Anlässlich des Expertengesprächs im Gesundheitsausschuss forderte die AOK die Bundesregierung auf, im Interesse der Patienten von diesen Plänen Abstand zu nehmen. Besser für die Versicherten und für die Gesundheitswirtschaft sei die Entwicklung eines speziell auf die gesetzliche Krankenversicherung ausgerichteten Gesundheitswettbewerbsrechts. Damit lasse sich auch die mit der GWB-Novelle verbundene erneute Schwächung der Rechte des Deutschen Bundestages vermeiden.
Jürgen Graalmann, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, sagte hierzu: "Das privatrechtliche Kartellrecht und die soziale Krankenversicherung passen nicht zusammen. Folge dieser unbedachten Änderung ist, dass Kooperationen der Krankenkassen und ihrer Verbände dann grundsätzlich dem Kartellverbot unterliegen. Gemeinsame Kassenaktionen zum Beispiel bei der Krebsvorsorge oder bei Schutzimpfungen würden erschwert oder gar verhindert." Auch ein Abbau der Rechte von Bundestag und Bundesländern und eine demokratisch nicht legitimierte Stärkung der EU-Bürokratie sei die Folge der geplanten Implantation eines unverträglichen Fremdkörpers ins deutsche Sozialrecht.
Graalmann: "Mit dieser Novelle gibt die Bundesregierung Regelungskompetenzen für die deutsche Gesundheitsversorgung an die Brüsseler EU-Kommission ab. Die demokratisch legitimierte Kompetenz von Bundesländern und Bundestag in Sachen Gesetzliche Krankenversicherung wird ohne erkennbaren Nutzen für die Versicherten an Brüssel übertragen."
Die AOK hätte überhaupt kein Problem mit einer fairen Wettbewerbskontrolle, betonte Graalmann. Die Frage sei aber zunächst einmal, für wen man den Wettbewerb organisiere. Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung müsse den Patienten und Beitragszahlern nutzen und die medizinische Versorgung verbessern. Der Wettbewerb in der GKV folge nicht in erster Linie rein wirtschaftlichem Kalkül. Die Kassen wollten ihren Patienten vor allem gute und effiziente Behandlung bieten.
Nicht zuletzt deshalb weise die AOK immer wieder darauf hin, dass die Krankenkassen mehr Handlungsspielraum brauchen, um etwa mit ausgewählten Krankenhäusern gute Versorgungsverträge schließen zu können. In diesem Verhältnis von Kassen und Leistungserbringern gelte das Wettbewerbsrecht bereits seit dem 01.01.2011 - so auch für die Arzneimittel-Rabattverträge.
Bisher sei die Bundesregierung hier an der Seite der Krankenkassen gestanden.
Noch in einer Stellungnahme der Bundesregierung gegenüber der EU-Kommission vom Oktober 2011 heiße es wortwörtlich: "Die von den gesetzlichen Krankenkassen angebotene Krankheitskostenvollversicherung ist keine wirtschaftliche Tätigkeit." Damals ging es um den Vorwurf, die gesetzlichen Angebotsmöglichkeiten von Wahltarifen verstießen gegen EU-Wettbewerbsrecht. Dagegen habe sich die Regierung selbstverständlich gewehrt. Jetzt, nur ein paar Monate später, würden dieselben Ministerien eine Kartellrechtsnovelle auf den Weg bringen, die das Gegenteil bewirken solle.
Durch die erweiterte Anwendung des Kartellrechts drohe Deutschland der Verlust der demokratisch legitimierten nationalen Regelungskompetenz für weite Teile der Gesundheitsversorgung. Wenn der deutsche Gesetzgeber die gesetzlichen Krankenkassen so, wie geplant, dem Kartellrecht unterstelle, behandle er sie wie privatwirtschaftliche - also gewinnorientierte - Unternehmen.
Bisher folge der Europäische Gerichtshof der deutschen Rechtsauffassung, dass gesetzliche Krankenkassen keine gewinnorientierten Unternehmen sind.
Graalmann: "Warum sollte der EuGH daran festhalten, wenn Deutschland nun selbst durch seine Regierung diese Auffassung durch die Änderung des Kartellrechts in Frage stellt? Will das Wirtschaftsministerium wirklich das deutsche Sozialrecht aufs Spiel setzen oder erkennt der Wirtschaftsminister nur die Gefahr nicht? Die Bundesregierung würde mit dieser GWB-Novelle die eigene Argumentation vom Oktober 2011 durch eigenes gesetzgeberisches Handeln aus den Angeln heben. In der Folge wäre laut EU-Recht die EU-Kommission für Grundsätze und Einzelfragen der beihilfen-, steuer- und wettbewerbsrechtlichen Regulierung von Krankenkassen zuständig, ohne dass Deutschland direkten Einfluss nehmen könnte."
Graalmann verwies darauf, dass die Kassen bereits jetzt wirksamer Aufsicht auch bei wettbewerbsrelevanten Fragestellungen unterliegen. Dafür seien das Bundesversicherungsamt bzw. die Aufsichtsbehörden in den Ländern zuständig. Parallel prüfe auch der Bundesrechnungshof die Krankenkassen. Dieser habe kürzlich ausdrücklich noch mehr Kassenkooperationen - als Alternativen zu Vereinigungen - gefordert. Mit der geplanten Wettbewerbsrechtsnovelle käme das Bundeskartellamt als weitere Behörde, und zwar mit industrieökonomischen Prüfungsmaßstäben, hinzu. Graalmann: "Zusätzlicher Wettbewerb braucht eine sinnvolle Regulierung. Diese sollte im Sozialrecht getroffen werden und nicht durch europarechtlich geprägtes Wirtschaftsrecht. Ziel des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung sind effiziente Versorgungsstrukturen und nicht üppige Renditen. Die jetzt vorgesehenen Neuregelungen für Krankenkassen bringt Deutschland diesem Ziel keinen Schritt näher. Aber das Bundeskartellamt wird durch die Novelle zur zusätzlichen Kontrollbürokratie der Kassen."
Statt sich gemeinsam um eine bessere Versorgung der Versicherten kümmern zu können, müssten sich die Kassen dann vor allem darauf konzentrieren, widersprüchliche Rechtsbestimmungen in Einklang zu bringen. Das ginge nicht nur zu Lasten der Patienten und Versicherten, sondern widerspräche den Zielvorgaben des Fünften Sozialgesetzbuchs. Darin wird in Paragraf 4 ausdrücklich gefordert, dass gesetzliche Krankenkassen im Interesse der Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit eng zusammenarbeiten. Das geplante Verbot einer engen Zusammenarbeit mittels Kartellrecht laufe dem zuwider.