Hermann Wagner
So könnte es gewesen sein …
Hermann steht nackt vor dem Badezimmerspiegel und mustert sein Äußeres: blasser Körper, noch feucht von der Dusche, eine Haut, die seine magere Gestalt in Falten umschließt wie ein Anzug, den er zwei Nummern zu groß gekauft hat. Muttermale übersäen seinen Körper wie schlampig angenähte Knöpfe. Garn ragt aus ihnen empor, harte Borsten, die im Laufe der Jahre zugenommen haben wie Ungeziefer. Er hört den Lärm im Erdgeschoss. Die Musik ist leise, aber sie hat vergessen, ihre Schuhe auszuziehen, ihre Tanzschritte sind ungeschickt. Wenn sie ihren Tanz für ihn aufführt, schaut er sie voller Bewunderung an, als sei sie die beste Tänzerin der Welt. Dann ruft er „Bravo“ und klatscht übermäßig laut in die Hände. Es irritiert ihn, dass sie kein Talent hat und keine Fortschritte macht, obwohl sie die Tanzschritte täglich übt. Kinder sollten geschmeidige Gelenke haben und mühelos einem Rhythmus folgen können, da sie noch nicht durch Scham oder Bewusstsein gehemmt werden. Sie nicht. Sie rudert mit ihren Armen, bewegt ihren Kopf auf eine lächerliche Art und zieht die Knie beim Tanz zu stark nach oben. Ihre Hüften sind stocksteif, ihr Zwerchfell bewegt sich nicht. Sie schafft es, sich konsequent gegen den Rhythmus der Musik zu bewegen.
Immer ein wenig zu spät, wie eine mechanische Puppe, deren Batterien zur Neige gehen. Ihre Augen sind halb geschlossen, die Pupillen durch ihre zittern den Augenlider gerade zu sehen – wie der Ausdruck einer Blinden. Ihren schmalen Mund hält sie leicht geöffnet, von Popstars mit monströs aufgeblasenen Silikonlippen kopiert. Er möchte sie anbrüllen, dass sie mit ihrem lächerlichen Tanz aufhören soll, aber das hat sie nicht verdient. Sie verdient einen Applaus und ein Bravo. Er ist ihr größter Fan. Wenn er sie nicht bewundert, wird es niemand tun. „Noch einmal“, flüstert Hermann, während er sich im Spiegel betrachtet, den Körper mit den Muttermalen und der weißen, schlaffen Haut, aus deren Poren jetzt trotz seiner Nacktheit der Schweiß ausbricht. Seine Therapeutin meint, er müsse an seinem Selbstwertgefühl arbeiten. Sie schiebt seinen Selbsthass auf seine Jugend zurück, auf eine lieblose Mutter und einen Vater, der nie da war. Er hat seine Mutter seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Sie ist eine dumme Frau mit sinnlosen Weltanschauungen, basierend auf Angst und einer chronischen Unwissenheit, und sie verdient den Tod. Aber in einem Punkt hat sie recht behalten: Er ist unfähig, für nichts gut. Sein Selbstbild entspricht der Realität, dafür muss er sich bei seiner Mutter bedanken.
Langsam wächst seine Erektion. Diesen Teil seines Körpers kann er nicht ansehen. Zu eklig, zu widerlich. Der fleischgewordene Beweis für seine Schwäche.
Welche Art von Mann wäre er wohl ohne diesen Ekel, ohne dieses ständige Gefühl von Unsauberkeit, das ihn zwingt, sich mindestens dreimal am Tag zu duschen und sich mit einem Seil zu geißeln, das er für diesen Zweck gekauft hat? Seine Therapeutin scheint dies nicht verstehen zu wollen.
Er zieht eine Jogginghose und ein übergroßes T-Shirt an. Die Jeans und das Hemd, das er bei seiner Ankunft getragen hat, stopft er in seine Tasche. Er nimmt ein Handtuch aus dem Regal und wischt damit den Boden, obwohl er weiß, dass er bald wieder duschen wird. Danach hängt er das Handtuch zum Trocknen auf den Wäscheständer.
Er kämmt seine Haare mit dem Kamm ihrer Mutter, eine Hündin, ein Emporkömmling, mit irgendeinem Job bei der Bank, der zu gut bezahlt wird. Er sieht die Verachtung in ihren Augen, auch wenn sie freundlich lächelt und in jedem Satz seinen Namen nennt, als wolle sie einer innigen Verbundenheit Nachdruck verleihen. „Hermann, der Kühlschrank ist voll, iss, wonach dir ist.“ – „Hermann, wir wollen doch nicht, dass unsere Tochter fernsieht.“ – „Hermann, ich versuche, um sechs Uhr zu Hause zu sein, aber du wirst es mir nicht übel nehmen, wenn ich mich verspäte.“ Hermann, wir sind dicke Freunde, deshalb zahle ich dir einen Mindestlohn, während ich nicht weiß, wofür sonst ich meinen lächerlichen Stundenlohn, außer für unnötige Geschenke und Markenkleidung für meine Tochter, ausgeben soll. Sie sieht sich selbst als moderne Frau, sie hat ein männliches Kindermädchen. Der Vater des Mädchens ist kaum anwesend. Hermann hat ihn in achtzehn Monaten vielleicht zweimal gesehen. Der Vater spricht ihn nicht mit seinem Namen an, vermutlich, weil er ihn nicht kennt, und er sieht ihn erstaunt an, als frage er sich, was Hermann in seinem Haus macht. Das Kind hat die Augen des Vaters. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie denselben harten Ausdruck bekommen, bedingt durch die genetische Vererbung und verstärkt durch die Abwesenheit des Vaters – sie kann ihm später dafür danken. Zweifellos wird das Kind, trotz mäßiger Intelligenz, mithilfe teurer Nachhilfestunden ein Gymnasium besuchen und danach eine Wirtschaftsschule, die sie nur mit Mühe abschließen wird. Danach dienen die Kontakte von Mama und Papa der Förderung ihrer Karriere, und erst dann wird ihr dieser kalte, einschüchternde Augenausdruck nützlich sein. „Ich bin ein Sieger und du bist ein Verlierer“, sagt dieser Blick. Hermann hat den Hunger in den Augen der Mutter gesehen – den gleichen Hunger, den er in den Augen der Tochter sieht, die für die Liebe des Vaters alles tun wird, vielleicht sogar für ihn töten. Hermann erkennt das Muster. Der Vater entzieht Mutter und Tochter die Liebe. Wenn sie nach ihr lechzen, schenkt er ihnen ein wenig Aufmerksamkeit, eine winzige Berührung, einen emotionslosen Kuss, gerade genug Nahrung, um sie leben zu lassen, aber nicht genug, um sie zu befriedigen.
Die Tochter wird eines Tages nie mehr Schwäche zeigen, keine Liebe mehr einfordern, weder von ihrem Vater noch von jemand anderem, und sie wird diese Kälte einsetzen, um zu überleben, nicht ahnend, dass sie damit ihrem Vater nur einen Dienst erweist, die letzte Ehre „Ich bin wie du.“
Während der Vater eine wichtige Beute jagt und die Mutter sich benimmt, als sei sie auch eine Jägerin, pflückt Hermann die Beeren in ihrem Garten und wacht über den Nachwuchs. Tiefer kann er, was ihre Nahrungskette anbelangt, nicht sinken. Sie brauchen ihn, um ihre gesellschaftliche Stellung zu behaupten. Nur deshalb legt der Vater ihm fürs Beerenpflücken ein Trinkgeld auf den Tisch. Der Vater und die Mutter betrachten die Tochter als ihren kostbarsten Besitz und glauben, es sei Liebe.
Inzwischen wacht Hermann über die Tochter. Er mag keine Hunde, aber Kinder mag er durchaus. Oh ja, Kinder mag er sehr. Er wird nicht verhindern können, dass aus ihr die skrupellose Erwachsene wird, aber er kann ihr zumindest etwas geben. Noch ist sie klein und angewiesen auf einen Vater und eine Mutter ohne Empathie. Es wird Zeit, nach unten zu gehen. Er kann sich nicht retten, aber er kann den Versuch unternehmen, sie zu retten, obwohl seine Bemühungen immer zum Scheitern verurteilt sind. Liebe ist schließlich das Einzige, wonach sie sich sehnt, wie jedes andere Kind.
Hermann weiß, dass die Liebe ihn danach zur Dusche eilen lässt. Er hat sich zwar geschworen, dass es das letzte Mal sein wird, aber für wen? Weil er in den Augen der Gesellschaft ein guter Mensch sein möchte. Weil er ein Feigling ist und wie der Rest der Menschheit sich nach Anerkennung sehnt. Papa und Mama lieben mich. Mama, ich bin nicht so böse wie du glaubst.
Das Mädchen geht ihm nicht aus dem Kopf. Er ist in Gedanken bei ihr, dem Kind, das im Erdgeschoss seinen grauenhaften Tanz aufführt. Er muss seine abscheulichen Gefühle überwinden. Das Richtige tun. „Komm jetzt“, sagt er zu seinem Spiegelbild, das ihn weniger ängstigt, jetzt, wo er nicht mehr nackt ist. Er geht barfuß die Treppe hinunter und bleibt an der Tür des Wohnzimmers stehen. Die Musik erreicht sein rechtes Ohr, das er an die Tür gelegt hat, aber das Kind tanzt nicht mehr. Er drückt die Türklinke nach unten und zögert, zwei Atemzüge lang.
„Du kannst es“, sagt er leise. „Ich kann es!“ Sie sitzt auf dem Boden mit ausgestreckten Beinen und geradem Rücken, mühelos, wie das nur Kinder können. Ihr weißes Kleid mit den langen Ärmeln – die Farbe verleiht ihrem Teint eine krankhafte Blässe – hat sich hochgeschoben und er sieht ihre geblümte Strumpfhose, die Konturen ihres Höschens. Sie hat dunkle Ränder unter den Augen, die heute noch schön sind, ziemlich groß und rund in dem schmalen Gesicht. Später werden sie blass und zusammengekniffen, wie die Augen eines Fuchses, ihrem Gesicht einen unangenehmen Ausdruck verleihen. Sie blickt ihn mit einer Mischung aus Hoffnung und Angst an. „Ich bin es“, sagt er und geht in die Knie. Sie zieht ihre Beine an und rutscht einige Meter zurück. Grob nimmt sie ihren Arm zurück, als er versucht, sie zu streicheln. Er atmet tief ein und wieder aus. Er deutet ihr Verhalten nicht als Ablehnung.
Wenn sie sich ihm widersetzt, dann nur, weil menschliche Wärme sie mehr erschreckt, mehr als Kälte. Er erinnert sich noch gut an jene seltenen Momente, in denen seine Mutter ihn streicheln wollte und er zurückschreckte, weil er wusste, dass der Arm, der ihn liebkoste, jeden Moment mit Wucht zuschlagen konnte. Einsamkeit ist sicherer als Zuneigung. Er kennt den Mechanismus wie kein anderer. Er muss sich weiter um das Kind kümmern. Er kann nicht erwarten, dass sie sich von einem Tag auf den anderen öffnet, um sich dem Unbekannten hinzugeben. Er wird ihr zeigen, dass sie sich auf ihn verlassen kann und nicht befürchten muss, dass er sie eines Tages im Stich lässt. Für ihn ist es zu spät, er kann nicht ohne Angst kapitulieren. Er muss sich bestrafen, weil er tief in seinem Herzen glaubt, dass er die Liebe nicht verdient. Er berührt sie wieder, sehr vorsichtig. Er streichelt sanft ihren Arm. Wieder sieht sie zu ihm auf, und ihm wird bewusst, dass er zum Äußersten gehen wird. Es ist der dominante Blick der Mutter. Wenn sie ihn eines Tages mit dem Gesichtsausdruck des Vaters ansieht, weiß er, dass seine Arbeit erledigt ist. Dann ist sie bereit für die Jagd und wird ihn verleugnen. Der Verlierer.
Der Trottel, der für sie gekocht hat.
So weit ist es noch nicht. Er zieht sie aus und sie lässt sich schlaff hängen, wie eine Puppe. Sie muss wissen, dass es auf dieser Welt Menschen gibt, die sie lieben und die sie lieben kann. Er fragt sich, wie viele Opfer er noch aufbringen muss, bis sie das versteht. Ich kann dich nicht retten, sagt eine Stimme in seinem Kopf, aber ich gebe mein Bestes, Schätzchen. Es verwirrt ihn, dass er einen Teil ihrer reinen Kinderseele schützen möchte. Rational weiß er, dass sie den Vater in sich trägt, wie seine Mutter ein Teil von ihm war. Sie soll ein Teil von ihm sein, leicht beschädigt und auf Dauer gänzlich verloren. Sie wirkt so unschuldig, wenn sie tanzt, aber sie zeigt heute schon Züge, die sie später unerträglich werden lassen. Sie wird dafür bestraft, mit einem Körper, der sich nach allen Seiten wölbt und sich nicht mehr in ein weißes Kleidchen und eine Strumpfhose mit Blümchenmuster pressen lässt. Ihre farblosen Knospen werden zu monströsen braunen Brustwarzen anschwellen wie gebratene Eier. Die kleinen blonden Haare an den Beinen werden sich in drahtige, dunkle Borsten verwandeln, die sich nur mit einem Rasiermesser bändigen lassen, wie das borstige Gestrüpp zwischen ihren Beinen… Nicht auszumalen, dass eines Tages ihre Verdorbenheit wie eine unterirdische Giftquelle an die Oberfläche kommen wird. Plötzlich ist er in Eile. Er weiß, dass er handeln muss, die finsteren Gedanken werden ihn sonst beherrschen. Er kann dem Kind die perversen Pläne von Mutter Natur nicht zum Vorwurf machen, das wäre unfair. Mit einem Ruck schließt er im Wohnzimmer die Vorhänge, stellt die Musik lauter, damit er und das Kind draußen nicht zu hören sind. Ohne sie anzusehen, legt er seine Kleider ab und schenkt ihr seine Nacktheit. Er legt sie auf die Couch, wo sie sich nur kurz widersetzt, erschrocken über seine Haut auf der ihren, von der Intimität, von der nur sie weiß, wenn er sich ihr nähert. Sie schreit wie ein wildes Tier, das zum ersten Mal berührt wird. Er legt eine Hand auf ihren Mund, um sie zu beruhigen.
Als sein liebevoller Blick ihr offenbar zu viel wird und sie die Augen schließt, um sich dem Unvermeidlichen hinzugeben, spürt er zum ersten Mal einen Hauch von Zufriedenheit aufkommen. Er weiß, er kann dem Kind geben, was es braucht. Und wenn nötig, wird er das immer wieder tun, bis sie eines Tages nicht mehr für ihn tanzen muss, weil sie sich seiner Hingabe sicher ist.
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