Ist das Inflationsziel noch zeitgemäß?
Die Notenbanken haben nicht ohne Grund ein Inflationsziel. Es ist instrumental in der Gewährleistung von Preisstabilität, welche das Mandat der Notenbanken darstellt und von enormer Wichtigkeit für eine florierende Volkswirtschaft ist. Preisstabilität hilft Unternehmen, Ein- und Ausgaben sowie Investitionen besser zu planen, was wiederum der Wirtschaft Stabilität und Wachstum verleiht. Zudem gehen historisch gesehen Phasen hoher Inflation oder Deflation nicht selten einher mit gesellschaftlicher Unruhe. Stark steigende Preise treffen insbesondere untere Gesellschaftsschichten. Darüber hinaus können unerwartete Preissteigerungen zu Verzerrungen führen, da der Wert von Schulden und Ersparnissen zu gleichen Teilen abnimmt und dadurch Schuldner gegenüber Sparern profitieren.
Doch wo fängt Preisstabilität an und wo hört sie auf? Das muss nicht unbedingt an einer festen Grenze festgemacht werden. Für den ehemaligen Notenbankchef der Fed, Alan Greenspan, ist Preisstabilität der Zustand „in dem die erwartete Preisänderung nicht das Verhalten von Unternehmens- und Haushaltsentscheidungen verändert.” Die Zwei-Prozent-Marke hingegen hat ihren Ursprung in Neuseeland. Ende der 1980er kämpfte der Inselstaat mit zweistelligen Inflationsraten, weshalb sich die neuseeländische Notenbank (RBNZ) zu einer bis dato ungewöhnlichen Maßnahme gezwungen sah. Und sie beschloss öffentlich ein Inflationsziel von zwei Prozent auszusprechen und auf dieses Ziel hinzuarbeiten - mit Erfolg. Innerhalb eines Jahres fiel die Inflation auf unter zwei Prozent. Seitdem haben nahezu alle wichtigen Notenbanken das Inflationsziel von zwei Prozent übernommen.
Für manche Kritiker ist das Ziel jedoch inzwischen aus der Zeit gefallen. Bereits 2010 forderte der damalige IWF-Chef Olivier Blanchard das Inflationsziel von zwei auf vier Prozent zu heben, um in Rezessionen mehr Spielraum zu haben, die Zinsen zu senken. Ein höheres Inflationsziel erlaubt ein höheres Zinsniveau und vergrößert damit den Abstand zu der natürlichen Untergrenze von null Prozent. Andere fordern in “Zeiten multipler Krisen in einer zunehmend global vernetzten Wirtschaft” sogar die Abschaffung des Inflationsziels als solches. Beispielsweise sind angesichts des Klimawandels enorme Investitionen notwendig, die unweigerlich zu höheren Rohstoffpreisen führen, ohne dass die Notenbanken eingreifen müssten. Innerhalb der Währungshüter herrschte bisher Uneinigkeit darüber, ob und inwiefern das Inflationsziel verändert werden soll. Verfechter betonen die Notwendigkeit, die Inflationserwartungen zu verankern, was nur über ein klar formuliertes Ziel realisierbar ist. Außerdem schließt ein klares Inflationsziel einen gewissen Grad an Flexibilität mit ein. Die Europäische Zentralbank (EZB) beispielsweise peilt “mittelfristig” eine Inflationsrate von zwei Prozent an. Das erlaubt eine kurzfristige Über- oder Unterschreitung des Inflationsziels und gibt somit mehr Spielraum in der Ausgestaltung der Geldpolitik.
Letztlich stellt sich die Frage, ob ein anderes oder kein Inflationsziel Preisvolatilität und andere Krisen verhindert oder besser gemeistert hätte. Weder ein anderes noch die Abschaffung des Inflationsziels hätte die Krisen der vergangenen Jahrzehnte wahrscheinlich verhindern können. Somit ist Prävention kein valides Argument. Auch in der Bekämpfung von Inflation oder Deflation scheinen der Zeitpunkt und Umfang von geldpolitischen Entscheidungen wesentlich schwerwiegender zu wirken als die Höhe des Inflationsziels selbst. Vielmehr sollten sich die Notenbanken auf eine bessere Steuerung existierender geldpolitischer Instrumente, wie zum Beispiel die Steuerung der Geldmenge, fokussieren, um Preisstabilität zu erreichen. Beispielsweise hätte im Zuge der Covid-19-Pandemie ein schnelleres Eingreifen der Notenbanken zweistellige Inflationsraten womöglich verhindert.