Ausgangspunkt der Studie sind ambulante Abrechnungsdaten von rund 15.000 Versicherten, die zwischen 2007 und 2008 bei der ehemaligen BARMER versichert waren und aufgrund der Diagnose Fibromyalgiesyndrom mindestens zweimal ambulant behandelt wurden. Außerdem haben die Wissenschaftler Arzneimittelverordnungen und stationäre Behandlungsdaten zwischen Juli 2008 und Juni 2009 ausgewertet, so dass weitere 5000 Personen in die Analyse einbezogen werden konnten.
Im Bereich der Medikamentenverordnungen liegen Versorgungsrealität und Behandlungsleitlinie besonders weit auseinander: 48 Prozent der Patienten erhielten Antirheumatika wie Ibuprofen oder Diclofenac oder Naproxen, 11 Prozent sogar starke Opiate - entgegen der ausdrücklichen Leitlinienempfehlung. Bedenklich stimmt auch der breite Einsatz von Psychopharmaka, die 56 Prozent der Patienten erhielten. Acht Wirkstoffe sind in der FMS-Leitlinie empfohlen, verordnet wurden 85.
Auch im stationären Bereich dominieren die medikamentöse Therapie und ein eher organisch ausgeprägtes Schmerzverständnis. Von den zehn häufigsten schmerztherapeutischen Prozeduren im Krankenhaus sind 60 Prozent interventionelle Verfahren, also Injektionen oder Infusionen von Medikamenten, auch in die Wirbelsäule. Lediglich 14 Prozent entfallen auf die leitliniengerechte Behandlung mit einer multimodalen Schmerztherapie.
Die Leitlinie empfiehlt auch im ambulanten Bereich keine Durchführung von invasiven Verfahren. Dennoch findet etwa Akupunktur als alleinige Therapie breite Anwendung. Kritisch ist zudem wegen deren passiven Charakters die hohe Zahl von Physiotherapie-Verordnungen für FMS-Patienten. Für den nachhaltigen Therapieerfolg erscheinen Massageverordnungen und Kälte-Wärme-Anwendungen ungeeignet. Den schweren Stand für eine evidenzbasierte Behandlung erklärt Marschall mit drei Faktoren: "Die Fehlversorgung mit invasiven Maßnahmen wird durch Abrechnungsanreize ausgelöst. Hinzu kommen der Patientenwunsch nach Beschwerdelinderung und vergebliche ärztliche Versuche, einen chronischen Schmerz in mehreren Körperregionen lokal zu behandeln."
Das Fibromyalgiesyndrom wird in der medizinischen Fachwelt kontrovers diskutiert, Ausmaß und Abgrenzung sind umstritten. Gleichwohl gehen Expertenschätzungen davon aus, dass rund zwei Prozent der erwachsenen Bevölkerung unter der chronischen Schmerzerkrankung leiden. Zur Symptomatik gehören Ganzkörperschmerz und vielfältige Organbeschwerden, wobei Frauen rund sechsmal häufiger betroffen sind als Männer.
Die Ergebnisse der Studie sind zusammengefasst in "Das Fibromyalgiesyndrom. Dilemma zwischen Leitlinie und Versorgungsrealität". Von Ursula Marschall und Andreas Wolik. In: BARMER GEK Gesundheitswesen aktuell 2010, hrsg. v. Uwe Repschläger et. al., Wuppertal 2010, S. 212 - 238.