"Die aktuellen Zahlen verdeutlichen, wie sehr das Leid von Millionen von Menschen über Jahrzehnte massiv unterschätzt wurde, sagt Susan Haffmans, Referentin beim Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN Germany). "Die tagtäglichen Vergiftungen führen dauerhaft auch zu chronischen Erkrankungen, wie Krebs, zu neurologischen Schädigungen und zu Fruchtbarkeitsstörungen. Wir müssen endlich ein schrittweises Verbot der schlimmsten Pestizide, der sogenannten hochgefährlichen Pestizide (HHPs) durchsetzen, um die Gesundheit und das Leben derjenigen zu schützen, die tagtäglich unsere Nahrung produzieren.“
Die Publikation mit dem Titel "The global distribution of acute unintentional pesticide poisoning: estimations based on a systematic review“ (Die globale Verteilung akuter unbeabsichtigter Pestizidvergiftungen: Schätzungen auf Basis einer systematischen Überprüfung) wurde in der Fachzeitschrift BMC Public Health veröffentlicht [1]. Sie ist die erste globale Schätzung dieser Art seit einer Auswertung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 1990.
Die Studie ergab, dass die meisten nicht-tödlichen Vergiftungsfälle in Südasien auftreten, gefolgt von Südostasien und Ostafrika. Die höchste nationale Einzelinzidenz wurde in Burkina Faso ermittelt, wo jährlich fast 84 Prozent der Bäuer*innen und Landarbeiter*innen unbeabsichtigte akute Pestizidvergiftungen erleiden. Die Gesamtzahl der Todesfälle durch unbeabsichtigte Pestizidvergiftungen wird in der Veröffentlichung auf weltweit etwa 11.000 Todesfälle pro Jahr geschätzt. Fast 60% davon treten allein in Indien auf, was laut den Autor*innen auf ernsthafte Probleme beim Einsatz von Pestiziden hinweist.
Die Autor*innen der Studie führten eine systematische Analyse (Systematic Review) der wissenschaftlichen Publikationen durch, die zwischen 2006 und 2018 zu dem Thema veröffentlicht wurden. Sie wählten insgesamt 157 Arbeiten aus, nachdem sie über 800 Arbeiten nach festgelegten Kriterien auf ihre Eignung geprüft und zusätzliche Daten aus der Todesursachen-Datenbank der WHO extrahiert hatten. Damit wurden insgesamt Daten aus 141 Ländern abgedeckt. Die meisten Studien konzentrierten sich auf arbeitsbedingte Vergiftungen, insbesondere bei Landwirt*innen und Landarbeiter*innen.
Die in der aktuellen Studie ermittelte Zahl der weltweiten nicht-tödlichen, unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen liegt deutlich über dem Wert der früheren Schätzung. Dies liegt zum Teil daran, dass die aktuelle Studie eine größere Anzahl von Ländern abdeckt, und auch daran, dass der weltweite Pestizideinsatz seit 1990 um 81 Prozent zugenommen hat auf heute rund 4,1 Millionen Tonnen. Obgleich die neuen Vergiftungszahlen erschreckend hoch sind, muss davon ausgegangen werden, dass diese Zahlen nach wie vor die tatsächliche Situation unterschätzen, unter anderem, da viele Staaten keine zentrale Meldestelle haben bzw. es dort keinen rechtlichen Mechanismus gibt, der die Meldung solcher Pestizidvergiftungsfälle vorschreibt.
„Wir wissen, dass es Einschränkungen bei den Daten über Pestizidvergiftungen gibt", bemerkt Javier Souza, Koordinator von PAN Lateinamerika. "Aber diese Studie offenbart unbeabsichtigte Pestizid-Vergiftungen deutlich als ein ernstes, globales Problem, das sofortiges Handeln erfordert. Hochgefährliche Pestizide müssen bis 2030 schrittweise vom Markt genommen werden, um die globalen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, und wir müssen zu gesünderen und widerstandsfähigeren Systemen wie der Agrarökologie übergehen“.
PAN Germany fordert, dass das Thema unbeabsichtigter Pestizidvergiftungen endlich stärker in das Blickfeld der internationalen Politik gerückt und dass konsequent in nicht-chemische Pflanzenschutzverfahren investiert wird, zum Wohl von Menschen und ihrer Umwelt weltweit.
[1] Die Studie (open access): Boedeker, W., Watts, M., Clausing, P. et al. The global distribution of acute unintentional pesticide poisoning: estimations based on a systematic review. BMC Public Health 20, 1875 (2020), ist zu finden unter:
https://doi.org/10.1186/s12889-020-09939-0
Die deutschsprachigen Studienautoren stehen für Interviews zur Verfügung:
Dr. Wolfgang Bödeker (Erstautor der Studie), info@epicurus.de, 0201-80058809
Dr. Peter Clausing (Mit-Autor der Studie), peter.clausing@pan-germany.org, 0176-4379 5932