Zurzeit laufen die Planungs- und Genehmigungsverfahren für den Bau eines Windindustriegebietes auf dem „Mühlenberg“ bei Vöhl-Herzhausen in unmittelbarer Nähe des Nationalparks „Kellerwald-Edersee“. Die Planungen haben in der Vergangenheit bereits eine kontroverse Debatte ausgelöst. Jetzt äußerte sich auch der bundesweit anerkannte Umweltverband Naturschutzinitiative e. V. (NI) zu dem umstrittenen Projekt und kritisiert die einseitige und „windlastige“ Energiepolitik der hessischen Landesregierung.
Grünen-Erlass ohne gerichtliche Bindung
Politisch erklärtes Ziel sei es, den Energieverbrauch in Hessen bis 2050 zu 100 Prozent durch erneuerbare Energiequellen abzudecken. Zwei Prozent der hessischen Landesfläche sollen dabei für die Nutzung von Windenergie bereitgestellt werden. Anfang 2021 wurde von den zuständigen „grünen“ Ministerien für Wirtschaft und für Umwelt in Hessen eine Verwaltungsvorschrift erlassen, die der Energieerzeugung Vorrang vor Artenschutzbelangen einräumt. Der Erlass sieht vor, die Nutzung von Windenergie stärker zu gewichten als den Schutz von Vogel- und Fledermausarten. Pikant sei, dass die Ministerien den Erlassinhalt gemeinsam mit einigen Landesnaturschutzverbänden „erarbeitet“ und „abgestimmt“ hätten. Das Paktieren mit der Windlobby und dem Umweltministerium habe gerade im NABU und der HGON zu großen Verwerfungen und Konflikten in diesen Verbänden geführt.
„Es wurden sogar „Zweifel“ geäußert, dass der Bau von Windkraftanlagen beispielsweise die Bestände von Rotmilan und Schwarzstorch „rechtlich relevant“ beeinträchtigen würde“, kritisiert Norbert Panek, Buchenwaldexperte und Wissenschaftlicher Beirat der NI. Begründung: Die Gesamtpopulationen der genannten Arten seien gegenwärtig stabil oder würden angeblich sogar zunehmen. Dabei komme z.B. der streng geschützte Schwarzstorch in Hessen nur noch mit ca. 60 Brutpaaren vor und befinde sich damit in einem ungünstigen Erhaltungszustand.
In der Fachkonvention der Länderarbeitsgemeinschaft aller staatlichen Vogelschutzwarten Deutschlands wird der Schwarzstorch als besonders windkraftsensible Art eingestuft. Indem der neue Windenergie-Erlass hiervon abweicht, begebe er sich auch juristisch auf dünnes Eis, so der Experte. Darin wurden zudem die Mindestabstände von Windkraftanlagen zu etwaigen Brutplätzen geschützter Vogelarten neu geregelt und aufgeweicht.
Der hessische Verwaltungsgerichtshof hat jedoch kürzlich in einem Beschluss dazu festgestellt, dass diese Vorgaben für die Gerichte keinerlei Bindungswirkung entfalten. „Die Entscheidung des VGH ist eine schallende Ohrfeige gegen die beteiligten Ministerien, die einfach dem Drängen der Windenergielobby nachgegeben haben“, erklärte Harry Neumann, hessischer Landesvorsitzender der NI. „Der neue Erlass nimmt offensichtlich aus rein politischen Gründen wesentliche ökologische und auch juristische Fakten nicht zur Kenntnis. Wir gehen davon aus, dass dieser gegen EU-Recht verstößt und nicht angewandt werden darf. Auch das werden wir gerichtlich klären lassen. Wir fordern daher das hessische Umweltministerium auf, diesen naturschutzfeindlichen Windenergie-Erlass unverzüglich zurückzunehmen“, so Neumann und Panek.
Objektive Bewertung der ökologischen Risiken fehlt
Die Debatte um den Ausbau der Windenergienutzung sei ideologisch aufgeladen. Die tatsächlichen Risiken für den Artenschutz würden aus diesem Grund vielfach nicht hinreichend analysiert. „Eine objektive Nutzen-Risiko-Abwägung findet nicht statt“, sagt Panek. Fakt sei, dass der Bau von Windkraftanlagen nicht nur punktuell, sondern auch weitreichend und dauerhaft in die Natur eingreife und sie beeinträchtige. Nach einschlägigen Hochrechnungen des Leibniz-Institutes für Zoo- und Wildtierforschung kommen jährlich mindestens rund 250.000 Fledermäuse und rund 12.000 Greifvögel durch rotierende Windräder um. Nach einer Schweizer Studie seien pro Windkraftanlage durchschnittlich rund 20 Schlagopfer pro Jahr zu beklagen. Diese Verluste führen in der Summe und auf Dauer zu besorgniserregenden Rückgängen der Biodiversität, betonen Neumann und Panek. Klimaschutz ohne Natur- und Artenschutz mache keinen Sinn. Schutz der Lebensräume, der Arten und des Klimas müssten in ökologischen Zusammenhängen und nicht isoliert betrachtet werden. Dazu sei das grün geführte Ministerium offensichtlich aus ideologischen Gründen nicht mehr in der Lage, betonten Neumann und Panek.
CO2-Schleuder Windrad
Auch die Anlage von Windkrafträdern, vor allem, wenn sie in Wälder hineingebaut würden, seien mit erheblichen Eingriffen verbunden. Der Flächenverbrauch pro Anlage umfasse rund 0,5 Hektar, was auf den ersten Blick gering erscheine. Doch er reiße, so Panek, weitere Löcher in unseren ohnehin schon gebeutelten Wald. Von entscheidender Bedeutung seien aber die enormen Mengen an Beton, die für die Fundamentierung der Anlagen benötigt werden. Je nach Größe seien es pro Windrad zwischen 500 und 1.500 Kubikmeter, schätzt Neumann. Rechnet man das auf die Gesamtzahl der bisher auf dem Land gebauten 30.000 Windkraftanlagen um, wurden rückblickend bereits rund 24 Millionen Kubikmeter Beton in unseren Böden versenkt. Bei der Herstellung von Beton (Zement) würden bekanntermaßen große Mengen an Kohlendioxid freigesetzt – nach Schätzungen von Panek rund 600 Tonnen CO2 pro 1.000 Kubikmeter Beton. Hochgerechnet auf die rund 30.000 Windkraftanlagen wurden für deren Fundamentbau mindestens rund 14 Millionen Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre emittiert. Fazit: Eine Technologie, die vorgibt, zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes beizutragen, produziert selbst erhebliche Mengen an Treibhausgas. Hinzu komme die Zerstörung der Waldböden, des Erosionsschutzes, des Landschaftswasserhaushaltes und vieles mehr, so der Umweltverband.
Tonnenweise Insektenschlag
Neueren Untersuchungen zufolge seien rotierende Windräder nicht nur mit erheblichen Verlusten von größeren Tieren wie Vögeln und Fledermäusen, sondern auch von Fluginsekten verbunden. Insekten nutzen den Luftraum, um mit Hilfe der Windströmungen weite Strecken zurückzulegen. Die Insektendichte im Höhenbereich von Windrädern könne im Mittel drei Kilogramm pro Kubikkilometer Luftraum betragen. Panek verweist auf eine 2018 veröffentlichte Analyse des Instituts für Technische Thermodynamik in Stuttgart, wonach die Menge der durch Rotoren gefährdeten Insekten allein in Deutschland mit rund 24.000 Tonnen pro Jahr beziffert werde. Etwa fünf Prozent dieser Insektenbiomasse würden tatsächlich von Rotorblättern erfasst. Der Verlust wird auf bis zu sechs Milliarden Fluginsekten pro Tag geschätzt. Panek: „Noch ist nur wenig untersucht, wie sich diese Verluste auf die Gesamtpopulationen der Insekten tatsächlich auswirken. Sie könnten beispielsweise die Nahrungsketten in den Ökosystemen ganz erheblich beeinflussen.“ Obwohl die bisherigen Forschungsergebnisse eindeutig seien, würden im Rahmen der Windkraft-Genehmigungsverfahren keine diesbezüglichen Verträglichkeitsnachweise gefordert. In einem sogenannten „Faktenpapier Natur- und Umweltschutz“ zur Windenergie, herausgegeben vom hessischen Wirtschaftsministerium, würden mögliche Insektenverluste durch Windräder nicht einmal thematisiert.
Vor dem Hintergrund des weltweiten Insektensterbens seien weitere Verluste nicht mehr tolerierbar. Panek und Neumann fordern umgehend eine Neubewertung, die den Stellenwert der Windenergienutzung relativiert. Ein Windindustriegebiet im Wald und in unmittelbarer Nähe des Welterbe-Nationalparks „Kellerwald-Edersee“ wäre zudem ein unverantwortlicher, naturschutzfachlicher Tabubruch. Es würde das zerstören, was es eigentlich retten will: Die Natur.