Die Online-Beratung ist ein Bestandteil der Aufklärungskampagne „ihre Freiheit – seine Ehre“ des Ministeriums für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen. Über die sechssprachige Internetseite www.zwangsheirat-nrw.de erhalten Betroffene, aber auch Vertrauenspersonen und Fachleute kostenlos Hilfe. „Der große Vorteil dieses Angebotes liegt in seiner Anonymität. Wer Rat sucht, kann uns einfach eine E-Mail schicken und an Einzel- und Gruppenchats teilnehmen“, erklärt Diplompsychologin Birgit Hoffmann-Reuter, Geschäftsführerin des Mädchenhauses Bielefeld. „Viele betroffene Mädchen werden von ihrer Familie beobachtet und kontrolliert. Deshalb scheuen sie den direkten Kontakt und wollen häufig eine telefonische oder persönliche Beratung um jeden Preis vermeiden.“
Verstoß gegen die Menschenrechte Zwangsheiraten werden gegen das Einverständnis eines oder beider Ehepartner geschlossen und verstoßen ebenso gegen die Menschenrechte wie gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Das Strafrecht spricht von schwerer Nötigung und verurteilt zugleich die traurigen „Folgeerscheinungen“ wie Vergewaltigung, Körperverletzung oder Freiheitsberaubung. „Die Grenzen zur arrangierten Ehe sind fließend“, weiß Birgit Hoffmann-Reuter. „Ausschlaggebend ist der Druck, der ausgeübt wird. Oder anders gefragt: Haben die Betroffenen die Chance, zu jedem vorgestellten Heiratskandidaten nein zu sagen?“
Die 41-Jährige rät potenziellen Opfern, sich bereits bei den ersten Anzeichen für eine Zwangsheirat an eine Beratungsstelle zu wenden. Ist der erzwungene Ehebund erst einmal vollzogen, drohen Schul- oder Ausbildungsabbruch, Prügel, totale Abhängigkeit oder sogar die „Tötung im Namen der Ehre“. „Viele Mädchen fürchten, von ihrer Familie verstoßen zu werden und halten aus, was ihnen angetan wird“, beklagt Birgit Hoffmann-Reuter. „Für manche ist Selbstmord der letzte Ausweg aus ihrem inneren Konflikt.“
Ausdruck zweifelhaften Ehrgefühls Wie viele junge Menschen in Deutschland jährlich Opfer einer Zwangsheirat werden, weiß niemand. Die Expertin: „Die Dunkelziffer ist hoch. Wir wissen: Von den 300 Mädchen, die jährlich unser Beratungsangebot in Bielefeld annehmen, haben rund 100 einen Migrationshintergrund. Etwa die Hälfte von ihnen ist bereits mit dem Thema Zwangsheirat in Berührung gekommen – und das ist keine Frage der Schichtzugehörigkeit.“ Die Motive der Eltern gleichen sich: Die Tochter gut versorgt wissen, Familienbindungen stärken, das Festhalten an einem zweifelhaften Ehrbegriff. Viele Migranten wollen ihre in westlichen Ländern aufgewachsenen Kinder durch die Heirat mit einem Partner aus dem Herkunftsland disziplinieren. Auch junge Männer sind von der „Resozialisierungsmaßnahme“ betroffen.
Da Zwangsheirat in den unterschiedlichsten ethnischen Gruppen vorkommt, ist das Bielefelder Beraterteam multikulturell. Drei Diplompädagoginnen mit deutschem, türkischem und kurdischem Hintergrund sind täglich erreichbar und bleiben, einmal mit einem bestimmten Fall betraut, Ansprechpartnerin der Hilfesuchenden. Birgit Hoffmann-Reuter: „Für ein betroffenes Mädchen mit Migrationshintergrund ist es wohltuend, die Kenntnis ihrer Kultur einfach voraussetzen zu können. Ein Gespräch mit einer deutschen Beraterin könnte sie für unwirksam halten, weil sie sich nicht umfassend wahrgenommen fühlt.“ Wer die Zuhörerinnen sind, das weiß außerhalb des Mädchenhauses niemand.
Besserer Schutz durch Netzwerkarbeit
Auf Wunsch vermitteln die Mitarbeiterinnen die Opfer aus ganz Nordrhein-Westfalen an eine geeignete Beratungsstelle in Wohnortnähe oder sorgen kurzfristig für eine sichere und geheime Unterbringung – ein bundesweites Netzwerk von Einrichtungen hilft dabei. Junge Frauen, die bereits zwangsverheiratet wurden, werden über die Möglichkeiten beraten, die rechtswidrige Verbindung wieder aufzulösen und eine realistische Lebensperspektive zu entwickeln. Den Kontakt mit der Familie des Opfers suchen die Bielefelderinnen nur in Ausnahmefällen. „Wir arbeiten parteiisch für die Mädchen“, sagt Birgit Hoffmann-Reuter bestimmt.
Für das Ministerium in Düsseldorf war es eine bewusste Entscheidung, ausgerechnet das Mädchenhaus Bielefeld mit der Online-Beratung zum Schutz vor Zwangsheirat zu betrauen. Der Verein mit insgesamt 25 Mitarbeiterinnen entwickelt als anerkannter Träger der Jugendhilfe seit 1987 Angebote für Mädchen und junge Frauen in akuten Not- und Krisensituationen. Mädchen der unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Herkunft finden Beratung, Unterstützung, Schutz und langfristige Wohnmöglichkeiten. „Wir haben umfangreiche Erfahrungen auf dem Gebiet der Zwangsheirat und bieten seit 2004 eine allgemeine, spendenfinanzierte Online-Beratung an“, berichtet Birgit Hoffmann-Reuter. „Jemanden am Computer zu beraten, erfordert Übung. Das Leid hat in diesem Fall ja weder Gesicht noch Stimme.“
Letztes Krisenhaus in Nordrhein-Westfalen Eine weitere Besonderheit Bielefelds macht die Geschäftsführerin besonders stolz: 1992 wurde in der Ostwestfalen-Metropole eine anonyme Zufluchtsstätte für junge Frauen errichtet – heute die letzte ihrer Art in Nordrhein-Westfalen. „Als Ende 2005 die Landesförderung auslief, war das ein gravierender Einschnitt“, erinnert sich Birgit Hoffmann-Reuter. „Nur der Spendenbereitschaft der Bielefelderinnen und Bielefelder ist es zu verdanken, dass es diese letzte Zuflucht heute noch gibt. Das war eine ganz tolle Erfahrung für uns.“ (6.053 Zeichen mit Leerzeichen)