Müssen wir Trauer in Deutschland neu denken? Werden die Angebote für Trauernde immer digitaler und verdrängen nach und nach das Zwischenmenschliche?
Wir müssen das Thema Trauer nicht neu denken – wir müssen das Thema überhaupt erstmal denken. Trauer ist etwas, was viele überhaupt nicht zulassen. Wir leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Und jemand, der trauert, funktioniert nicht, leistet nicht, weil er sich wie gelähmt fühlt. Das heißt: Wir müssen Trauer zunächst einmal akzeptieren. Und anerkennen, dass Trauerarbeit essentiell ist.
Trauer beginnt oft nicht erst mit dem unmittelbaren Verlust eines Menschen …
Trauer beginnt mit der Information, dass das, was sich Menschen als Leben vorgestellt haben, auf einmal nicht so sein wird. Denn plötzlich steht eine Diagnose im Raum. Und dann fängt die Trauer schon an. Weil nichts von dem, was sie geplant haben, so eintreten wird.
Kann die Digitalisierung Trauernden helfen?
Wir müssen den Weg der Digitalisierung angehen – auch im Bereich Trauer. Denn wir leben in einer vereinsamenden Gesellschaft. Viele Familien befinden sich nicht mehr in der Struktur, in der sie früher lebten. Familien sind berufsbedingt zerpflückt, die Familienmitglieder leben in verschiedenen Orten. Video-Telefonie etwa bietet die Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu treten. In der Pandemie mit den Kontaktbeschränkungen wurden Familien mit Zoom-Calls zusammengehalten.
"Man kann eine Berührbarkeit erzeugen, auch wenn digitale Medien dazwischenstehen."
Kann ein Video-Call ein persönliches Gespräch ersetzen?
Nein. Aber alles ist besser als überhaupt kein Kontakt. Wir haben Pandemie-bedingt auch in der Palliativakademie zum Beispiel ganz schnell auf Video-Fortbildungen umgeschaltet. Wohlwissend, dass der direkte Kontakt, bei dem man Stimmungen und Schwingungen spürt, im Persönlichen viel besser ist. Aber man sieht auch bei Videos das Gesicht, die Mimik, die Hände und spürt, wenn etwas wahrhaft und authentisch ist. So kann man eine Berührbarkeit erzeugen, auch wenn digitale Medien dazwischenstehen. Ohne den anderen anzufassen, kann man trotzdem berührt werden von ihm – und man kann ihn berühren.
Trauergruppen, -beratungen und -seminare werden online durchgeführt: Welche Vor-, welche Nachteile hat das in Ihren Augen?
Wenn wir in der Palliativmedizin zum Beispiel Trauergespräche führen, nehmen wir manchmal auch jemanden in den Arm, um eine gewisse persönliche Nähe herzustellen – natürlich stets unter Wahrung der Privatsphäre. Man kann ja hochprofessionell – und Mensch sein. Jemanden mal zu drücken, ist oft viel besser als jede medikamentöse Therapie. Ich sage sogar: Jemand, der das nicht tut, arbeitet nicht professionell, sondern versteckt sich hinter irgend etwas. Jemanden in den Arm zu nehmen – das geht online aber natürlich nicht.
Was online aber geht, ist zusammen zu schweigen …
In der Tat. Gemeinsam zu schweigen oder dem anderen die Möglichkeit zu geben, sich auszusprechen und seine Ängste und Sorgen mitzuteilen, ohne dass er gleich mit einer lösungsorientierten Antwort konfrontiert wird. Denn gleich eine Lösung bekommen, das wollen viele Menschen gar nicht. Aber sie wollen über ihre Ängste und Nöte sprechen. Man kann auch gemeinsam eine Kerze anzünden. Jeder auf seiner Seite des Bildschirms. Dadurch entsteht eine gewisse Spiritualität im Moment. Weil der Moment geteilt wird.
"Bei aller Flüchtigkeit und Unverbindlichkeit des Internets hat es auch zunehmend diese positiven Seiten."
Zeichnet sich in Ihrem Bereich der Palliativmedizin ebenfalls eine Entwicklung hin zum Digitalen ab – über die erwähnten Video-Fortbildungen für Menschen hinaus, die in diesem Bereich arbeiten?
Ich selbst bin bei Facebook und Instagram sehr aktiv. Und ich stelle fest, dass viele Menschen zu uns Kontakt aufnehmen, weil sie bei Facebook etwas über uns gelesen haben – auch über die von uns angebotene spezialisierte ambulante Palliativversorgung. Über Messenger habe ich häufig erste Kontakte zu Patienten gehabt. Bei aller Flüchtigkeit und Unverbindlichkeit des Internets hat es auch zunehmend diese positiven Seiten. Es gibt eben Fluch und Segen im Netz, in den sozialen Medien.
Inwieweit kann Technik bei der Betreuung von Patienten in ihrer letzten Lebensphase helfen?
Es gibt verschiedene Ansätze. Dazu gehört, über virtuelle Realität, Erinnerungsmomente wie schöne Landschaftserlebnisse zu einem Patienten zu bringen, der nicht mehr in der Lage ist, selbst dorthin zu gehen und es sich anzuschauen. Etwa, indem er eine VR-Brille aufsetzt, die ja ein 3D-Bild beim Nutzer erzeugt. Aber natürlich hängt die Verwendung einer solchen Technik immer auch mit der geistigen Leistungsfähigkeit des Patienten zusammen. Man darf ihn mit virtueller Realität nicht durcheinanderbringen. Auf der anderen Seite kann es sehr schön sein für den Betroffenen, sich an bestimmte Dinge zu erinnern. Ich habe auch einmal einer Patientin angeboten, durch ihre Wohnung zu laufen und ein Video von den Räumen aufzunehmen, damit sie sich von dort verabschieden kann. Sehr hilfreich in der palliativen Versorgung ist es zudem, Experten per Video-Telefonie zum Beispiel einen Befund bei einem Patienten direkt zu zeigen. Das ist besser als jedes Foto. Telemedizinische Maßnahmen nehmen in jedem Fall zu.
Schmerzlinderung ist das eine in der Palliativmedizin. Doch dann sind da noch die Ängste der Menschen. Kann man diese Ängste mit Online-Angeboten lindern?
Wenn ein Betroffener weiß, dass etwas seine jetzige Existenz bedroht und er nicht absehen kann, wie das endet, dann bekommen die Menschen Angst und machen sich Sorgen. Wenn ich dem Patienten zuhöre und ihn aussprechen lasse, was ihn bedrückt, dann ist schon sehr, sehr viel geholfen. Und wenn er sagt: ,Ich möchte lieber sterben als weiterleben' und ich den Satz erstmal stehenlasse, ohne gleich dagegen zu reden und ohne gleich eine Lösung anzubieten, hilft das sehr. Weil ich zulasse, dass das Unaussprechliche ausgesprochen werden darf.
Ginge das über digitale Medien ebenfalls?
Ein solches Gespräch kann man auch am Telefon oder über digitale Medien führen. Es ersetzt in meinen Augen oftmals eine medikamentöse Therapie. Es ist immer leichter, einem Patienten ein sedierendes Medikament zu geben. Aber dann gärt es im Inneren weiter. Besser ist es, den Druck herauszulassen und erst einmal darüber zu sprechen.
Digitale Medien also als eine gute Ergänzung auch im Palliativbereich?
Ich denke, dass sie eine gute Ergänzung sein können. Ich möchte nicht in die totale Digitalisierung kommen. Ich glaube, dass wir Menschen in den meisten Fällen unmittelbaren Kontakt brauchen. In manchen Situationen ist aber alles besser als nichts.
Der Internist Dr. Jörg Cuno (50) hat seit 20 Jahren Erfahrung im Bereich der Palliativmedizin. Seit 2005 ist er hauptberuflich als Palliativmediziner tätig.