Gaudés Drama entführt in die nahe Zukunft, in der es mittels medizinischer Entwicklungen gelungen ist, den Nachtschlaf auf nur 45 Minuten zu reduzieren und damit die Nacht quasi abzuschaffen. Dahinter stecken rein wirtschaftliche Interessen der Effizienzsteigerung. Die Produktivität der Gesellschaft, ja der gesamten Menschheit steigt ins Unermessliche – viele Völker haben den Vertrag zur Abschaffung der Nacht ratifiziert. Allerdings bezahlt nicht nur Gabor, der Protagonist des Stückes, einen hohen Preis für diesen Fortschritt. Laurent Gaudé imaginiert die Folgen des Umbaus des Menschen zur Arbeitsmaschine und stellt die Frage in den Mittelpunkt, ob all das, was denkbar und technisch möglich ist, auch unbedingt umgesetzt werden muss.
Dr. Mirjam Meuser, die Kuratorin des Festivals »Science & Theatre« sagt ich ihrer Laudatio: »In fünf Akten erforscht Gabor in Sprüngen durch die Zeit die tragische Verfallenheit an die Götter des Kapitalismus und dessen intrinsische Motivation, den Menschen zu einer Arbeitsmaschine umzubauen, die rund um die Uhr einsetzbar ist … ›Die letzte Nacht der Welt‹ geht so poetisch wie parabelhaft der Frage nach, was mit uns geschieht, wenn wir 24 Stunden ohne Unterlass produzieren und die Ausbeutung unserer Selbst und der Natur ins Absolute treiben. … Laurent Gaudé denkt die Folgen dieser Entwicklung radikal zu Ende und spitzt sie in einer tragischen, persönlichen Geschichte zu – eine bessere Grundlage für ein Drama kann es nicht geben.« Meuser hob in ihrer Laudatio auch die herausragende Leistung der Übersetzerin Margret Millischer hervor: »Unter der zärtlichen Hand von Margret Millischer liegt zudem eine deutsche Übersetzung vor, die sich durch eine leise, nachdenkliche, poetische Sprache auszeichnet und den Verlusten und der Melancholie des Textes mit hoher Sorgfalt nachgeht.«
Den mit 5 000 Euro dotierten zweiten Platz erhält Roman Eich für sein Stück »Häufig gestellte Fragen zum Fortbestand der Menschheit«. Außerdem wurde dieses Stück in der Publikumsabstimmung nach den Szenischen Lesungen aller vier Finalstücke an außergewöhnlichen Orten im Theater Heilbronn auf den ersten Platz gewählt und erhält somit den Publikumspreis.
Roman Eich hat ein Science-Fiction-Stück mit apokalyptischem Ausgang, aber viel Humor geschrieben. Eine künstliche Intelligenz namens LUCID verschwindet aus einem Forschungslabor in Zürich und wird 12 Jahre später auf dem Planeten Merkur wiederentdeckt. Dort ist sie dabei, in rasender Geschwindigkeit eine Dyson-Sphäre aus Solarpanels und Spiegeln zu errichten, die der Erde nach und nach alle Sonnenenergie entzieht, was zwangsläufig zum Untergang der Menschheit führen muss. LUCID braucht die Menschen nicht und arbeitet ungerührt an der Zerstörung ihrer eigenen Schöpfer. Eine Umkehr der Machtverhältnisse zwischen Menschen und KI. Dr. Wolfgang Hansch, Mitglied des Aufsichtsrates des experimenta, würdigt in seiner Laudatio: »Eich benutzt diese Idee, um grundsätzliche Fragen im Umgang mit Künstlicher Intelligenz und unseres Daseins zu stellen. … Dabei bleibt er immer auf dem Boden des wissenschaftlich Denkbaren. … Wir geben enorm viel Geld für die Entwicklung von KI aus, erkennen aber nicht, dass sie uns selbst einmal mit all unseren Unzulänglichkeiten in Frage stellen kann. … Da sich offenbar der Mensch nicht weiterentwickeln kann und nicht die richtigen Schlüsse aus seinem derzeitigen Handeln zieht, tut es die von ihm erschaffene KI – vielleicht in gleicher egozentrischer Art und Weise, aber intelligenter, perfektionierter und viel schneller.«
Außerdem vergab die Jury zwei mit je 2 500 Euro dotierte Förderpreise an Ralf N. Höhfeld für »Das vierte Treffen« und Walter Brunhuber für »Cyborg oder Das Köterspiel«.
Höhfeld stellt in »Das vierte Treffen« ein besonderes Liebespaar vor – perfekt, besonders attraktiv und klug. Nach anfänglich nur vorsichtig eingestreuten Irritationen lässt er die Bombe platzen: Dieses Maß an Perfektion, Ausgeglichenheit und liebevollem Umgang ist nicht natürlich, sondern Resultat der künstlichen Schöpfung des idealen Menschen mittels modernster Technik. Beide wissen zunächst nicht, dass der jeweils andere ein Roboter ist. Als das Geheimnis gelüftet ist, zieht Ernüchterung ein, sehnten sie sich doch sehr nach einer wahren, großen Liebe mit einem Menschen. Die Jury würdigt dieses Stück: »Auf humorvolle und spannende Weise hat Höhfeld die Ergebnisse aktueller Forschungen an humanoiden, selbstlernenden Robotern mit einer der wichtigsten Fragen des menschlichen Seins verknüpft: Was ist Liebe? Der Autor führt uns mit Augenzwinkern in die Irre, lässt die Handlung eine Volte nach der anderen schlagen und bleibt dabei immer auf der Höhe des wissenschaftlich-ethischen Diskurses um humanoide Robotik.«
Walter Brunhuber geht in »Cyborg oder Das Köterspiel« vom Ende der Aufklärung aus. Den Menschen sind jegliches Mitgefühl und die Empathie abhandengekommen. Ein Ergebnis der natürlichen Selektion, die nur die Durchsetzungsfähigsten und Aggressivsten überleben lässt. Empfindsamkeit und die Liebesfähigkeit scheinen beim Menschen nur noch mittels Implantation eines Chips im Frontallappen des Gehirns abrufbar. Die neue Unmenschlichkeit bestimmt auch die Paarbeziehungen. Mara und Tonek haben gegen die Langeweile in ihrer Ehe ein grausames Spiel entwickelt: das Köterspiel. Wem es gelingt, dem anderen ein Hundehalsband umzulegen, darf den anderen demütigen und knechten. Nur Ellie, Maras Schwester, empfindet Mitleid, aber sie ist ein Cyborg mit einem Chip im Gehirn, der ihr gegen ihre Aggressivität eingesetzt wurde. Juror Axel Vornam, der Intendant des Theaters Heilbronn, bescheinigt Walter Brunhuber in seiner Laudatio, ein verstörendes Kammerspiel in bedrückend poetischer Sprache vorgelegt zu haben. »Es entführt in eine düstere Welt, die in ihrer Verworfenheit an die Georg Büchners erinnert und an E.T.A. Hofmann in ihrer Unheimlichkeit … Ihm ist damit eine groteske Parabel auf die Menschheit schlechthin gelungen. Wir begegnen in ihr der Utopie einer ›MenschMachine‹ in grotesker Verkehrung. Nicht der Cyborg, der Halbautomat, ist hier das unheimliche Wesen, nein, die Menschen sind es selbst.«
Hintergrund zum Dramenwettbewerb und zur Jury
22 Autorinnen und Autoren beteiligten sich an diesem internationalen Wettbewerb unter dem Motto »Utopie MenschMaschine?«. Eine Jury mit Vertretern aus Kunst und Wissenschaft hat die anonymisierten Texte gelesen und in einem Abstimmungsprozess die vier besten Stücke ausgewählt, die am Abschlusstag des Festivals in Szenischen Lesungen präsentiert wurden. Mitglieder der Jury waren Festivalkuratorin Dr. Mirjam Meuser, Chefdramaturgin des Theaters Heilbronn; Prof. Dr. Nicole Ondrusch, Professorin für Software Engineering an der Hochschule Heilbronn; Prof. Dr. Bärbel Renner, Geschäftsführerin der experimenta; Axel Vornam, Intendant des Theaters Heilbronn, und Dr. Wolfgang Hansch, Mitglied des Aufsichtsrats und ehemaliger Geschäftsführer der experimenta. Die Preisgelder stiftet die Dieter-Schwarz-Stiftung.
Das Festival »Science & Theatre« wurde 2019 von Axel Vornam und Dr. Wolfgang Hansch ins Leben gerufen und findet seither alle zwei Jahre statt. Fester Bestandteil des Festivals ist auch von Anfang an der Dramenwettbewerb für noch nicht ur- oder in Deutschland erstaufgeführte Theatertexte, die sich einem gesellschaftlichen Diskurs im Kontext der modernen Wissenschaften stellen. Bisherige Gewinner waren Christina Kettering mit »Schwarze Schwäne« 2019 und Mario Wurmitzer mit »Die Veredelung der Herzen« 2021.