Zu zehnt in einem Zelt, kaum Strom und Heizmöglichkeiten, eine Dixi-Toilette für dutzende Familien. Auch ein halbes Jahr nach dem Feuer auf Lesbos hat sich die Situation für Geflüchtete auf der griechischen Insel Lesbos nicht grundlegend gebessert. Im Gegenteil: Bei einstelligen Temperaturen harren über 2.000 Kinder in Dreck und Nässe im neuen Lager Mavrovouni RIC, auch bekannt als Kara Tepe, aus. Annika Schlingheider ist Mitarbeiterin von World Vision und kennt dieses Lager aus eigener Anschauung: „Wie alle Kinder auf der Welt, wollen die Kinder hier spielen, lernen und einfach nur Kind sein. Es ist eine Schande, dass es nach sechs Monaten im neuen Camp nicht einmal geordneten Schulunterricht für die über 2000 Kinder gibt. Derzeit gibt es nur von Hilfsorganisationen oder von Geflüchteten selbst organisierte Unterrichtsstunden, mit denen allerdings bei weitem nicht alle Kinder erreicht werden. Mit jedem Tag verlieren die Kinder mehr Kraft und Perspektive für ihr Leben.“
Vor allem die Enge in den Zelten macht vielen Kindern zu schaffen. In den etwa 15 Quadratmeter großen Zelten werden standardmäßig zwei Familien untergebracht, also meist zehn Personen. Einen befestigten Raum, in dem sich die Geflüchteten aufwärmen könnten, gibt es nicht. Annika Schlingheider: „Ein 16jähriges Mädchen sagte mir: Auch wir teilen unser Zelt mit einer anderen Familie. Wenn der Wind stark ist, habe ich Angst, dass es zusammenbricht. Mein kleiner Bruder weint oft, aber was sollen wir tun? Viele Kinder hier sind krank und im Zelt werden sie nicht richtig gesund.“
Nach dem Brand des Lagers Moria auf Lesbos hatte sich Deutschland verpflichtet, ein Kontingent von 1.553 Geflüchteten aufzunehmen. Diese Kontingentaufnahme wird in den nächsten Wochen abgeschlossen. Christoph Waffenschmidt, Vorstandsvorsitzender von World Vision, sieht Deutschland aber damit nicht aus der humanitären Pflicht entlassen: „Deutschland hat konkrete Möglichkeiten, zu helfen. So könnten die Aufnahmen nach Deutschland aus den Lagern auf den griechischen Inseln für besonders Schutzbedürftige fortgesetzt werden. Wir haben einen bestehenden Prozess. Jede Person, jedes Kind, das diesem Grauen auf europäischem Boden entkommt, zählt.“
Waffenschmidt appelliert insbesondere an die Bundesregierung, sich nicht von der Verweigerungshaltung anderer europäischer Länder beeindrucken zu lassen. Unabhängig von einem EU weiten Verteilmechanismus könne und müsse Deutschland mehr tun.: „Viele Städte, Gemeinden und Initiativen setzen sich in Deutschland seit Jahren für weitere Aufnahmen ein. Es entspricht unserer demokratischen und christlichen Verantwortung, nicht wegzuschauen, sondern mutig zu handeln. Lesbos liegt zwar am Rande Europas – aber was hier geschieht, trifft Europa mitten ins Herz.“
Auch Annika Schlingheider drängt auf weitere Aufnahmen von Geflüchteten: „Dieser Ort ist unsicher und gefährlich, insbesondere für die Kinder. Im September ist schon ein ganzes Camp niedergebrannt. Was muss noch passieren, damit diesen Menschen endlich Sicherheit gewährt wird?“