Solche Tage – und davon gibt es reichlich in den Allgäuer Alpen – liebt auch Franz Betz. Da zieht es ihn einfach raus, in die frisch verschneiten, glitzernden Hänge mit den weißgefroren Nadelbäumen, die sich unter dem Schnee zu allerlei interessanten Figuren verformen. Die kennt er, seit er laufen kann. „I bin einfach a Bergfex (allgäuerisch für Bergbegeisterter). Für mich gibt’s nix Schöneres als die Berge“, meint Betz. Zu der Generation, die Skifahren als Freizeitsport entdeckte und die selbstgeschnitzte Ski unter die Füße schnallte und Pumphosen aus steifem Loden trug, dazu gehört er mit seinen 63 Jahren nicht mehr. Obwohl: Mit den selbstgeschnitzten Ski, da hat er auch ein Erlebnis, doch dazu später. Er wurde geboren, als der spätere Olympiasieger von Grenoble, der Kombinierer Franz Keller, als Siebenjähriger fleißig auf selbstgebauten Schanzen in deren gemeinsamen Ostallgäuer Heimatort Nesselwang das Springen trainierte. Skifahren in seiner Jugend - das war Abenteuer! Nur wer Skifahren konnte, konnte eben Skifahren.
Aufstiegshilfen wie Schlepplift oder bequeme Gondeln, wie es sie heute gibt, waren in seiner Kindheit noch rar. Ganz oben am Hausberg, der Alpspitze, gab es einen. Dort hatte Ludwig Böck 1948, ebenfalls ein bekannter Olympiateilnehmer, einen der ersten Skilifte im Allgäu gebaut - für die Kurgäste seines Sportheims Böck. Für den Bau wurde zum Teil noch mit Butter und Käse im Tausch abgerechnet. Der Lift war ein erster Schritt, nach den zehrenden Kriegsjahren den Wintertourismus im Allgäu wieder zu beleben. Sein Gasthaus mit Einzel- und Doppelzimmern, fließend Wasser und einer Gastronomie, wo seine Frau Resl Böck mit Wildbraten und selbstgeriebenen Kartoffelknödeln gehobene Alpenküche kredenzte, war deutschlandweit bekannt. Damals ein Luxus, nur betuchtere Urlauber konnten sich das leisten. Minister, Chefärzte und Geschäftsführer verbrachten so ihren Winterurlaub.
Sie lebten hier auf 1600 Metern in einem eigenen Kosmos. Um sie mit der Pferdekutsche auf den Berg zu bringen, musste der Weg von der Mitte, wohin ein Jahr später ebenfalls ein Lift fuhr, bis oben hinauf von Hand freigeschaufelt werden. Tagsüber übten die Urlauber mit Skilehrer Böck die ersten Schwünge, unternahmen Skitouren zu den nächstgelegenen Hütten, genossen die Höhensonne und den Panoramablick über 360 Gipfel der Allgäuer und Tiroler Berge. Abends feierten sie zünftig in der vom Holz gewärmten Wirtstube.
Wenn am späten Nachmittag die letzten Skifahrer den Berg hinunter schwingen, wird es ganz still. Der Schnee hüllt alles in Schweigen.
Vom Füssener Land leuchten die Lichter herauf und man versteht, warum so weit oben die alltäglichen Sorgen viel kleiner erscheinen. Damals wie heute verbindet die Menschen, die ins Allgäu kommen, das Gleiche: Die Sehnsucht nach den Bergen, nach Naturerlebnissen, nach sinnlichen Erfahrungen.
Diesen Adlerplatz hier oben lieben Franz Betz und der 20 Jahre junge Paul Ebentheuer. Auch so ein Bergfex.
Vielleicht wird die Leidenschaft für die Landschaft und das „Brettln“ bei den Allgäuern mit den Genen vererbt, wer weiß. Paul Ebentheur ging im Winter meistens lieber auf die Piste als im Kindergarten Bauklötze zu stapeln. Er lernte mit vier das Skifahren. Gefragt wurde er nicht, sondern einfach auf die Bretter gestellt. Beide Eltern sind Skilehrer, sein Opa gründete eine Skischule im Ort, bald ist auch er selbst staatlich geprüfter Skilehrer und kann sich vorstellen, die Familientradition fortzusetzen – vorausgesetzt, das lässt sich mit seinem geplanten Studium in Umwelt-Energie- Technik vereinbaren. An der Lacher Hütte tauschen sich die beiden über ihre Skierlebnisse aus. Hinter ihnen steht die heutige „BergLodge“ mit dem Sportheim Böck. Franz Betz erzählt, wie sie sich als Kinder eine Liftkarte am späteren unteren Lift verdienen konnten, wenn sie beim Pistenpräparieren halfen. Präparieren hieß damals, mit den Ski den Schnee festzutreten. So schnaubte er Schritt für Schritt die Hänge hinauf, um sich dann auf langen, windschiefen Zahnstochern halsbrecherisch den Berg hinunterzustürzen.
Die ersten Schneeflocken des Winters, so sehr sehnte er sie herbei – und alle anderen Kinder im Ort. Dann trafen sie sich gleich nach der Paukerei in der Schule und bauten emsig ihre Sprungschanzen, bis die Sonne die Berge zum Glühen brachte, um gleich darauf schnell hinter ihnen zu verschwinden. Vor dem warmen Kachelofen wurden die Schneeklumpen aus den Socken geholt, die tropfnassen Skianzüge getrocknet und die eisigen Backen wieder ins Leben zurück geklopft. Der Zauberstoff Gore-Tex war noch nicht erfunden.
Skifahren gehört in den Allgäuer Alpendörfern wie Nesselwang fast schon zur kindlichen Früherziehung. Was soll man denn auch sonst mit den über viele Monate gereiften Schneehügeln anfangen, als Iglus zu bauen und sie sportlich zu erobern? „Ohne Skifahren wäre es uns als Kinder totlangweilig gewesen“, meint Betz. Und natürlich macht das einen Heidenspaß! Schanzenbauen, das war auch für Paul Ebentheur eine Paradedisziplin im Winter. Er zeigt hinüber auf den Alpspitzhang, an dem einst der Privatlift von Ludwig Böck stand. Als 13-Jähriger zog er mit seinem Cousin und seinen Freunden am Wochenende mit Schaufeln hinauf, sie bauten und werkelten bis am späten Abend: „Es hat immer ewig gedauert, bis wir unsere Schanzen fertig hatten. Wir wollten richtig große mitten im Tiefschnee haben, um nach den Sprüngen weich zu landen. Damit haben wir für die Obstacles im Funpark trainiert. “ Franz Betz lacht und die beiden sprechen über die beste Technik für’s Schanzenbauen. Wenn die Schneekonstukte fertig waren, wurde zu Betz‘ Zeiten schon in der Schule verabredet, welche Weiler (kleine Teilorte) gegeneinander antreten. Die Wettkämpfe, sie sollten für ihn noch eine größere Bedeutung bekommen. Initialzündung war der Nachbarschaftswettstreit im Langlauf, der traditionell an Silvester in seinem Heimatweiler Attlesee standfand.
Um mitmachen zu können, zersägte er die großen Holzski mit der Kreissäge und befestigte rudimentär so etwas wie eine Bindung. Das Langlaufen begeisterte ihn und er gehörte zu den großen Talenten seiner Generation. Zahlreiche Meistertitel fuhr er ein, war als deutscher Athlet 1972 und 1976 bei den Olympischen Winterspielen dabei und wurde später Bundestrainer der Langlauf-Damen. So kam er raus aus dem kleinen, verträumten Dorf, lernte die Welt bei Trainingslagern und Wettkämpfen kennen. „Das war eine aufregende Zeit. Ich habe so viele Länder mit atemberaubenden Landschaften gesehen, aber jedes Mal hab ich mich gefreut, wieder ins Allgäu zurückzukehren. Hier ist’s einfach besonders schön.“ Dann kam der Einbruch, sein Vater wurde krank und es war keine Frage, dass Franz Betz mitten in seiner Sportkarriere mit 24 Jahren den Hof übernahm. Seine Leidenschaft für den Sport gab er neben der Hofarbeit als Skilehrer an die Gäste weiter. Um 6 Uhr Stallarbeit, um 10 Uhr am Lift. Als ihn bald eine schwere Heuallergie plagte, baute er den Hof zu Ferienwohnungen um. Die hat er heute noch und seine Gäste können von den Ammergauer Alpen bis zum Wächter des Allgäus, dem Grünten, das ganze Bergpanorama sehen und im Gartenpavillion die Fotos von Betz‘ Erfolgen bestaunen.
So gerne er auf den Ski steht, eine Karriere auf Brettern kam für Paul Ebentheur nie in Frage. „Dafür bin ich viel zu lagg (allgäuersich für „faul“). Die Lauferei beim Sommertraining des Skiklubs hat mir schon gereicht. Aber die Wettkämpfe am Wochenende haben mir richtig Spaß gemacht“, erzählt er Franz Betz. Also hat er doch ein bisschen Athletenblut in den Adern. Skifahren ist für ihn aber vor allem mit der Freude am Zusammensein mit Freunden verbunden, etwas gemeinsam auszuprobieren und zu sehen wie jeder immer bessere Sprünge schafft. Den neuen Snowpark in seinem Heimatort, der Anfang 2015 eröffnet wurde, findet er toll. Dort kann er auch nach seinen Skikursen noch ein paar Stunden auf die Piste gehen und den gerühmten Flow des Parks mit seinen trickreichen Hindernissen ausprobieren. „Wenn ich vierzig Jahre jünger wäre, würde ich auch alles mitmachen“, meint Franz Betz verschmitzt.
Er findet es toll, dass es für jeden im Allgäu das Passende gibt, um den Winter in all seinen Facetten zu genießen: Beim Schneeschuhlaufen, auf den vielen Langlauf- und Skatingloipen mitten durch die weißen Märchenlandschaften, beim Schnupperbiathlon – und natürlich beim Skifahren selbst. Kein anderer Sport hat sich so schnell und vielfältig verändert. Waren zu Franz Betz Kindheit Holzski noch eine Selbstverständlichkeit, haben sie heute bereits die x-te Revolution hinter sich. Betz hat selbst die ersten Kunststoffski im Langlauf über 30 km bei der Deutschen Meisterschaft 1974 ausprobiert. Ein Wagnis, bekam er diese doch erst kurz vor dem Wettkampf. Während des Rennens zog er an der Langlauf- Größe Walter Demel vorbei. Der schnallte vor lauter Zorn seine hölzernen Teile ab und warf sie in den Schnee. Skigeschichte.
Später haben in der Abfahrt die breiten Carvingski das Skifahren revolutioniert. Mit ihnen können Anfänger heute in den zahlreich angeboten Kursen schon nach wenigen Stunden die ersten Schwünge fahren. Schnelle Seilbahnen mit Gondeln und Mehrfach-Sesseln sind heute Standard. Vergessen die Zeiten, als man sich am Lift klamm fror und windschiefe Grimassen schnitt, wenn man mit halbverfrorenem Gesicht versuchte, zu lachen. Franz Betz genießt den Komfort und findet es auch großartig, unterhalb seines Hauses gleich in die Langlaufloipe einzusteigen: „Früher haben wir die ja noch selbst gespurt, heute kann ich gleich loslegen“, meint der ehemalige Meisterläufer.
Die Sonne schickt langsam sanfteres Licht in die Allgäuer Gipfel und die Winterlandschaft wechselt ihre Farben von strahlendem Weiß in warmes Goldgelb, fast so, wie der Tag begonnen hat. Zeit, Abschied vom Wintertraum zu nehmen, aber nur bis zum nächsten Morgen. „Zum Glück“, meint Paul, „hier bin ich geboren, hier ist für mich Heimat und ich weiß, ich gehöre zu diesen Bergen.“ Franz Betz nickt zustimmend und man weiß, sein Herz fühlt genau dasselbe.