"Anfangs hatte ich hatte ich nur ein bisschen in alten medizinischen Schriften geblättert", blickt Dhein zurück.
"Es interessierte mich, was im Mittelalter gegen Herz-Kreislauf-Beschwerden unternommen wurde. So stieß ich auf das Herzgespannkraut, da ja schon durch seinen Namen - Gespann hieß so viel wie Schmerz - auf eine Anwendung hinwies. Doch wissenschaftlich untersucht, ob und wie es wirkt, hatte bis heute niemand." Also ging Dhein in die Apotheke, kaufte getrocknetes Herzgespannkraut, bereitete auf ganz traditionelle Weise einen Tee und spritzte den im Labor in ein isoliertes, also außerhalb des Tieres künstlich ernährtes, Kaninchenherz. "Und tatsächlich schlug dieses Herz dann langsamer. Also wusste ich, es lohnt, hier weiterzumachen."
Dhein holte daraufhin den auf pflanzliche Wirkstoffe spezialisierten Pharmazeuten Rauwald mit ins Boot. Rauwald hatte bereits 1993 in ersten Studien zur cardiovaskulären Aktivität von Arzneipflanzen auch Herzgespannkraut untersucht. Unterstützt von Doktoranden widmeten sich beide dem Herstellen und Testen immer neuer hochkonzentrierter Extraktfraktionen aus Herzgespannkraut. Anregungen fand das Forscher-Team auch in der Literatur der traditionellen chinesischen Medizin, die ebenfalls mit einer dem Herzgespannkraut verwandten Pflanze arbeitet. Allerdings wird es dort vor allem in der Geburtsmedizin eingesetzt, eine Anwendung, die auch in Europa nicht unbekannt ist, worauf sein englischer Name "motherwort" verweist.
Bei den nun folgenden Studien ging es längst nicht mehr nur um das Aufbrühen von Tees. "Als Lösungsmittel wurden unter anderem auch Alkohol und Chloroform verwendet", erläutert Rauwald. "Es mussten genau quantifizierte Konzentrationen erzeugt oder einzelne Bestandteile der Extrakte eliminiert werden. Methoden wie die Hochleistungs- und die Dünnschicht-Chromatografie machten sichtbar, welche Wirkstoffgruppen in welcher Konzentration in den Extrakten vorhanden waren." Nach jedem Schritt in den Labors der Pharmazeuten wurde der erzeugte Spezialextrakt im Herzzentrum am isolierten Tierherzen erprobt. Dabei wurde dessen Verhalten nicht nur mit bloßem Auge verfolgt, sondern über ein spezielles Messverfahren. Vier etwa einen Quadratzentimeter große Platten mit 256 Elektroden bedeckten einen Großteil der Herzoberfläche. Das so mögliche umfassende EKG maß genau, wie das Herz nach dem Einspritzen des Extraktes reagierte. Beispielweise wurde das Test-Herz beim mittels Chloroform erzeugten Extrakt immer langsamer und blieb sogar stehen - also wurde die Rezeptur verworfen.
Aus diesen Untersuchungen konnte das Forscherteam um Dhein und Rauwald erstmals Aussagen zur Wirkung von Herzgespannkraut ableiten. "Belegt ist inzwischen", so Dhein, "dass die Wirkstoffe der Pflanze den Koronarfluss, also die Menge des Blutes, das den Herzmuskel versorgt, steigern. Dadurch wird das Herz besser versorgt.
Gleichzeitig wird es langsamer schlagen. Außerdem ist Herzgespannkraut ein Kalziumkanalantagonist und blockiert die Poren, durch die Kalzium tritt. Das wiederum bedeutet, dass der molekulare Wirkmechanismus aufgeklärt werden konnte. Kalziumantagonisten führen zu einer Blutdrucksenkung und - im Falle bestimmter Substanzen und des hier gefundenen Spezialextraktes - auch zu einer Herzwirkung mit Verlangsamung der Herzfrequenz, wodurch das Herz insgesamt entlastet wird."
Doch Rauwald und Dhein sprechen auch von den noch offenen Fragestellungen. So blieb bislang unbeantwortet, welche Einzelstoffe genau drin sind in dem Extrakt und ob diese auch isoliert oder nur im Zusammenspiel ihrer verschiedenen Wirkprinzipien hilfreich sind. Möglicherweise bergen auch einige der isolierten Bestandteile toxische Probleme, die künftig durch entsprechende Reinigungsverfahren umgangen werden können.
Enttäuscht wird allerdings sein, wer auf ein baldiges, über den altbekannten Tee hinausgehendes Medikament wartet. Mit dem Patent, das inzwischen veröffentlicht ist, auf die "Herstellung von Spezialextrakten aus Leonurus cardiaca und deren Anwendung bei koronaren Herzkrankheiten" wurde erst einmal ein Stück Grundlagenforschung abgeschlossen. Nun ist es an den Pharmaunternehmen, die neuen Erkenntnisse - möglicherweise in Kooperation mit den Leipziger Forschern - in ihre Produktentwicklung einzubinden.
Wer übrigens die etwa anderthalb Meter hohen Staude mit rosa Blüten direkt am Stengel in natura sehen möchte, kann dies im Apothekergarten der Universität Leipzig (Eingang über Johannisallee), der seit März wieder geöffnet ist.