Seit mehr als 200 Jahren befasst sich die Technikentwicklung mit der Frage, ob es gelingen kann, Tiere und Menschen künstlich nachzubauen. Dabei steht zu Beginn die Absicht, Lebewesen naturgetreu technisch abzubilden. Doch schon zwischen den Weltkriegen ändert sich die Sichtweise: nun orientiert sich die Nachbildung eher am Rückgriff auf den Anblick des mittelalterlichen Golem. In der Mitte des 20. Jahrhunderts verschmilzt mit der englischen Diskussion um „Artificial Intelligence“ der Wunsch der Nachbildung des Homo Sapiens mit dem Anspruch, das vermeintlich technisch-„intelligente“ Wesen möge mit einer „Superintelligenz“ den Menschen überflügeln. Manche Informatiker_innen-Teams träumen schon von der Unsterblichkeit menschlicher Gehirne in flexiblen technischen Gehäusen.
Mit den Entwicklungen neuer technischer Potenziale der Digitalisierung, der Virtualisierung und der Neurobiologisierung erfahren solche Träume aktuell Rückenwind. Sogenannte „Intelligenz“ soll in die Maschine kommen. Geräte sollen „lernen“ und „denken“ können und „Bewusstsein besitzen“. Die technische Wirklichkeit ist von diesen Perspektiven weit entfernt, obwohl die Roboterindustrie uns durch geschicktes Marketing glauben lassen will, der reflexionsfähige Android sei bald auslieferbar. Der unscharfe und verbogene Begriff der „Künstlichen Intelligenz“ will den Anspruch artikulieren, diese Technik löse die Probleme des Menschen und der Menschheit.
Unabhängig vom tatsächlichen technischen Evolutionsprofil will die neue Ausgabe der LATENZ nicht primär nach technischen Visionen und ihren Umsetzbarkeiten fragen. Wir fragen nicht in erster Linie nach dem Stand der digitalen Transformationen von Arbeit und Leben. Wir fragen nach dem sich wandelnden Menschenbild hinter diesen Szenarien. Der Begriff „Mensch“ unterliegt schon immer einem historischen Wandel. Von der Antike bis in die Gegenwart gab es unterschiedliche Vorstellungen, welcher Stellenwert dem Menschen zukommt, wer als Mensch gilt und was sein Wesen ausmacht.
Maschinen besitzen keine Ethik und keine Moral. Eine Revision ethischer Dispositionen in Richtung auf eine sogenannte „Maschinenethik“ oder „Maschinenmoral“ stellt nicht nur eine unzulängliche Umwertung technischer Potenziale dar, eine solche Revision führt vor allem zu einer Dekonstruktion des Humanum selbst. Es bedarf dagegen einer Schärfung ethischer Prinzipien in diesem Kontext.
Ist die Frage nach einem ethischen Menschenbild ein überholter Romantizismus oder eine soziale Notwendigkeit der Aufklärung für den Zusammenhalt von Gesellschaften? Was sind die zukunftsweisenden Erbschaften einer Jahrhunderte übergreifenden Diskussion um das Bild des Menschen? Worauf basiert ein solidarisches Menschenbild? Welches Menschenbild transportieren die Bürger- und Menschenrechte? Wie lässt sich vermeiden, dass einseitig gesetzte und in Technik implementierte Profile von digitalen Figuren den demokratischen Regeln und Rechten der Vielfalt, der Integration und Inklusion zuwiderlaufen? Welche Konsequenzen haben die aktuellen technischen wie gesellschaftlichen Transformationsprozesse für eine philosophische Anthropologie? Welches Menschsein haben wir vor Augen, wenn wir von der neuzeitlichen „Handlungsträgerschaft Mensch“ zur „Handlungsträgerschaft technischer Systeme“ übergehen? Auf welches ethische, moralische, humane, soziale, politische und rechtliche Miteinander gehen wir zu, wenn automatische Systeme nicht nur Entscheidungen über Sachen sondern auch über Menschen treffen? Wie beeinflusst die Technikentwicklung den sozialen Handlungsbegriff? Wie sollten Kernpunkte einer emanzipatorischen Gesellschaftsstrategie formuliert sein, damit Ethik Technik dominieren kann und nicht umgekehrt?
Nicht zu allen Fragen haben wir ausreichende Antworten gefunden. Die Autorinnen und Autoren der vierten Ausgabe der „Latenz“ äußern sich in unserem Themenschwerpunkt aus unterschiedlichen Perspektiven. Dem Humanum verpflichtet, widersprüchlich, irritierend, plural, parteilich, aufklärerisch.
Latenz - Journal für Philosophie und Gesellschaft, Arbeit und Technik, Kunst und Kultur. Der Künstliche Mensch? Menschenbilder im 21. Jahrhundert. Ausgabe 04|2019. Hrsg. von Irene Scherer und Welf Schröter. Redaktion: Dr. Dr. Matthias Mayer, Dr. Mathias Richter, Inka Thunecke, Irene Scherer und Welf Schröter. Mössingen-Talheim 2019, 264 Seiten, 34,00 (im Abonnement 26,00 zzgl. Porto). ISBN 978-3-89376-185-2.
Mit Beiträgen von Roland Beer, Stefan Behrens, Ulrike Behrens, Johanna Di Blasi, Helmut Fahrenbach, Alexander Kluge, Claudia Lenz, Michael Lenz, Matthias Mayer, Michael Morgner, Heiko Müller, Ingo Müller, Mathias Richter, Irene Scherer, Annette Schlemm, Lothar Schröder, Welf Schröter, Kurt Seifert, Stefan Selke, Barbara Smitmans-Vajda, Bernd Stickelmann, György Széll, Mihály Vajda.
Inhaltsverzeichnis
Der künstliche Mensch? – Menschenbilder im 21. Jahrhundert. Editorial. Von Irene Scherer und Welf Schröter.
Der künstliche Mensch? – Menschenbilder im 21. Jahrhundert
Homo Narrans im Zeitalter von Big Data und KI. Zum Verlust biografischer Imaginationsfähigkeit im Delirium der Rationalität. Von Stefan Selke.
Philosophische Anthropologie. Die anthropologische Frage in der Philosophie Ernst Blochs. Von Helmut Fahrenbach.
Das Leben künstlich oder menschlich machen? Von Annette Schlemm.
Menschenbilder, Visionen, Normen. Orientierungen für „Gute Arbeit mit KI“. Von Lothar Schröder.
Die zwei Krisen der Verfassungsrechtsprechung. Von Ingo Müller.
Vermummte Aufklärung. Gedichte. Von Bernd Stickelmann.
Achtung vor Robotern. Über die soziale Intelligenz der Maschinen und Goethes Homunculus, der klüger ist als der Mensch. Interview von Johanna Di Blasi mit Alexander Kluge.
Was fehlt? Transhumanismus als Anti-Utopie. Von Kurt Seifert.
Auf dem Weg zum „mitbestimmten Algorithmus“. Warum der Begriff „KI“ nicht als „künstliche“ sondern nur als „kleine“ oder „keine Intelligenz“ ausgeschrieben werden sollte. Eine kleine nachdenkliche Polemik. Von Welf Schröter.
Homo sapiens demens. Von György Széll.
Philosophie und Gesellschaft
Erinnerungen an Ágnes Heller. Von Mihály Vajda, Barbara Smitmans-Vajda.
„Dialektische Umwege“ – Neue Quellen und Forschungen zu Ernst Blochs Leipziger Vorlesungen. Von Matthias Mayer.
Historische Ontologie der Gegenwart. Foucaults Kritikbegriff und seine politischen Implikationen. Helmut Fahrenbach zum 90. Geburtstag. Von Mathias Richter.
Kultur, Ästhetik, Lebenswelt
Codex Morgner. 14 Stationen des Seins – ein Kreuzweg des 20. Jahrhunderts. Von Michael Morgner, Stefan Behrens, Ulrike Behrens.
Annäherung an die Architektin Karola Bloch Ein Werkstattbericht. Von Roland Beer, Claudia Lenz, Michael Lenz, Heiko Müller.
Autorinnen und Autoren.