir dies als mögliche neue Struktur der Gesellschaft leben, kann sich im Außen vieles verändern. Dann können wir miteinander tragen und aus diesem miteinander Tragen kann eines Tages ein miteinander Wirken und daraus ein miteinander Leben, Lieben und Freude haben werden.