„Wir werden Zeuge eines wahren Rentier-Massakers. Wilderer erlegen die Tiere im großen Stil. Die Nachfrage nach Rentierfleisch ist in den russischen Städten gewachsen. Zudem gelten die Zungen als Delikatessen. Stellenweise werden auch die Geweihe zu Pulver verarbeitet und als Heilmittel, etwa in China, vermarktet“, berichtet Eva Klebelsberg, Referentin für die Russische Arktis beim WWF Deutschland. Erschwerend kommt die Klimakrise hinzu. In der Vergangenheit konnten die Herden auf ihren Wanderungen im arktischen Frühjahr meist problemlos die zugefrorenen Flüsse überqueren. Zur Zeit der Kalbung sind die Flüsse inzwischen aber immer häufiger schon getaut und die neugeborenen Jungtiere müssen mehrere Kilometer Eiswasser durchschwimmen. Dabei sterben viele Kälber. Zudem lauern ausgerechnet bei den Flussüberquerungen Wilderer in Booten. Sie erschießen die Rentiere oder schneiden ihnen bei lebendigem Leib mit Motorsägen die Geweihe ab. „Nach einer Wilderer-Attacke verenden viele Tiere an ihren Verletzungen. Trächtige Rentierkühe können in Folge von Stress nach den Flussüberquerungen Fehlgeburten erleiden. Außerdem gibt es immer wieder Beobachtungen, dass Herden ihre Kälber sich selbst überlassen. Meist sterben die Jungtiere dann“, so Klebelsberg.
Das Klima erwärmt sich in der Arktis etwa zwei- bis dreimal schneller als im globalen Mittel. Klimatische Veränderungen, wie etwa mildere Arktis-Winter, sind eine Herausforderung für die Rentiere. Diese sind sehr gut an die tiefen Temperaturen der Arktis angepasst, höhere Jahresmitteltemperaturen schwächen sie hingegen. Laut WWF nehmen die Temperaturanomalien im Winter zu. Immer wieder gibt es Ausreißer über null Grad. Durch Regen entsteht dann eine Eiskruste auf der Vegetation, die die Rentiere, anders als etwa eine Schneedecke, bei ihrer Nahrungssuche gar nicht oder nur unter hohem Energieaufwand durchbrechen können. Sie finden weniger Nahrung. Manche verletzen sich bei diesem Versuch an der scharfkantigen Eiskruste. Durch kürzere Winter nehmen auch blutsaugende Insekten stark zu, die die Tiere sehr beeinträchtigen können. All dies schmälert die Überlebenschancen und es kann zu Massensterben kommen.
„Jagd auf die Rentiere gibt es schon lange, ohne dass die Population an sich gefährdet war. Doch seit einigen Jahren bemerken wir einen massiven Anstieg der Wilderei. In Kombination mit den extremen Umweltveränderungen durch die Klimakrise kann so eine Population sehr schnell verschwinden“, warnt Klebelsberg. „Umso größer und stabiler die Rentierpopulation ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Art an die massiven Auswirkungen des Klimawandels auf ihre Heimat anpassen kann und überlebt.“ Neben einem ambitionierten Klimaschutz, der die globale Temperaturerhöhung auf maximal 1,5 Grad beschränkt braucht es auch vor Ort mehr Naturschutzmaßnahmen: „Der Klimawandel ist eine extreme Herausforderung für die arktischen Arten. Einige davon werden wir wohl verlieren. Wenn aber durch Wilderei und Zerstörung des Lebensraumes zusätzliche Bedrohungen entstehen und keine Rückzugsgebiete vorhanden sind, ist die gesamte arktische Artenvielfalt in Gefahr.“ Es braucht laut WWF mehr und besser vernetzte Schutzgebiete als Rückzugsorte. Im Fall der Taimyr-Rentiere ist ein an Populationsentwicklungen und Habitat angepasstes Management nötig, Wilderei muss effektiv bekämpft und die riesigen Wanderrouten gesichert und langfristig erhalten werden.
Originalquellen: https://www.mnr.gov.ru/press/news/prinyata_rezolyutsiya_vserossiyskogo_soveshchaniya_po_voprosam_sokhraneniya_i_ratsionalnogo_ispolzov/ & https://wwf.ru/en/resources/news/bioraznoobrazie/chislennost-dikogo-severnogo-olenya-na-taymyre-sokratilas-do-250-tysyach/