Das Opfer glaubt hilflos und schwach zu sein und erkennt seine eigene Größe nicht an. Der Retter ist der Held dieser Bühne und rettet das Opfer, jedoch ist er meist gleichzeitig auch Verfolger des Verfolgers. Der Verfolger/Täter greift das Opfer an, und wenn er selbst dann verfolgt wird, wird er gerne selbst zum Opfer.
Dieses Bühnenstück ist eine Never-ending-Story. Alle Beteiligten drehen sich im Kreis.
Ich möchte an dieser Stelle sehr gerne zwei Geschichten aus meinem Lehrplan der Meisterakademie vorstellen:
Eine Geschichte ... aus dem Kinderfilm Bärenbrüder
Der Indianerjunge Kenai lebt mit seinen beiden älteren Brüdern in seinem Stamm.
Sein größter Wunsch ist es, ein Mann zu sein und seinen Mut unter Beweis zu stellen.
Der Stamm feiert ein Fest.
Kenai bindet vor dem Fest den Korb voller Fische hoch oben in einem Baum fest und geht dann zu dem Treffen mit seinen Stammesbrüdern.
Der Korb mit den Fischen fällt auf den Boden.
Nach dem Fest will er mit seinen Brüdern die Fische holen. Ein Bär hat sie gestohlen.
Bären - so wurde es Kenai überliefert - sind eine der größten Gefahren für seinen Stamm.
Sie stehlen die Fische und sie töten die Menschen.
Kenai verfolgt den Bären.
Der Bär bemerkt ihn. Kenai kämpft mit ihm. Er ist zu klein.
Seine Brüder helfen ihm. Einer der Brüder wird von dem Bär getötet.
Kurze Zeit später zieht Kenai erneut los.
Blind vor Hass sucht er den Bären und tötet ihn.
Bären sind gefährlich. Der Bär hat die Fische gestohlen.
Der Bär hat seinen Bruder getötet.
Der Bär hat es verdient, getötet zu werden.
Eine andere Geschichte ... aus dem Kinderfilm Bärenbrüder
Koda, der kleine Bär, ist gemeinsam mit seiner Mutter auf dem Weg zum großen Lachsfangen der Bären.
Auf ihrem Weg vorbei an dem Indianerdorf finden sie einen Korb voller Fische.
Der Korb liegt einfach so da auf der Erde. In dem Dorf feiern die Indianer ein Fest.
Koda und seine Mutter nehmen den Korb und die Fische mit.
Koda spielt auf einer Wiese mit seiner Mutter.
Da schubst seine Mutter ihn in die Büsche.
Menschen kommen.
Koda hat gelernt, dass Menschen eine der größten Bedrohungen für die Bären sind.
Sie töten die Bären.
Die Menschen greifen grundlos die Mutter von Koda an.
Nur durch das Töten eines Menschen kann sie sich selbst und Koda retten.
Kurz danach kommt noch mal ein Mensch. Er tötet die Mutter von Koda.
Koda, der kleine Bär, weint um seine Mutter. Sie wurde getötet - ohne Grund.
Zwei Geschichten:
Und nun frage ich: Welche der Geschichten ist wahr?
BEIDE!
Beide sind aus dem jeweiligen Blickwinkel, mit dem die Welt beobachtet wird, wahrgenommen, erzählt, bewertet. Und wie viele Missverständnisse können entstehen, wenn jeder für sich glaubt, die einzig richtige Wahrheit zu kennen.
Die Wahrheit hat immer viele Facetten und viele Formen und wir als Menschen können IMMER nur unsere Wahrheit erkennen und verkünden - und dies kann nur aus dem Blickwinkel geschehen, aus dem wir auf das Geschehen blicken.
Wenn wir in uns sehr neutral sind, das heißt frei von Resonanzfeldern, dann können wir das, was wir wahrnehmen neutral einsortieren. Haben wir viele Resonanzfelder zu Themen, kommen wir leicht ins Bewerten. Und aus dem Feld des Bewertens entstehen dann die Opfer-, Retter-, Verfolger/Täterrollen.
Selten machen die Spieler der drei Rollen auf der Drama-Bühne sich die Mühe zu erkunden "WARUM" der andere Spieler so handelt wie er handelt. Im Falle der erzählten Geschichte, war der Korb einfach vom Baum gefallen und lag als Einladung für die Bären neben dem Baum! Wie oft fallen im Leben die Körbe einfach so vom Baum, wenn ich dies mal als Synonym für die vielen, vielen, vielen unausgesprochenen Missverständnisse im Leben von uns Menschen so nehmen darf.
Anfragen zu Interviews und weiteren Artikeln mit der Autorin Margit Kronenberghs sind willkommen.