Im Mittelpunkt der Studie steht die Sichtweise von Eltern, die sich zu einer medikamentösen Behandlung ihrer an ADHS leidenden Kinder entschieden haben. Die Befragung von 5108 GEK versicherten Eltern (wovon 2298 den Fragenbogen beantworteten) mit einem Kind zwischen 6 und 18 Jahren, die mindestens ein Rezept für ein ADHS-typisches Medikament eingelöst hatten, zeigte unter anderem folgende Ergebnisse:
- 90 Prozent der betroffenen Eltern geben an, dass ihr Kind mit Schuleintritt massive Probleme aufgrund der Erkrankung bekam. Parallel steigt die Zahl der ärztlichen ADHS Diagnosen signifikant an. Eine Befragung von Schulbehörden ergab, dass Lehrer nur selten im Umgang mit ADHS-Kindern unterstützt werden.
- Nur 74 Prozent der Eltern wurden zu Fragen der Erziehung beraten, nur 60 Prozent der Kinder erhielten Beratung zum Umgang mit Problemsituationen.
- Nach Angabe der Eltern zeigen Medikamente die beste Wirkung, gleichzeitig bestätigt mehr als die Hälfte der Befragten dauerhafte Nebenwirkungen wie Appetitlosigkeit, Schlafbeschwerden, erhöhten Blutdruck, Müdigkeit oder Schwindel.
- Nur ein Fünftel der Kinder hat zu Beginn der medikamentösen Behandlung den empfohlenen wöchentlichen Arztkontakt, etwa die Hälfte war sogar nur einmal monatlich oder seltener beim Arzt.
- Eine ergänzende, oft hilfreiche Verhaltenstherapie wurde nur bei 27 Prozent der Kinder durchgeführt.
Für die Autorin des Reports, Professor Dr. Petra Kolip, vom Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen deuten diese Ergebnisse auf eine Lücke zwischen Behandlungsideal und Versorgungswirklichkeit: "Viele Eltern fühlen sich allein gelassen und suchen jahrelang nach Hilfe. Wenn dann die Diagnose vorliegt, ist es nicht mit der Verordnung eines Medikaments getan. Leider werden aber ergänzende Behandlungsformen wie kontinuierliche Beratung, Verhaltenstherapie oder Elterntraining relativ selten eingesetzt. Wichtig wäre auch eine stärkere Lehrereinbindung."
Domäne der Arzneimitteltherapie
Der Arzneimittelexperte und Mitautor der Studie, Prof. Dr. Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen (ZeS), bekräftigte den Befund und verwies auf eine GEK Steigerungsrate von 31 Prozent der Verordnungen von Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Methylphenidat oder Atomoxetin im Jahr 2006: "ADHS ist eine Domäne der Arzneimitteltherapie." Bei einer durchschnittlichen Behandlungsrate von 1,8 Prozent bundesweit zeigten sich auffällige Verteilungsmuster nach Alter, Geschlecht und Region: Jungen würden viermal so häufig behandelt wie Mädchen, das bedeute in der Spitze 6,2 Prozent der 10- bis 12-Jährigen. ADHS ist damit die am häufigsten diagnostizierte psychische Erkrankung bei Jungen.
Regionale Versorgungsunterschiede
Auch die regionale Spreizung ist beachtlich. So liegen laut Glaeske einige Postleitzahlbereiche wie Kaiserslautern, Mannheim, Hof, Bamberg oder Würzburg mit einer Behandlungsprävalenz von 4 bis 5 Prozent weit über dem Durchschnitt. Auch die Unterschiede bei Ausgabensteigerungen sowie Verordnungs- und Dosierungsmengen in verschiedenen Kassenärztlichen Vereinigungen seien auffällig. Zu möglichen Ursachen bemerkte das Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: "Ein dichtes regionales Angebot an Kinder- und Jugendpsychiatern bzw. spezialisierten Kinderärzten und eine allzu willige Verordnungsweise mögen hier und da zu Über- und Fehlversorgung führen." Gleichzeitig gebe es aber in anderen Regionen auch Hinweise auf Unterversorgung. "Auf dem Weg zu einer angemessenen ADHS Versorgung brauchen wir weitere Analysen und mehr Transparenz", resümierte Glaeske.
Der GEK Vorstandsvorsitzende, Dr. Rolf-Ulrich Schlenker, sprach sich für ein verstärktes Engagement und eine engere Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Eltern, Schulbehörden und Krankenkassen aus. Schlenker: "Alles spricht für eine stärkere Vernetzung. Wir haben deshalb viel versprechende Verhandlungen mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zu einem umfassenden Versorgungsangebot aufgenommen."