Mit zunehmendem Alter nimmt die Erkrankungshäufigkeit zu - und damit einhergehend auch der Arzneimittelverbrauch. Fast die Hälfte aller verordneten Arzneimittelpackungen geht an Versicherte über 65 Jahre, obwohl sie lediglich ein Fünftel der Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) stellen. Gleichzeitig sind speziell ältere Menschen besonders anfällig, unerwünschte Wirkungen zu erleiden. Für einige Arzneimittel ist das Risiko unerwünschter Wirkungen bei älteren Patienten besonders hoch, und diese Risiken sollten möglichst vermieden werden. Das Bundesministerium für Gesundheit hat in seinem Aktionsplan zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit 2008/2009 die Maßnahme festgelegt, eine für Deutschland angepasste Liste von potenziell ungeeigneten Arzneimitteln zu erstellen. Wissenschaftler der Universität Witten/Herdecke und des HELIOS-Klinikums Wuppertal - Prof. Petra Thürmann und Mitarbeiter - haben im Rahmen des Verbundprojektes PRISCUS gemeinsam mit weiteren Experten eine solche Liste entwickelt. Die PRISCUSListe umfasst 83 Arzneistoffe, die als potenziell ungeeignet für Patienten ab einem Alter von 65 Jahren bewertet wurden.
Mehr als die Hälfte dieser Wirkstoffe wirken auf das Nervensystem, wie eine Reihe von Antidepressiva, Schlaf- und Beruhigungsmitteln sowie Mittel gegen Psychosen. Auch unter den Wirkstoffen zur Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden 17 Substanzen als potenziell inadäquat zum Einsatz bei älteren Patienten eingestuft. Zudem sollten acht Arzneimittel zur Behandlung von rheumatischen Erkrankungen und Schmerzen möglichst nicht bei älteren Menschen verwendet werden.
Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) hat nun analysiert, in welchem Umfang ältere Patienten mit diesen Arzneimitteln im Jahr 2009 therapiert wurden. Danach hat - basierend auf der Analyse von mehr als 6 Millionen anonymisierten Patientendaten - nahezu jeder Dritte (29 %) der GKV-Versicherten ab 65 Jahre im Jahr 2009 von seinem Arzt mindestens ein Arzneimittel verordnet bekommen, das nach der nun vorliegenden Liste für ältere Patienten als potenziell ungeeignet gilt.
Ein detaillierter Blick in die Verordnungsdaten der mehr als 70 Millionen Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2009 zeigt:
- Mit steigendem Lebensalter der älteren Patienten steigt die Wahrscheinlichkeit mit einem Arzneimittel behandelt zu werden, das mit besonderen Risiken verbunden ist. Bei 6,6 % aller Arzneimittelverordnungen für hochbetagte Patienten mit einem Lebensalter über 90 Jahre trifft dies zu (siehe Abbildung 1).
- Ältere Frauen haben gegenüber älteren Männern ein deutlich höheres Risiko, ein potenziell ungeeignetes Arzneimittel zu erhalten. So haben ca. 32 % der Frauen ab 65 Jahre gegenüber 24 % der Männer im Jahr 2009 mindestens einmal ein Arzneimittel der PRISCUS-Liste verordnet bekommen. Im Jahr 2009 wurde im Durchschnitt jeder Versicherter über 65 Jahre 39 Tage mit potenziell ungeeigneten Arzneimitteln therapiert: Bei Frauen lag dieser Wert mit 42 Tagesdosen im Mittel um rund 20 % über dem der Männer mit 34 Tagesdosen (siehe Abbildung 2).
- Ältere Frauen werden mit potenziell ungeeigneten Arzneimitteln insbesondere aus dem Bereich Psychopharmaka wie Schlaf- und Beruhigungsmittel (23 %) und Mittel gegen Depressionen (21 %) behandelt (siehe Abbildung 3), Männer eher mit Arzneimitteln zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen (25 %, siehe Abbildung 4).
Die zehn verordnungsstärksten Arzneimittel der PRISCUS-Liste im Jahr 2009, auf die bereits knapp 25 % aller ungeeigneten Arzneimittel für ältere Menschen entfallen, finden sich in Tabelle 1: Auf Platz 1 liegt mit mehr als 25 Millionen verordneten Tagesdosen an älteren Patienten im Jahr 2009 das Schmerzmittel Arcoxia mit dem Wirkstoff Etoricoxib, gefolgt von Vesicur auf Platz zwei, einem Arzneimittel gegen übermäßigen Harndrang. Schwerpunktmäßig handelt es sich bei den diesbezüglich meistverordneten Arzneimitteln um psychogene Substanzen wie Schmerzmittel und Antidepressiva sowie Mittel zur Behandlung von Herz- Kreislauf-Erkrankungen. Arzneistoffe oder Arzneistoffklassen dieser PRISCUS-Liste sollten aufgrund ihrer mangelnden Wirksamkeit oder ihres Nebenwirkungsrisikos generell bei Älteren vermieden werden. Ihre Verordnung erfolgt in der Regel auch ohne Not, da - in der PRISCUS-Liste benannt - sicherere Therapiealternativen vorhanden sind.
Sollte im Einzelfall auf den Einsatz dieser gelisteten Arzneimittel nicht verzichtet werden können, so werden ebenfalls notwendige Maßnahmen - wie etwa begleitende regelmäßige Kontrolluntersuchungen - benannt. Damit steht den Ärzten in Deutschland erstmals eine spezifisch für den deutschen Arzneimittelmarkt angepasste Liste als konkrete Hilfe für den Verordnungsalltag zur Verfügung. Nun gilt es, diese Informationen für die Arztpraxen nutzbar zu machen, um die Qualität der Arzneimittelversorgung bei älteren Patienten zu verbessern.
Die AOK trägt hierzu bei, indem die AOK-Beratungsapotheker die Arzneimittelversorgungsqualität älterer Patienten anhand der PRISCUS-Liste in ihre Arztberatung einbeziehen. Darüber hinaus werden den AOK-Versicherten über den AOK-Gesundheitsnavigator kostenfrei Arzneimittelbewertungen der Stiftung Warentest zur Verfügung gestellt. Aktivitäten der Ärzteschaft, sich im Rahmen einer aktuellen Fachveranstaltung bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung intensiver mit dieser Problematik auseinanderzusetzen, sind zu begrüßen. Nur gemeinsam kann es Ärzten und Kassen gelingen, diese wissenschaftlichen Erkenntnisse schnell in der Praxis umzusetzen, um unnötige Risiken beim Arzneimitteleinsatz für ältere Patienten zu vermeiden.