Das Genie
Die Gerüchte um Harvey Weinstein und Dieter Wedel werfen eine alte Frage auf: Was darf ein Genie? Ist es erlaubt, ihm anzudeuten, dass es Grenzen gibt? Wie soll ein Genie ernsthaft arbeiten, wenn ihm nicht verlässlich aufstiegswillige Jungschauspielerinnen zugeführt werden? Wie soll man ohne Nackt-Castings überhaupt zu einer objektiven Entscheidung kommen? Muss das Genie hinterher selbst aufräumen? Und wie hat es Mario Adorf geschafft, von Dieter Wedel besetzt zu werden?
Das Genie unterscheidet sich von der Masse zunächst dadurch, dass es die Dinge anders sieht, Probleme anders löst und den Schal anders trägt. Ein Genie hat Ideen, die keiner zuvor hatte. Dem Genie ist es vollkommen egal, was andere denken. Erstens ist ihm lange Zeit gar nicht bewusst, dass es außer ihm und Mutti noch so etwas wie „andere“ gibt, und zum Zweiten würde es nie auf die Idee kommen, deren Hirntätigkeit als „denken“ zu bezeichnen. Andererseits braucht das Genie Verehrer. Am besten eine Verehrergemeinde. Ohne diese ist eine artgerechte Geniehaltung praktisch unmöglich. Genie ohne Kult ist wie Nutella aus Nüssen, von der Natur einfach nicht vorgesehen.
Möglicherweise lebt der Geniekult davon, dass die Bewunderer zum richtigen Zeitpunkt hinschauen: Also nicht gerade dann, wenn Goethe nur scheinbar aus wissenschaftlichem Antrieb, tatsächlich aber aus purer Langeweile, Fliegen die Hinterbeine ausreißt oder Nietzsche im Delirium mit Zwergen spricht. Sondern wenn ein mehrstündiges Drama verfasst oder ein Satz wie „Die Frau war Gottes zweiter Fehler!“ aus dem Handgelenk geschüttelt wird. Andererseits werden Genies, ehe sie erkannt werden, zunächst einmal verkannt. Tragisch erging es besagtem Friedrich Nietzsche, der erst, als er bereits sanft in die geistige Umnachtung geglitten war, von seiner Schwester zum Geistesriesen hochgepflegt wurde. Das ist so, als wenn am ersten Samstag, nachdem du dein Lottoabonnement gekündigt hast, die von dir dreißig Jahre lang erfolglos getippten sechs Zahlen gezogen werden: ein bissel spät.
Aristoteles, Leonardo da Vinci, Alexander von Humboldt, Ludwig van Beethoven, Charles Darwin, Pablo Picasso, Christian Lindner, Kommissar Rex. Die Liste der menschlichen Genies ist auf empörende Weise frauenfrei. Das liegt mal wieder daran, dass Männer definieren, was genial ist. Stammte die Relativitätstheorie von einer Frau, würde sie als Hausarbeit gelten, auf einer Stufe stehend mit Suppe kochen oder Treppe feudeln. Dabei wird schon länger die Frage diskutiert, ob nicht Einsteins erste Ehefrau Mileva Maric die Relativitätstheorie entwickelt hat. Danach soll sich Einstein den Zettel mit einem „Hübsch ausgedacht, und jetzt zurück an den Herd!“ einverleibt und später als eigene Leistung verkauft haben. Umgekehrt würde die Migräne als kreative Großleistung gefeiert werden, hätte sie sich ein Mann ausgedacht...
Fortsetzung im Buch:
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