Laut Tammen-Parr ist Gewalt in der häuslichen Pflege ein Tabuthema. Daher ist nur wenig erforscht, wie häufig Aggressionen zwischen Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen vorkommen. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. schätzt, dass jährlich etwa 600.000 alte Menschen über 75 Jahren von Gewalt in ihrem nahen Umfeld betroffen sind. "Die Dunkelziffer liegt allerdings mit Sicherheit viel höher", schätzt die Sozialpädagogin. Ihrer Erfahrung nach äußert sich Gewalt in der Pflege auf vielfältige Weise.
Häufiger als körperliche Auseinandersetzungen sind verbale Entgleisungen wie Schimpfen, Schreien und Drohen. Nicht immer sind nur die Pflegebedürftigen die Leidtragenden, sondern sie selbst machen mitunter den pflegenden Angehörigen das Leben schwer - etwa, indem sie ständig an ihnen herumnörgeln oder bewusst die Pflege erschweren.
Überforderung ist oft Ursache für Gewalt
Eine Ursache für Gewalt in der Pflege sieht die Sozialpädagogin in der Überforderung der pflegenden Angehörigen. "Die meisten Pflegenden fangen sehr engagiert an, sind jedoch durch die große Belastung mit der Zeit erschöpft", schildert sie ihre Erfahrungen. In Deutschland werden etwa zwei Drittel der pflegebedürftigen Menschen zu Hause gepflegt, die durchschnittliche Pflegedauer beträgt inzwischen 9,6 Jahre. Die Hauptpflegearbeit leisten Frauen, häufig sind es die Ehefrauen, Töchter und Schwiegertöchter der Pflegebedürftigen.
Problematisch ist auch, wenn es durch die Pflegesituation zu einem Rollentausch kommt. "In manchen Fällen müssen plötzlich Frauen wichtige Entscheidungen treffen, deren dominanter Ehemann früher alles bestimmt hat. Ein solcher Rollentausch kann zu Konflikten führen", weiß Tammen-Parr. Schwierig ist es beispielsweise, wenn der pflegebedürftige Ehemann die Hilfe durch einen Pflegedienst ablehnt, während die pflegende Ehefrau dringend Entlastung benötigt. Dazu kommt, dass sich Frauen oft weit über ihre Grenzen hinaus belasten und sich zu spät Unterstützung holen. Eine Konfliktsituation kann zudem entstehen, wenn die Angehörigen dem alten Menschen versprochen haben, ihn auf keinen Fall ins Pflegeheim zu geben und dann feststellen, dass sie die Pflege nicht mehr bewältigen können.
Nicht selten brechen während der Pflege außerdem ungelöste Familienkonflikte auf, die jahrzehntelang unter den Teppich gekehrt wurden. "Pflege bedeutet immer Beziehungsarbeit, bei der sich die Beteiligten sehr nahe kommen - oft näher, als ihnen lieb ist", weiß Tammen-Parr. Das kann belastend sein und zu Enttäuschungen führen.
Bei Problemen das Gespräch suchen
Die Sozialpädagogin rät pflegenden Angehörigen, sich nicht für negative Gedanken und Aggressionen zu schämen, sondern das Gespräch zu suchen. An die Berliner Beratungsstelle "Pflege in Not" wenden sich monatlich durchschnittlich 150 Hilfesuchende. Die meisten sind pflegende Angehörige, die merken, dass sie Dinge tun, die sie nicht tun wollen, dass ihr Ton lauter und ihre Handgriffe härter werden.
In Gesprächen mit den Betroffenen suchen Tammen-Parr und ihre Kolleginnen nach den Ursachen für die Aggressionen und versuchen, Schritt für Schritt gemeinsam eine Lösung zu finden. Das können Entlastungsmöglichkeiten sein oder die Erkenntnis, dass sich bestimmte Wünsche nicht erfüllen werden. "Beispielsweise litt eine pflegende Tochter sehr darunter, dass ihre Mutter ihr wenig Wertschätzung entgegen brachte", erzählt Tammen-Parr. "Dies war schon früher der Fall und änderte sich auch nicht, obwohl sie ihre Mutter aufopfernd pflegte. Nachdem die Tochter dies schweren Herzens akzeptiert hatte, wurde die Pflege für sie leichter."
Generell können sich pflegende Angehörige bei Problemen an die Experten der AOK sowie an den örtlichen Pflegestützpunkt wenden. Sie können ihnen mit Adressen von Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen weiterhelfen. Fachleute der AOK beantworten zudem im Ratgeber-Forum "Pflege" im Internet Fragen zu Themen aus dem Pflegealltag.
Weitere Informationen auf der Internetseite der AOK sowie auf der Homepage von "Pflege in Not" und des Berliner Gesundheitspreises